Das Domkapitel

Das Hamburgische Domkapitel ist bekanntlich an Stelle des von Anskar gegründeten Benediktinerklosters, das im Jahre 983 mit der ganzen Stadt der Wut der Slawen erlegen war *), durch Erzbischof Libentius eingerichtet und – nach einer abermaligen Zerstörung Hamburgs durch die Slawen 1072 **) – um das Jahr 1140 durch Erzbischof Adalbero wieder hergestellt worden ***). Die Geschichte des Erzbistums Hamburg-Bremen hat es mit sich gebracht, dass das Hamburgische Kapitel niemals dieselbe Bedeutung in dem Erzbistum gewann, welche das Bremische Domkapitel besaß, dass es aber und insbesondere nach der definitiven Übertragung des erzbischöflichen Sitzes nach Bremen eine eigentümlich selbstständige Stellung in Bezug auf die holsteinischen Lande einnahm ****): im vierzehnten Jahrhundert steht es regelmäßig mit den Bischöfen von Ratzeburg und Schwerin und deren Kapiteln zusammen, wenn es gilt, dem Erzbischof von Bremen gegenüber die alten Rechte zu verteidigen.

*) Thietmar v. Merseburg, 3, 11; M. G. 3, S. 704.
**) Adam v. Bremen 3, 63; M. G. 7, S. 361.
***) Wir besitzen nur eine undatierte Urkunde, Hamb. U. B. I. No. 162, in der Adalbero fratribus im eadem Hammenburgensi ecclesia ex nostra dispositione restitutis, ihre Besitzungen und Rechte bestätigt und vermehrt
****) Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Kapiteln, Hamb. U. B. 1, No. 468, bestimmt unter Anderem: Transalbini de Bremensi diocesi ad preposituram Hammenburgensem pertinentes ad sinodum et capitulum Bremense non trahantur, nisi per appellationes.


Früh sind in Hamburg Bürgerliche Mitglieder des Kapitels geworden. Nur die Würde des Propsten (praepositus) blieb lange den Angehörigen gräflicher oder doch adeliger Geschlechter vorbehalten, denn da der Propst die äußeren Geschäfte des Kapitels zu führen und die Rechte desselben zu verteidigen hatte, so war es von Wichtigkeit, dass der Inhaber dieser Würde schon durch seine Geburt der von ihm vertretenen Sache Nachdruck gäbe, dass er, wie es einmal heißt, mit kräftiger Hand die Rechte der Kirche und ihre durch das ganze Land zerstreut liegenden Güter zu verteidigen vermöge *). Die hauptsächlichsten Geschäfte lagen dem Dechanten (decanus) ob, welcher auch die Disziplinargewalt über die Geistlichen hatte; er war in der Regel ein Mann von reiferem Alter, der zuerst einfacher Domherr gewesen war, dann ein oder das andere Amt im Kapitel bekleidet hatte. Der Scholastikus **) hatte die Aufsicht über das Schulwesen; er war ein wissenschaftlich gebildeter Mann, der auch seit 1289 den Schulmeister an der Kirchenschule zu St. Nikolai einsetzte ***), aber nicht selbst zu unterrichten brauchte.

*) Hamb. U. B 1, No. 717: qui potenter jura ipsius ecclesie et bona, que sita sunt sicut pro certo didicimus in medio na cionis perverse, defendere valeat et tueri; vgl. daselbst 1, No. 719
**) Über die Stellung des Scholastikus s. Ed. Meyer, Gesch. des Hamb. Schul- und Unterrichtswesens im Mittelalter S. 32 ff.
***) Hamb. U. B. 1, No. 843: Scolasticus Hamburgensis–magistrum instituet pro sua voluntate et competentem ad puerilia docu menta ipsis scolaribus informanda. Bei Bestätigung der Er richtung dieser Schule hatte Papst Martin IV. 1281 den ju ratis ecclesie sancti Nicolai das Recht zuerkannt, magistrum statuere et destituere pro libitu sue voluntatis, mediante consilio et auxilio seniorum et discretorum virorum sepedicte parrochie sancti Nicolai.
Der Kustos, oder Thesaurarius, der die Aufsicht über das Archiv des Domkapitels führte, war der letzte Würdenträger. Erst im Jahre 1277 wurde das Amt eines Kantors geschaffen *), während die übrigen Dignitäten seit der Wiedererrichtung des Kapitels entweder nachzuweisen sind oder doch vorausgesetzt werden müssen **). Die Inhaber dieser Würden wurden Prälaten genannt ***).
*) Daselbst 1, No. 769 u. 770.
**) 1162 (No. 224) ist Rudolf zugleich decanus et custos.
***) Consuetudines ecclesie: cuilibet prelato ecclesie, videlicet pre posito, decano, scolastico, thesaurario, cantori u. s. w.

Jeder Prälat hatte wie die übrigen Domherren seine Präbende, d. h. Liegenschaften und Renten, deren Ertrag ihm seinen Unterhalt gewährte. Wie viele Präbenden es ursprünglich gab, wissen wir nicht, da uns eine eigentliche Stiftungsurkunde nicht erhalten ist und in den älteren Dokumenten die Domherren nur selten in größerer Zahl vorkommen. Die sog. Präbende in Ditmarschen ward 1165 von Bovo, einem erzbischöflichen Lehnsmann, gestiftet *) und 1256 vom Dechanten Berthold in ihren Einkünften vermehrt **). Im Jahre 1195 finden wir außer dem Propsten zehn Domherren genannt ***), 1246 gab es, wie wir durch ein ausdrückliches Zeugnis wissen ****), zwölf Präbenden; die eine in der Zwischenzeit hinzugekommene war die 1212 vom Ritter Reiner von Pinnau gestiftete Präbende in Neu-Gamm *****).

*) No. 233: Erzbischof Hartwig überträgt ad petitionem fidelis nostri Bovonis et pro remedio anime sue et suarum – ecclesie decimam in Ciotene –, statuentes, quatinus ad hanc aliqua digna a canonicis – instituatur et eligatur persona, que tanquam canonicus in minori constitutus stipendio Deo et ecclesie custodie deserviat. Augenscheinlich redet Hartwig nicht als Stifter der Präbende, sondern als Lehnsherr des Bovo in Bezug auf den Zehnten und als Erzbischof in Bezug auf die Anwendung desselben.
**) No. 614: dominus Bertoldus decanus tenuitatem prebende in Thitmarcia duorum mansorum proventibus, quos emit in nova silya, nomine ecclesie augmentavit. Vgl. Necrol. capit. Hamb. Okt. 12.
***) No. 309.
***) No. 534: Cum –i n Hammemburgensi (ecclesia) duodecim pre bende consistant u. s. w.
****) No. 387: post obitum meum, quotiens necessitas expoposcerit, in eandem prebendam canonicum unum se electuros et ita deinceps spoponderunt. Vgl. Necrol. capit. Hamb. Apr. 23.
1265 werden in einer Urkunde Propst, Dechant, Kustos und acht Domherren als anwesend, und als abwesend der Scholastiker und vier Domherren genannt *), mithin gab es damals 16 Präbenden. Diese vier in der Zwischenzeit hinzugekommenen Präbenden sind: die erst nach langen Verhandlungen zu Stande gekommene gräfliche Präbende **), die beiden Präbenden des Friedrich von Haseldorf ***) und die durch den Truchsess Hartwig gestiftete Präbende in Lütjenburg ****). Im Laufe des 13. Jahrhunderts sind noch drei weitere Präbenden hinzugekommen: die erste nach 1255 aus dem Vermächtnis eines Bürgers Oslev und seiner Gattin Alburg dotiert *****), eine zweite 1269 durch den Ratmann Thider gestiftet ******) und die dritte 1282 durch das Testament des Domherrn Magister Dietrich Baur, Doctor decretalium, angeordnet *******).
*) No. 685.
**) 1195 schon beabsichtigt Adolf III. zwei Präbenden zu stiften (No. 311); erst 1265 aber finden wir eine gräfliche Präbende als bestehend genannt (No. 682).
***) No. 603, 620, 621. *) No. 634; vgl. Necrol. capit. Hamb. Sept. 16.
****) Necrol. capit. Hamb. Jun. 10 u. 28; urkundlich wird der Präbende 1300 Dez. 12 zuerst erwähnt (No. 929).
*****) No. 739.
******) No. 803; vgl. Necrol. capit. Hamb. Mai 17.
Die Präbenden wurden unterschieden als ganze oder große Präbenden (praebendae majores, integrae) und als kleine oder Kinder-Präbenden (minores, pueriles). Der Unterschied wurde bewirkt durch die größere oder kleinere Summe, welche der Stifter für die Dotierung aufzuwenden vermochte: die praebenda major gab jährlich etwa dreißig Mark *), die praebenda minor etwa zwanzig Mark Einkünfte! **). 1245 waren acht der damals bestehenden zwölf Präbenden majores ***), also gab es vier minores; von den später gegründeten waren nur die gräfliche Präbende ****) und die des Thider minores *****): folglich bestanden um 1300 dreizehn praebendae majores und sechs minores. –
*) No. 532: quelibet prebendarum istarum (der beabsichtigten gräflichen) circa triginta marcas denariorum valeat annuatim, et sic Octoprebendis majoribus coequentur.
*******) No. 739: Thider giebt viginti marcarum redditus – prebende nomine.
********) S. Anm. 9.9
Ein weiterer Unterschied wurde dadurch gebildet, dass einige Präbenden bestimmte Güter hatten, auf deren Ertrag ihre Inhaber angewiesen waren, die Sonder-Präbenden (praebendae speciales oder non incorporatae) während die anderen, die inkorporierten Präbenden (praebendae incorporatae), ihre Güter gemeinschaftlich besaßen und den Ertrag nach Abzug der Kosten unter sich teilten. Da die Inhaber der Sonderpräbenden für die Verwaltung ihrer Güter selbst sorgen mussten, so werden sie wohl auch als Domherren bezeichnet, welche eigene Ausgaben haben (proprias expensas habentes). Die beiden Präbenden des Friedrich von Haseldorf *) und die Präbende des Truchsessen Hartwig **) waren inkorporierte Präbenden; auch Magister Baur hatte gewünscht, dass seine Präbende eine incorporata sein sollte ***); die Stiftung Oslevs dagegen wird als praebenda specialis bezeichnet ****). –

*) No. 793: Qui – redditus pertinebunt ad minorem prebendam, ad quam – capitulum Johannem de Luneborg, notarium nostrum, diaconum, recepit.
**) No. 739; vgl. No. 782: ad usus prebende minoris, quam Thiderus – instituere curavit; Ztschr. für hamb. Gesch. 1, S. 423: ad prebendam puerilem ecclesie sancte Marie in Hamborg.
***) Das Kapitel bekennt (No. 621), quod ipsa bona cum majo rum prebendarum bonis decrevimus permisceriet ut eorum proventus inter ipsarum prebendarum possessores et ceteros majores canonicos, secundum ecclesieconsuetudinem, equali partitione dividantur; ita videlicet, quod antedicte persone et earum successores nostrarum prebendarum fructus, quos nunc habemus et quos in posterum consequi poterimus, cum ipsarum prebendarum proventibus una nobiscum equaliter sorcientur.
****) No. 634: Qui quidem reditus non erumt fructus prebende specialis, vel ab aliis distincte, sed debent cedere in commu nes usus fratrum. Persona enim, quam capitulo presentavero, debet esse de corpore ecclesie in omnibus ad canonicum spec tantibus
*****) No. 803: Que prebenda connumerabitur cum aliis majoribus prebendis sine quavis distinctione in omnibus et per omnia. Sivero capitulum hoc non approbaverit, maneat dicta pre benda contenta redditibus ipsius prebende comparatis.
******) Necrol. capit. Hamb. Jun. 28: Obitus Alburgis uxoris Oslevi, que contulit ecclesie cum viro suo Omnia bona sua ad pre bendam specialem.
Auch die Anwesenheit oder Abwesenheit eines Domherrn bewirkte einen Unterschied. Da es Sitte geworden war, dass die Domherren gleichzeitig an mehreren Orten Präbenden besaßen und füglich ihre Obliegenheiten nicht überall erfüllen konnten, so ward die Einrichtung getroffen, dass solchen abwesenden Domherren (canonici absentes) zu Gunsten der anwesenden Domherren (canonici praesentes) ihre Einnahmen gekürzt wurden. Die canonici praesentes sollten aber auch in Wirklichkeit anwesend sein; alle halbe Jahr aber konnten sie sich vierzehn Tage Urlaub vom Dechanten erbitten; wünschten sie eine weitere vierzehntägige Frist, so mussten sie sich an das Kapitel wenden; hatten sie dann noch nach Weiterem Begehr, so war die Genehmigung sowohl des Dechanten, wie des Kapitels notwendig *). – Endlich ist noch zu gedenken der Priesterpräbenden (praebendae sacerdotales), deren Inhaber die Weihe eines sacerdos erhalten haben mussten und der ihnen auferlegten Verpflichtungen wegen canonici praesentes sein sollten: als solche Priesterpräbenden werden uns die von den holsteinischen Grafen, vom Truchsess Hartwig, von Oslev und von Magister Dietrich Baur gegründeten Präbenden genannt**).

*) Diese Verhältnisse ordnet No. 929 von 1300 Dez. 12.
**) No. 929: quatuor prebendarum sacerdotalium, scilicet comitis, Bauri, dapiferi et Oslevi, personas prenotate abessendi licentie expertes decernimus, quibus racione suorum beneficiorum, cum presentes esse ac sua beneficia juxta oneris ipsius exi gentiam deservire debeant, hujuscemodi graciis minime licet uti. – Vgl. 793, 634, 703 über die einzelnen Präbenden.

Nicht sofort mit dem Tode eines Domherrn waren seine Einkünfte erloschen, sondern zur Tilgung seiner Schulden, zu Messen für sein Seelenheil oder zu Almosen wurden dieselben noch ein weiteres Jahr für ihn bezogen. Das war die Bedeutung des Gnadenjahres (annus gratiae), das Erzbischof Balduin 1174 einführte*). Spätere Bestimmungen haben das näher geordnet: stirbt der Domherr zwischen Martini und Jakobi, so bezieht er die Einkünfte des folgenden Jahres als Gnadenjahr, stirbt er zwischen Jakobi und Michaelis, so erhält er die Einkünfte von zwei Jahren, die des laufenden als wohl erworben, die des folgenden als Gnadenjahr.

*) No. 241; vgl. No. 682.

Bei der Gründung einer Präbende behielt sich wohl der Stifter das Recht vor, dem Dechanten einen Kandidaten für dieselbe zu präsentieren; nach seinem Tode aber fiel die Besetzung der Präbende dem Kapitel vollständig zu. Nur für die gräfliche Präbende ward ein fortwährendes Präsentations- oder Patronatsrecht (jus patronatus) den Grafen von Holstein zugestanden *). War der Gestorbene ein canoni cus major, so wurde wohl der älteste der canonici minores an seine Stelle befördert, doch konnte das Kapitel, wie Papst Alexander IV. 1259 ausdrücklich approbierte, auch mit Übergehung sämtlicher canonici minores über die Präbende verfügen **). – Eine weitere Konkurrenz in Bezug auf die Besetzung fand nur ausnahmsweise statt: der von dem Papst geschickte Legat (legatus missus, im Gegensatz von legatus natus) nahm das Recht in Anspruch, die während der Dauer seiner Legation erledigten Präbenden zu vergeben ***), und ebenso beanspruchte in späterer Zeit der Kaiser nach dem Recht der ersten Bitte (preces primariae) die Vergabung bei der ersten nach seiner Erhebung eintretenden Vakanz.

Die innerhalb der Stadt gelegenen Güter der Domherren waren dem Rat zu den allgemeinen städtischen Leistungen, schot und schulde genannt, verpflichtet: nur die eigentlichen Wohnungen oder Höfe der Domherren, die Kurien, und einige Güter, welche Graf Adolf IV. dem Kapitel zu einem sog. ewigen Lichte geschenkt hatte, waren von diesen Abgaben befreit *). Es ist bekannt, wie oft wegen dieser Abgabenfreiheit, welche das Kapitel auch auf seine anderen städtischen Grundstücke auszudehnen trachtete, zwischen Rath und Kapitel gestritten worden ist.

Häufig besaßen die Domherren zugleich Pfarreien, ins besondere in den holsteinischen Landen. Einige waren auch Geheimschreiber bei den holsteinischen Grafen oder bei dem Rat der Stadt. Johann Schinkel, den wir als Domherrn und Ratsnotar kennen, betrieb außerdem kaufmännische Geschäfte mit England. Von der wissenschaftlichen Beschäftigung der Domherren hören wir in der Regel nur, insofern in ihren Testamenten über ihre Bücher verfügt wird, doch führen mehrere den Titel eines Magisters oder Doktors, hier und da besitzen wir auch Nachrichten über Abschriften, welche sie angefertigt, und schon aus dem dreizehnten Jahrhundert bewahrt noch heutigen Tages unsere Stadtbibliothek ein sauber auf Pergament geschriebenes Erbauungsbuch des Domherrn Arnold von Meldorf, Pfarrers zu Wilster.

*) Besonders reichhaltig in dieser Beziehung ist das vom Meyer, Gesch. d. Hamb. Schul- u. Unterrichtswesens S. 361 ff. veröffentlichte Buch; doch auch das Nekrolog des Domkapitels enthält Manches.