Die „English Bottom“-Station -1-



Fast vollkommen unberührt von dem wilden Treiben um sie her lag indessen Mr. Suttons Station. Die Wegschenke hatte sich rasch in einen kleinen Kram- und Proviantladen verwandelt, in dem die Wanderer alles, was sie auf dem Weg brauchten, bekommen konnten. Und die waren viel zu sehr in Eile, um einen Abstecher zu dem abseits liegenden Punkt zu machen.


Allerdings hatte Mr. Sutton auch mit der allgemeinen Not zu kämpfen, denn auch von seinen Leuten ging ein großer Teil in die Minen. Und das, obwohl sie hier vielleicht besser behandelt und ernährt wurden als auf vielen anderen Stationen des Landes. Aber die Leute konnten nun einmal der Versuchung, da oben in kurzer Zeit reich zu werden, nicht widerstehen. Mr. Sutton schien darauf schon gefaßt zu sein, schränkte sich weitgehend ein und verkaufte an Schlachtvieh, was er verkaufen konnte. So entfiel auch die Viehbewachung. Er wußte recht gut, daß genügend Leute zurückkommen würden, wenn der erste Rausch verflogen war. Dann würden die liegengebliebenen Arbeiten eben fortgesetzt werden.

Der Verwundete brauchte jetzt nur noch Ruhe, um in einigen Wochen wieder völlig hergestellt zu sein. Seine Mutter und seine Schwester wachten abwechselnd an seinem Lager, und die Familie selbst war oft stundenlang bei ihm drüben, um ihm die Zeit zu vertreiben.

Aber gerade die, die ihn bislang aufopfernd und freundlich gepflegt hatte, Gertrud, ließ sich nicht mehr bei ihm sehen, seit seine Mutter eingetroffen war und der Arzt jede Gefahr für beseitigt erklärte. Sie achtete natürlich darauf, daß ihm nichts fehlte, bereitete wie früher sein Essen, aber andere brachten es ihm. Es schien fast so, als würde sie seine Nähe ängstlich vermeiden.

Aber der Verletzte suchte sie ständig. Nie öffnete sich die Tür, ohne daß sein Blick rasch dorthin flog, immer in der Hoffnung, sie endlich wiederzusehen. Aber immer wieder wurde er enttäuscht.

Dann kam sein Vater, um Mutter und Tochter wieder abzuholen, denn er wollte nicht, daß sie der Familie Sutton zu lange zur Last fielen, auch wenn das Ehepaar gegen ihre Abreise protestierte. Über Charles’ Befinden konnten sie ohne Sorge sein, auch wenn der Arzt noch keinen Transport zuließ. Er gab ihnen aber das feste Versprechen, daß er in spätestens acht bis zehn Tagen mit einem bequemen Wagen recht gut nach Sydney geschafft werden konnte. Damit mußten sie sich begnügen, und am anderen Morgen kehrten die Pitts nach dem Frühstück in die Hauptstadt zurück. Sie überließen ihren Sohn noch für eine Woche der Gastfreundlichkeit dieser guten Menschen.

Charles wurde als Rekonvaleszent angesehen und seine Betreuung einem jungen Mann überlassen, den Mr. Sutton als Waise aufgenommen hatte. Tagsüber hielt er sich meistens bei der Familie auf. Mrs. Sutton und auch Rebecca, die den jungen Pitt wegen seines freundlichen Wesens liebgewonnen hatten, suchten dann alles hervor, um ihm die Zeit so angenehm wie möglich zu vertreiben. Besonders Rebecca saß oft stundenlang bei ihm und las ihm vor. Er saß dann neben ihr in dem bequemen Polsterstuhl und schaute träumend auf die fernen Berge hinaus, in denen das gierige Menschenvolk nach Gold wühlte.

Gertrud hatte er schon öfter wiedergesehen, aber immer nur beim Essen, in Gegenwart der Familie. Selbst abends kam sie nie herüber, sondern blieb immer nur in ihrem eigenen Zimmer, wo sie auch mit den Wirtschaftsbüchern beschäftigt war.

So vergingen wieder fünf Tage, und die Familie Sutton hatte eine Einladung zur Hochzeit auf eine andere Station erhalten. Charles war inzwischen so weit hergestellt, daß Mrs. Sutton sogar den Vorschlag gemacht hatte, ihn mitzunehmen, denn sie mußten kaum eine halbe Stunde fahren. Mr. Sutton erlaubte das aber nicht, denn eine solche Anstrengung könnte üble Folgen haben. Da seine Rückkehr nach Sydney für die nächsten Tage festgesetzt war, durften sie nichts tun, was sie verzögern könnte. Mrs. Pitt hätte sich dann nur wieder geängstigt und gesorgt.

Um drei Uhr nachmittags fuhren sie fort, und Charles blieb allein im Wohnzimmer der Familie zurück.

Nachmittags um vier Uhr kam gewöhnlich der jetzt regelmäßig fahrende Postwagen von Sydney vorbei, und Henry, Charles’ kleiner Wärter, ging dann jedesmal zur Wegschenke, um die Briefe für Englisch Bottom zu holen. Er hatte auch heute seine Zeit eingehalten und die Station etwa zehn Minuten verlassen, als die Tür aufging und Gertrud hereinkam, um einen Schlüssel zu holen. Sie schreckte zurück, als sie Charles allein sah. Aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück, zog die Tür hinter sich zu und grüßte den jungen Mann freundlich. Dann ging sie zu dem Schlüsselbrett.

„Gertrud“, sagte Charles, der rot geworden war und dem die Bewegung des Mädchens nicht entgangen war, als sie eintrat. „Was habe ich Ihnen getan, daß Sie mich jetzt so ängstlich meiden, wo sie mich vorher so treu gepflegt haben? Sie haben jetzt kaum mal einen Blick oder einen Gruß für mich übrig. Habe ich Sie durch etwas gekränkt? Guter Gott, es ist nicht absichtlich geschehen. Ich bin wohl keinem mehr zu Dank verpflichtet als gerade Ihnen. Und trotzdem haben Sie mir noch nicht einmal Gelegenheit gegeben, ihn auch nur auszusprechen.“

„Sie haben mich durch nichts gekränkt, Mr. Pitt“, lautete die leise, fast scheue Antwort des Mädchens. „Aber da ich Ihre Pflege jetzt in besseren Händen wußte...“

„In besseren Händen, Gertrud?“

„So konnte ich Sie denen in Ruhe überlassen. Sie... wissen außerdem, daß ich in diesem Haus nur angestellt bin.“

„Weichen Sie mir nicht aus, Gertrud“, sagte Charles, indem er aufstand, auf sie zuging und ihre Hand griff, die sie aber zurückzog. „Es hat sich etwas zwischen uns gestellt, und ich habe die ganze Zeit das bedrückende Gefühl mit herumgetragen, daß ich Ihnen irgendwie weh getan habe. Sie glauben nicht, wie schmerzlich das für mich war.“

„Durch nichts, Mr. Pitt, durch nichts“, sagte das Mädchen ängstlich. Charles entging es nicht, daß sie das Gespräch abkürzen wollte. „Ich versichere Ihnen, daß ich Ihnen nicht aus dem Weg gegangen bin. Nur meine Stellung brachte es mit sich, daß wir uns nicht so oft begegnet sind wie früher. Es wäre auch nicht richtig von mir gewesen, wenn ich Ihnen irgendeinen Groll nachtragen würde, denn Sie... haben mich stets... freundlich behandelt.“

„Dann lassen Sie uns aber auch Freunde sein, Gertrud, und weichen Sie mir nicht länger so sorgfältig aus“, sagte Charles herzlich und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie dadurch meine Genesung eher aufgehalten als gefördert haben. In vielen langen Stunden hatte ich den Wunsch gehabt, Ihnen einmal direkt zu sagen, wie sehr ich Ihnen dankbar bin für die Sorgfalt, die Sie einem kranken Fremden gegenüber gezeigt haben. Gern würde ich Ihnen das beweisen, wenn Sie... mir nur Gelegenheit dazu gäben.“

Gertrud hatte ihm nur widerstrebend die Hand gegeben und wurde dabei um einen Schatten blasser. Sie sah ihn nicht an, und als sie die Hand langsam zurückzog, sagte sie:

„Ich danke Ihnen für die freundlichen Worte. Glauben Sie mir, daß ich alles, was ich für Sie tun konnte, gern getan habe. Es verdient kaum eine weitere Erwähnung. Und jetzt erlauben Sie bitte, daß ich wieder meiner Arbeit nachgehe. Ich muß etwas für den Stockkeeper herausgeben.“

„Nicht so, Gertrud“, drängte Charles. Er trat ihr bittend in den Weg, als sie das Zimmer wieder verlassen wollte. „Gehen Sie nicht so von mir. Wir sind in diesem Augenblick allein, und wer weiß, wann sich je wieder eine solche Gelegenheit bietet, Ihnen das zu sagen, was ich Ihnen sagen muß.“

„Mr. Pitt.“

„Ich liebe Sie, Gertrud - seit ich Sie bei Ihrer stillen Arbeit beobachten konnte, seit ich Ihr freundliches Wesen kennengelernt habe, seit ich das Glück hatte, von Ihrer Hand gepflegt zu werden. Ich habe die Kugel gesegnet, die mich getroffen hat, nur um in Ihrer Nähe wieder zu erwachen. Stoßen Sie mich nicht zurück, ich meine es ehrlich, jedes Wort ist so gemeint, wie Sie es hören. Werden Sie meine Frau, geben Sie mir die Möglichkeit, Ihnen alles in vielen Jahren zu vergelten, was Sie für mich getan haben, und Sie sollen es nie bereuen.“

Gertrud war einen Schritt zurückgetreten, und sie fühlte, wie sie rot wurde. Als er die letzten Worte sprach, verdeckte sie wie krampfhaft die Augen mit ihrer Hand und wurde leichenblaß.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im Busch