Abschnitt. 1 - Der Commerzienrath Mahlhuber verbrachte eine furchtbare Nacht; solange das Licht brannte, ...

Der Commerzienrath Mahlhuber verbrachte eine furchtbare Nacht; solange das Licht brannte, warf und quälte er sich mit Gedanken über seine Leber, und als das Licht niederbrannte und verlöschte und einen nichtswürdigen Qualm und Gestank im Zimmer verbreitete, peinigte ihn die Angst über das gedrohte Nachtwandeln des entsetzlichen langhaarigen Menschen, bis er endlich mit Tagesanbruch erst in einen unruhigen fieberhaften Schlaf verfiel.

Als er am andern Morgen durch den Hausknecht geweckt wurde – der nachtwandelnde Doctor schlief noch –, konnte er kaum seine Glieder rühren; seine erste Frage war nach dem telegraphirten Gepäck, und der Hausknecht bekam 30 Kreuzer, als er ihm die freudige Mittheilung machte, daß es unten in der Gaststube stehe.


Gidelsbach – das war sein Ziel, dem er zuzustreben hatte, Gidelsbach – was kümmerte ihn die andere Welt? – dort lag seine Heimat, dort lag für ihn Gesundheit und Ruhe, und Dorothee hatte ganz Recht gehabt, er war ein Thor gewesen, auch nur einen Fuß herauszusetzen aus dem Weichbilde der Stadt.

Rasch war er angekleidet, den Zug wenigstens heute Morgen nicht zu versäumen und gezwungen zu sein noch länger in diesem schrecklichen Neste liegen zu bleiben. Den Morgenzug hatte er aber schon versäumt, denn er kam um 5 ½ Uhr vorüber, der nächste Personenzug dagegen erst Mittag um 2 Uhr, und so lange Zeit blieb ihm jetzt, sich von den Strapazen der letzten Nacht auszuruhen. Der Aufenthalt in dem mit Menschen vollgedrängten Gasthofe, die heute in noch weit größern Massen angeströmt kamen als gestern, war übrigens so unangenehm, daß er beschloß, die ihm noch übrige Zeit lieber zu einem Spaziergang zu verwenden. In seinem Zimmer lag noch der entsetzliche Doctor, und mit dem wollte er unter keiner Bedingung weiter etwas zu thun haben.

Die Umgegend von Lichtenfels hatte mit den zwei Gulden, die er Strafe bezahlt, indessen noch zu viel der trüben Erinnerungen für ihn, und er beschloß deshalb das Thal hinunter und nach der nächsten kaum Dreiviertelstunden entfernten Eisenbahnstation zu marschiren, dort ein Glas Bier zu trinken und dann wieder, sich völlig Zeit nehmend, langsam zurückzugehen. Sein Gepäck ließ er indeß vor allen Dingen an den Bahnhof stellen, wo er es der Aufsicht des Gendarmen empfahl, nahm dann seinen Regenschirm, richtete seine Uhr nach der Bahnhofsuhr in Lichtenfels, schrieb sich die genaue Abfahrt des erwarteten Zugs in sein Taschenbuch (fest entschlossen eine volle Stunde vorher an Ort und Stelle zu sein) und wanderte langsam am Hange des Berges hinab, das reizende Mainthal hinunter.

Das Wetter war wundervoll, und nur die Straße etwas heiß und staubig. Der Commerzienrath dachte aber gar nicht daran sie zu verlassen; er wollte sich nicht wieder pfänden lassen, und erreichte eben, den breiten sonnenheißen Weg langsam entlangschlendernd, die kleine Eisenbahnrestauration in Staffelstein, als eine Extrapost mit zwei jungen elegant gekleideten Leuten anhielt und die Reisenden ausstiegen. Der Commerzienrath betrat hinter ihnen das Gastzimmer und hörte nur noch, daß die Eisenbahnleute ihre Witze über die Post machten, die, wie der Postillon erzählte, von Bamberg kam.

„Die haben es auch nicht erwarten können, bis der Zug ankam“, lachte der Eine, „oder fürchten sich am Ende gar vor dem Bussen –.“

„Na Gott sei Dank, in so einem alten Klapperkasten vier Stunden zu sitzen“, sagte der Andere, „wo sie es heute Mittag in drei Viertel hätten abmachen können, ‘s gibt doch überall verrückte Kerle.“

Der Commerzienrath, der des warmen Wetters wegen ein ganz unscheinbar graues Sommerröckchen, selbst ohne den Orden, trug, das er zufällig in seinem Reisesack gehabt, glich mit seinem baumwollenen Regenschirm (er hatte sich in den Kopf gesetzt, daß seidene Regenschirme nicht gesund wären), wie der grauen Schirmmütze eher einem gemüthlichen Kaufmann aus irgendeinem kleinen Städtchen, als einem königlichen Commerzienrath. Sein bescheidenes höfliches Wesen trug noch mehr dazu bei, Fremde in diesem Glauben zu bestärken, und die beiden Reisenden, die nach leisem Flüstern zusammen ihn eine Weile aufmerksam betrachtet hatten, schienen sich auch in der That über ihn zu unterhalten.

Wie aber der Mann, welcher Hafer gestohlen hatte, später, sobald er zwei Menschen heimlich miteinander flüstern sah, immer einen Dritten an sie abschickte zu horchen, ob sie nicht von Hafer sprächen, so war es dem Commerzienrath mit der ihm von dem Gendarmen untergeschobenen Nichte zumuthe. Er hatte ein böses Gewissen und dachte auch schon daran sein Bier rasch auszutrinken und die beiden Fremden sich selber zu überlassen, als der eine Reisende auf ihn zukam und freundlich zu ihm sagte:

„Dürfte ich wol fragen, ob Sie hier in der Gegend ansässig und bekannt sind?“

„Nicht besonders – guten Morgen, meine Herren“, sagte der Commerzienrath, etwas verlegen seine Mütze ziehend, „ich bin selber erst kurze Zeit hier und komme von Lichtenfels herunter.“ „Von Lichtenfels, so?“ fragte der Andere rasch, „dorthin wollen wir gerade, also dort sind sie bekannt?“

„Nur sehr wenig.“

„Waren Sie gestern dort?“

„Gestern – ja allerdings“, erwiderte Herr Mahlhuber, und ein eigenes dumpfes Gefühl nahender Gefahr beschlich ihn, wenn er sich auch selber noch keinen richtigen Grund dafür anzugeben wußte – „gestern war ich dort.“

„Und unten am Bahnhofe, wie der Morgenzug von Hof kam?“

„Ja – zufällig“, sagte Herr Mahlhuber, die beiden Männer, einen nach dem andern erstaunt und doch auch wieder scheu betrachtend.

„Ist da nicht“, machte plötzlich der Aeltere der Brüder seinen letzten Zweifeln ein rasches Ende, „eine junge, sehr hübsche und elegant aber einfach gekleidete Dame mit einem alten häßlichen, etwas krummgehenden Herrn ausgestiegen, der sich für den Regierungsrath Redmeier, in Lichtenfels aber für einen Commerzienrath Mahlhuber ausgegeben hat? Wie ich übrigens aus ziemlich guter Quelle weiß, ist er keins von Beidem, sondern ein Schwindler, der auf unbegreifliche Weise das junge Mädchen bethört haben muß, und sich jetzt sogar für ihren Onkel ausgibt, weniger Verdacht zu erregen. Die beiden Personen müssen Ihnen aufgefallen sein, und Sie werden uns einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie uns auf die richtige Spur bringen wollten.“

Die Bombe war geplatzt. Das mußten jedenfalls die beiden Brüder der jungen Dame sein, und was für derbe, handfeste, wildaussehende Bursche waren es! Wie eilig hatten sie es dabei; nicht einmal Zeit auf den Mittagszug zu warten, Gott bewahre, müssen Extrapost nehmen, nur um eine Stunde früher an Ort und Stelle zu sein, Maria und Joseph! das hatte noch gefehlt, und für seine Gutmüthigkeit konnte ihm da eine schöne Suppe eingebrockt werden. Und wie grob – häßlicher, krummgehender Herr – aber Gott sei Dank, das war jedenfalls eine malitiöse Verdächtigung des Telegraphen, die ihm jetzt vortrefflich zustatten kam und die er für sich benutzen konnte.

„Nun, erinnern Sie sich nicht?“ fragte der Erste wieder, „die Dame trug, wenn ich nicht irre, ein seidenes ungebleichtes Kleid und einen Strohhut.“

„Ja, ganz recht“, sagte der Commerzienrath, dem keine weitere Zeit gegeben wurde sich die Sache zu überlegen, „ich glaube ich erinnere mich an ein solches Paar – ein junges, sehr hübsches Mädchen und ein alter würdiger Herr –“

„Würdiger Esel!“ rief der Zweite wüthend aus, „der alte Hallunke sollte an sein Grab denken, anstatt solche Streiche in seinen Jahren zu machen; aber die Familie ist jetzt entehrt, und will das Mädchen denn einmal so wahnsinnig sein, gut, dann mag sie ihn meinetwegen nehmen, aber in unserer Gegenwart muß die Hochzeit sein, und in Stücke reiß ich den Schuft, wenn er nur mit dem Zucken einer Wimper dagegen ansträubt.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Herrn Mahlhuber’s Reiseabenteuer