Kunst und Wissenschaft

Was in den übrigen deutschen Staaten für Kunst und Wissenschaft geschehen ist, ging vom Fürsten aus, war ein Ausbau von Grundlagen, die er gelegt hatte, oder geschah unter der Ägide der Organe des Staates, der die Erbschaft des absoluten Fürstentums angetreten hatte.

In Hamburg hatten bis vor ganz kurzer Zeit die Organe des Staates in Kulturdingen keine Initiative.


Für den Staat trat der Bürger ein. Auf allen Gebieten war der Hergang derselbe. Stellte sich irgendwo ein Bedürfnis heraus oder ließ es sich voraussehen, so trat ein einflussreicher Mann mit seinen Freunden zu einem festgefügten Verein oder zu einem loser verbundenen Komitee zusammen, warb um Mittel, gründete das Institut, organisierte die Verwaltung, führte sie so lange weiter, wie es mit Privatmitteln möglich war, und übergab sie dann dem Staate.

Dieser Weg mag seine Schattenseiten haben, aber man wird ihn nicht geringachtend behandeln dürfen. Wo könnten Beamte des Staates so und unakademisch die Form für das Neue finden wie die unabhängigen, durch keine Rücksichten gehinderten Bürger! Was verfehlt oder nicht recht lebensfähig war, ging spurlos zu Grunde und brauchte nicht, wie eine Gründung des Staates, Generationen hindurch künstlich erhalten zu werden.

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Diese Form der Neubildung ist so typisch für Hamburg, dass die wichtigste der vielen Gesellschaften, die sich gemeinnützige Aufgaben gestellt hatten, mehr als ein Jahrhundert lang Hamburg geradezu regiert hat. Es gab Zeiten, in denen ihr Einfluss tatsächlich weiterreichte als irgend ein Organ des Staates.

Freilich lebte sie im Grunde nur in einer umgewechselten Dekoration: in ihrem Vorstande saßen dieselben Männer, die im Senat und in der Bürgerschaft durch die starren Formen des Verfassungslebens am freieren Wirken behindert wurden.

Von 1765, ihrem Gründungsjahr, bis gegen 1870 war die Gesellschaft zur Förderung der Künste und nützlichen Gewerbe etwas wie ein freiwilliges Kultusministerium, das zugleich die Funktionen eines Parlaments ausübte. Bis 1859 boten ihre Versammlungen die einzige Möglichkeit, Hamburgische Angelegenheiten öffentlich zu besprechen. Die Sitzungen der Erbgesessenen Bürgerschaft fanden unter dem Siegel des Amtsgeheimnisses statt, und es wurden nur ihre Beschlüsse veröffentlicht. — Beim Wiederaufbau der Stadt überließ der Staat der Gesellschaft den Platz, an dem das Rathaus gestanden hatte, zur Errichtung ihres Klubhauses, und bis zur Vollendung des neuen Rathauses tagt die Bürgerschaft in den Räumen des „Patriotischen Hauses“.

Dies zeugt von dem unbegrenzten Ansehen und Vertrauen, dessen die Gesellschaft sich erfreute. Von den Behörden, denen in anderen Staaten ihre Tätigkeit obliegt, unterscheidet sie sich durch ihre Organisation, die nicht auf die Verwaltung, sondern auf die Initiative gestellt ist.

Was die „Patriotische Gesellschaft“, wie der Volksmund sie in ehrender Kürze nennt, geleistet hat, lässt sich nicht leicht überblicken. Von ihr sind beinahe alle Unternehmungen zur Förderung der kulturellen und ökonomischen Wohlfahrt ausgegangen. Sie gründete die gewerblichen Lehranstalten und leitete sie ein Jahrhundert hindurch, bis der Staat sie in die Gewerbeschule umwandelte, deren Organisation für die Berliner Anstalten das Vorbild abgab; zu einer Zeit, wo die neuen Gedanken sich langsamer verbreiteten und die moderne Konkurrenz noch nicht erwacht war, machte sie alle Verbesserungen im Landbau, Gartenbau, in der Schifffahrt und Industrie bekannt, und wo immer sich ein Bedürfnis zeigte, erließ sie Preisausschreiben für Lösungsvorschläge; sie hat das Armenwesen reorganisiert, gründete die ersten Rettungsanstalten für Schiffbrüchige, die allgemeine Versorgungsanstalt, die Kreditkasse für den Grundbesitz, sorgte für die Verbesserung des Adressbuches, gründete die Stadtpost, richtete öffentliche Badeanstalten ein — die ersten in Deutschland — , gründete das erste Seebad, die erste Korndampfmühle , entwarf die Pläne für die Navigationsschule und die Sternwarte, erließ am Anfange unseres Jahrhunderts ein Preisausschreiben für die Kanalverbindung zwischen Elbe und Weser, gründete eine Bibliothek, ein Leseinstitut, den Bildungsverein für Arbeiter und ist bei der Gründung des botanischen Gartens, der Kunsthalle, des Museums für Kunst und Gewerbe beteiligt, wie sie auch das Ausstellungswesen in Hamburg begründet hat.

Gegen 1870 hatte der Staat fast alle ihre Institute übernommen. Dann trat sie begreiflicher Weise eine Zeit lang vom Schauplatz ab, bis sie in jüngster Zeit auf sozialem Gebiete neue Aufgaben gefunden hat. Sie hat eine Anstalt für Arbeitsnachweis gegründet und einen Ausschuss für Arbeiterwohlfahrt eingesetzt, der namentlich die Wohnungsfrage prüfen soll. Sodann hat sie sich die Einrichtung von öffentlichen, über Stadt und Vororte verteilten Bibliotheken und Lesehallen vorgenommen und sucht die Blumenpflege in der Familie des weniger Bemittelten zu fördern. Für das Jubelfest der Einweihung ihres Hauses, das in diesem Jahre bevorsteht, verheißt sie die langersehnte geschichtliche Darstellung ihrer Wirksamkeit in den hundertzweiunddreißig Jahren ihres Bestehens. Die lebende Generation konnte sich nur schwer ein Bild von ihrer umfangreichen Tätigkeit machen und von dem angeregten Leben, das sie zur Zeit ihrer Blüte entfaltete. Wer heute den Organismus einer solchen Gesellschaft am lebendigen Körper studieren will, muss nach Lübeck gehen, wo die Gemeinnützige Gesellschaft aus Privatmitteln noch fast alle von ihr ins Leben gerufenen Anstalten verwaltet, Neugründungen unternimmt und zugleich den Mittelpunkt eines überaus regen geistigen und geselligen Lebens bildet. Es wäre eine nützliche Aufgabe für einen Nationalökonomen, die Wirksamkeit dieser Gesellschaften einmal in einer lebendigen Schilderung darzustellen.

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Die Patriotische Gesellschaft stellt in Hamburg den höchstentwickelten Typus der Vereinigung privater Kräfte für die Förderung des öffentlichen Wohles dar. Neben ihr wirken zahlreiche Vereine und Gesellschaften für besondere Zwecke, und darüber hinaus bemüht sich der Gemeinsinn des Einzelnen, erkannten Bedürfnissen abzuhelfen. Zahllos ist die Reihe der milden Stiftungen, die allen denkbaren Zwecken dienen und zum Teil in ferne Epochen zurückreichen. Es ist bezeichnend, dass die Paläste der milden Stiftungen aller Art, die hier und da ganzen Stadtvierteln den Charakter aufdrücken, eines der Hauptgebiete der monumentalen Baukunst in Hamburg ausmachen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hamburg - Niedersachsen