Der Großhandel

Der Großhandel beherrscht auch das Leben des Einzelnen und lässt ihn von dem Tage, wo er als halber Knabe den Fuß ins Comptoir gesetzt hat, bis zu seinem Tode nicht los. Es ist nicht Sitte, sich vom Geschäft zurückzuziehen, so lange die Kräfte reichen. Der Rentier ist ein unbekannter Begriff. Alles arbeitet. Nicht selten kommt es vor, dass auf demselben Comptoir drei Generationen derselben Familie tätig sind.

So wächst die Jugend in engster Berührung mit der älteren Generation heran, deren Einsicht ihr unmittelbar zugutekommt, und das Alter, das die Erfahrung besitzt, hat die Jugend neben sich, in deren Wesen die Initiative überwiegt. Der Lebenswunsch des französischen Kaufmannes, die Million und der Ruhestand vom fünfzigsten Jahre ab, ist dem hanseatischen Kaufmann unbekannt. Als seine Lebensaufgabe sieht er die Konsolidierung und Entwickelung seiner Firma an und die sachgemäße Schulung seines Nachfolgers. Nach altem Hamburgischen Recht steht er mit allem, was er hat und ist, für sein Tun und Lassen ein. So hart es im einzelnen Falle einmal treffen mag, kennen Sitte und Recht keinerlei Festlegung von Kapitalien für die Sicherstellung der Familie, die dem amerikanischen und englischen Kaufmanne einen festen Rückhalt gibt. Bei allem, was er unternimmt, hat der hanseatische Kaufmann zu bedenken, dass sogar das mitgebrachte Gut seiner Frau verloren ist, wenn er sich verrechnet hat.


Auch der Bildungsgang des Kaufmannes weicht durchaus ab von dem, was man im übrigen Deutschland gewohnt ist. Nicht Gymnasium und Realgymnasium, sondern in sehr vielen Fällen eine Privatschule gibt die Grundlagen. Der „Einjährige“ ist das auch im übrigen Deutschland verständliche Bildungsziel der Mehrheit. Die Schule wird früh verlassen, meist um das 16. Lebensjahr herum. Dann folgen drei Jahre Lehrzeit — Jeder muss von der Pike an dienen — das Dienstjahr und ein längerer Aufenthalt in England, Frankreich und, je nach den Geschäftsverbindungen, in irgendeinem überseeischen Weltteil, meist mit einer Reise um die Welt verbunden.

Von den umfassenden Kenntnissen eines Hanseatischen Großkaufmannes macht man sich im Inlande nur schwer einen Begriff. An Quantität des zu verarbeitenden Stoffes, von dessen richtiger Beurteilung, was nicht zu vergessen, Ehre und Existenz abhängen, an Umfang und Vielseitigkeit des Gebietes, das nicht nur gekannt, sondern beherrscht sein muss, kommen ihm wenige Gelehrte gleich.

Die Sitte, hinauszugehen, besteht nicht nur für die weniger bemittelte Klasse, die ihren Weg erst machen will, sondern sie ist ebenso verbindlich für die Söhne der wohlhabenden und reichen Familien. Und man geht nicht nur auf eine kurze Orientierungsfahrt über den Ozean, sondern meist auf Jahre. Das Lebensalter von 20 — 30 ist in einer Hamburger Gesellschaft selten zu treffen. In vielen großen Häusern pflegt seit Generationen einer der Söhne durch ein Jahrzehnt die Filiale an einem überseeischen Handelsplatze zu leiten. Der Hamburger Kaufmannsstand verdankt dieser Gewohnheit seine innige Vertrautheit mit den Bedürfnissen und Zuständen aller überseeischen Länder der Welt, sowie eine umfassende und eingehende Personenkenntnis. Diese hat für den Hamburger Handel eine ganz besondere Bedeutung. Sie ist die Basis der eigenartigen, auf persönlichem Vertrauen beruhenden Kreditverhältnisse, durch die die Hamburger Firmen auf die emporstrebenden Länder, mit denen sie in Verbindung stehen, einen so außerordentlichen Einfluss ausüben. Ein beträchtlicher Teil ihres Erfolges im Kampfe mit der englischen und französischen Kaufmannswelt beruht auf diesem Vertrauensverhältnis. — Dass oft endlose Entbehrungen und große Gefahren mit dem Leben im Auslande verknüpft sind, darf nicht übersehen werden. In allen Familien lassen sich Opfer zählen, die das mörderische Tropenklima gefordert hat, und wer zurückkehrt, hat oft jahrelang mit den Leiden zu kämpfen, denen unsere Konstitution in den heißen Zonen ausgesetzt ist. Auf diesem Schlachtfelde sind im letzten Jahrhundert zahllose Pioniere Deutschlands aus Hamburger Familien gefallen, und dass der kleine Freistaat an der Elbe den Handelsmächten des Auslandes gegenüber aus eigener Kraft sich hat behaupten können, das dankt er nicht in letzter Linie dieser sang- und klanglos dahingesunkenen Schar. Bestände die Sitte, die Namen der im ökonomischen Kampfe Gebliebenen auf Gedächtnistafeln der Nachwelt aufzubewahren, die Wände aller Kirchen der Stadt würden nicht Platz genug bieten, sie unterzubringen.

Bis gegen das vierzigste Jahr pflegt das Geschäft den Mann ausschließlich in Anspruch zu nehmen. Wer dann noch Lust und Kraft in sich fühlt und das besondere Vertrauen seiner Mitbürger genießt, tritt in die Staatsverwaltung und Regierung als ein Mann von gereifter Erfahrung. Auch hier dient er von unten auf. Wer das höchste Ziel anstrebt, den Sitz im Senat, lernt als Mitglied der Bürgerschaft und eines der Ministerien (Baudeputation, Finanzdeputation) die Verwaltung des Staates praktisch kennen.

Durch die Gemeinsamkeit der Interessen und die gemeinsame Tätigkeit in Verwaltung und Regierung ist der Juristenstand mit dem des Kaufmannes enger als anderswo verbunden. Und zwar sind es nicht die juristischen Beamten, sondern die Anwälte, die den größten Einfluss ausüben. Aus ihrer Mitte, nicht aus den Beamten, pflegen die juristischen Senatoren erwählt zu werden, und aus diesem Teil des Senates gehen fast ausnahmslos die regierenden Bürgermeister hervor. Juristen und Kaufleute haben auch in der Hamburger Gesellschaft die Vorherrschaft. Seltener begegnet man darin dem Vertreter der Wissenschaft, noch seltener dem Künstler und fast nie dem Schriftsteller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hamburg - Niedersachsen