Abschied, Sehnsucht

Es war an demselben Abend. Die Henne war geschieden von ihrem Hahn mit schwerem Herzen. Sie neigte das Antlitz tief herab, damit die Schwestern ihre Tränen nicht gewahrten, welche sie länger nicht zurückzuhalten vermochte. Langsam schlich sie nach dem Hühnerstalle; doch es herrschte wildes Getümmel, Streiten, Krähen und Pipen darin. Die Gefühllosen gingen mit Geräusch zur Ruhe, wie sie stets mit Geräusch erwachten. — Sie setzte sich darum auf die Sprosse der Leiter, welche vom Dache herabging und sah über das abendlich glänzende Dorf dahin. —

Es ziemt dem Weibe seine Gefühle geheim zu halten, denn sie sind gar zarte Blumen, welche fremde Nähe leicht wie ein Nachtfrost, wie der giftige Mehltau trifft. So verhaucht sie ihre Klagen in der Einsamkeit, während der Mann seine Schmerzen austobt in den Stürmen der Natur! — Sie schwieg, ihre Labung waren die Tränen. Sie gedachte noch all' der schönen Plätze ihrer aufkeimenden Liebe, die sie nun alle verlassen sollte. Ihre Phantasie flog hinab nach dem Hofe, wo der Geliebte einst ein Weizenkorn, das er schon im Begriffe war aufzupicken, ihr freiwillig überlassen hatte, da er ihr kaum in das Auge gesehen. Es war die erste Regung ihrer Neigung gewesen. Sie flog im Geiste hinab nach dem Weidendamme, wo sie ihm so oft begegnet war, wo sie eines Abends lange an seiner Seite gewandelt, beide beklommen und schüchtern, so dass sie es nicht wagten auch nur ein Wort der Liebe, ja nicht einmal, wie die Menschen, ein Wort über das Wetter zu sprechen. Sie gedachte der Stelle am Weidenbusche, wo er sie gegen die rohen Anfalle des Hahns vom Schulzen kühn und ritterlich verteidigt und als er den argen Feind besiegt, nicht einmal ihren Dank erwartet hatte, sondern bescheiden sich entfernte. — Sie dachte an Alles! — O die Liebe ist reich und schön in ihren Erinnerungen. —


Und der Abend senkte sich tiefer auf Dorf und Flur herab — die Glocke tönte — heiser verklang das Gebell der Hunde — sie blickte nach jener Gegend hin, wo Er geschieden und nahm stillen, wehmütigen Abschied von ihm. — Lange kam der Schlaf nicht; doch da er endlich kam, war er nur ein Träumen von ihm. In ihm redete die Zunge abgebrochene Sätze von dem Geliebten; sie nannte im Schlummer seinen Namen mehrmals laut, was die züchtige Jungfräulichkeit im Wachen nie gestattet hätte. Doch der Schlaf wurde zum Verräter, denn in ihm ist die Seele Untertan einer andern Welt und einer andern Macht. Und während aus dem Stalle heraus das Zirpen und Girren der Schläfer ertönte, während die Tauben oben im Schlafe murrten und trommelten, der Hund schnarchte, der Nachtwind mit der Vogelscheuche im Obstgarten sein neckend Spiel trieb: saß sie mit geschlossenen Blicken da, doch mit geöffneter innerer Sehkraft und sprach in abgerissenen Pausen mit halblauter Nachtwandler-Stimme, bald von einer Rose träumend: „An Alexis send' ich Dich!“— Dann wieder des letzten Grußes gedenkend lispelte sie: „Wenn in des Abends Dämmerscheine Dir eine lächelnde Gestalt“ — — und — „Ich denke Dein, wenn Himmelssterne blinken.“ — —Nachdem sie eine Weile geschwiegen und geschlafen regte der Traumgott, diese silberne Phaläne, welche den Schläfer umflattert und bald auf Stirne, Mund und Brust sich niederlässt, bald auf Ohr und Hand, und süße Worte der gefesselten Seele zuflüstert, seine Schwingen wieder und die Schläferin lispelte: „Einsam wandelst Du Freund in dunkler Ferne!“

Und so sehnte sie sich ab, während die tierischen Laute sie umgaben, die Glocke mit ihrem ehernen Mund von Stunde zu Stunde an das arme Leben und die Vergänglichkeit, aber auch an den Trost der Zukunft, an das: „Es wird besser Gehen“ der Gebeugten mahnte, während das Horn des Nachtwächters die Schlummernden fühlen ließ, dass sie schlafen: — bis der erste Morgenstrahl über den fernen Hügeln emporguckte, wie das erste Erwachen einer errötenden Braut, und das Hundegebell sich regte, die Hähne der Nachbarschaft ihre Stimmen versuchten und das Geflügel im Stalle sein Gefieder sträubend sich schüttelte, zum Zeichen des Erwachens. — Da dachte sie noch mit aller Glut der liebenden Seele an ihn, wirbelte aus geöffnetem Munde ein lautes, unendlich-tiefes Lebewohl und — war es des Zufalls heilige geheimnisvolle Macht? — war es die Gnade der Götter, welche den Liebenden gewogen sind? — es war derselbe Moment, wo er von jener Waldhöhe aus seine Stimme ertönen ließ in die purpurne Morgenluft.

So verknüpft ein heiliges Geschick Geister, die sich lieben, auch über die Ferne hinaus und die Trennung ist's, die wie ein Seidenwurm den goldenen Faden spinnt und ihn dehnt und dehnt, dass er um das Erdrund reicht, wie der Äquatorsgürtel; dass er die lieben Herzen so an zwei Enden hält und sie sich wiederfinden und zurückspinnen können, wenn sie dem Ariadnenfaden folgen. —

Es kam der Tag mit seinem wilden Geräusch, der die sanftern Regungen der Seele beeinträchtigt. Die Henne hielt sich fern von ihren Genossen, sie ging an all' die Orte ihrer stillen Seligkeit und nahm Abschied von ihnen mit wehmütigem Herzen. — Als der Abend kam, flatterte sie auf den Zaun des Mühlenteiches, wo sie ungestört die ganze Gegend überblicken konnte. Hier saß sie lange stumm und sinnend, blickte bald hinüber nach dem Hause ihrer Geburt, bald in das untergehende Sonnenlicht, und weinte süße, bittre Tränen. Diese Tränen sind ein holdes Labsal der beengten Weiberbrust, sie kommen wie der Regen beim Gewitter, stets vor dem Schmerze, oder wenn er ein plötzlicher gewesen, nach ihm und so erfrischen sie die Flur, über welche das Unwetter hin zieht.

Und als sie sich ausgeweint und in den bittersüßen Seligkeiten der Liebe geschwelgt, da begann sie folgendes Alleingespräch von der ersten Liebe: „Wenn die Blumen ihren ersten Traum geträumt, wenn die Kindheit der Knospen vorüber ist, wenn der Blätter Busenfülle schwillt, der Kelch errötet, Tau und Sonnenstrahl in den farbigen Schoß herabgaukeln, dort eine Liebesfeier zu begehen, wenn der Keim so sinnlich-selig von innen schwillt, von außen buhlende Winde sie umschwärmen; dann ist es der ersten Liebe selige Zeit, der Blume schönste Zeit! Wenn das Nachtigallenweibchen das Nest gebaut, die Nachtluft warm und mild durch die Blütenzweige fächelt, der Mond die Erde millionenmal küsst, das Weibchen mit halbgebrochenen Lauten nur vom nahen Zweige girrt und ihre Prachtaugen durch das Dunkel leuchten feucht und brennend; wenn da der Liederquell in der Nachtigallenbrust sich regt und hebt, wie der losgelassene Springquell, langsam zuerst, dann höher, immer höher, und endlich hinausschmettert in die horchende Natur; so ist das der ersten Liebe seligste Zeit! — Und so ist auch meine Seele wonnig erregt, himmlisch erschüttert worden. Als ich ihn zuerst sah, dehnte sich mein Herz, wie der Blumenkelch, und Himmelstau und Himmelsstrahl von meinen Tränen, von seinen Blicken taumelte hinein, der Mond küsste mich und wie in der Nachtigallenbrust dehnte sich der Liederstrom in meines Hahnes Seele. O erste Liebe, wer schildert Deine Seeligkeiten, Deine Ahnungen, Deine Genüsse. Fühlen kann sie die sterbliche Brust' aber schildern nie, denn vorüber wandelt Dein Rausch, wie der Aeolsharfe Akkord, dessen Sinn und Töne kein Ohr festzuhalten, in seiner Ursprünglichkeit zurückzurufen im Stande ist!! Und darum wird Dein Heiligtum nie gemein, nie entweiht; weil eben die ätherischen Gestalten vorüberschweben, weil sie uns bloß mit ihrem Blütenstängel Brust und Wange berühren, uns nur den Duft und den Farbenstaub, den sie abgestreift, nie aber ihre Gestalten zurücklassen. Es ist so, wie wenn man träumt über einem Meere zu schweben, in dessen Strömung Millionen prachtvoller Blumen dahinschwimmen; eine schöner und einladender als die andre: der Arm kann sie nicht erreichen, die Phantasie keine der Formen behalten: denn eine drängt die andre und nur in schwachen Umrissen, neblig, wenn gleich unendlich schön, bleibt das große herrliche Bild in unserer Erinnerung. Und so sind Sehnsucht, Ahnung, Kuss, und Blick der ersten Liebe Wonnen. — Doch hat die erste Liebe auch Schmerzen. Die Nachtigall hat wehmütige Lieder, denn Furcht und Besorgnis lasten auf der liebenden Seele und kämpfen mit der Hoffnung und Ungewissheit; schmerzhaft berührt der Nachtfrost den Blumenkelch und der Stachel des Wurmes nagt an ihrem Herzen! Und dennoch lieben sie und sind selig in den Schmerzen. Das ist der Liebe geheimer Zauber, der ersten Liebe bittre Wonne eben. Besitz ist kalt — ist die Blütenzeit vorbei, so schlägt das Nachtigallenmännchen nicht mehr; wird aus der Blume die Frucht, so ist der Schaft hart, das Herz ruhig, besonnen geworden. Der zweite Sommer bringt schon kräftigere Blüten, minder zart und glühend, der Nachtigall Klage ist nicht mehr der erste Sehnsuchtshauch voll des namenlosen Zaubers, die zweite Liebe findet ein Herz, wo die erste Blumensaat schon abgeblüht hat: und die Erinnerung weiß gut, wann ihr Elysium war und dass es anders war als jetzt!“ —

„O erste Liebe, Du bist der einzige Tautropfen des Himmels, den er in jedes Geschöpfes Brust geträuft hat, der darin zum Sterne wird und ihm von da aus leuchtet durch das ganze Leben, selbst wenn es eine Leidenkette, eine ewig-dauernde Islandsnacht ist. Wie ist man reich zur Zeit der ersten Liebe, wie trägt man Leiden und Entbehrungen ohne Harm und Klage, wie lacht die Schöpfung, wie spielt das Leben um uns, wie leben alle edleren Gefühle, Mitleid, Freundschaft, Sanftmut, Versöhnung, Friedlichkeit in uns und bilden einen Kranz um diese Eine schönste Tugend! Sehnsucht, Du dauerst bis zum Besitze und des Besitzes erster Moment ist zwar Dein letzter aber auch Dein seligster. Hochherrlich, wie in gewaltiger Flammenpracht ein geschiedener Held im Glanze seiner Tage, gehst Du in der seligsten Minute unter und Deine Seeligkeit ist Tod — wenn der Tod Deiner Seeligkeit anbricht.“ —

Sie wischte sich die Tränen aus den leuchtenden Augen und atmete lief. Dann Brust und Haupt stolzer erhoben, fuhr sie fort: „Und solchem Tode strebe ich entgegen, wie es Gesetz ist der heiligen Natur. Noch umspielen mich die Wonnen alle, die süßen Ahnungen, das verzückte Verlangen, die geheimnisvolle Bangigkeit — aber durch die Entbehrungen will ich schreiten zum Tode, zu jenem Besitze. Was ist Liebe der Leidenschaft, wenn sie von der Vernunft beherrscht wird — Leidenschaft der Liebe wird groß, wenn die Vernunft von ihr untergeordnet wird.“ —

„Und so hab Dank, Du holder Genius meiner Liebe, der Du mir dies Glück gegeben, habt Dank, ihr Stimmen der Natur, die ihr mich dies fühlen gelehrt, habt Dank ihr deutschen, dichtenden Frauen, die ihr mich gelehrt habt, das Gefühlte auszusprechen, um es auch andre nachfühlen zu lassen. Ich bin mir dadurch klarer geworden! — Und nun zarte Mädchenseele, rüste Dich zu dem großen Werke, Mensch zu werden! Lebt wohl, Tal, Berg, Dorf, Heimat — von jetzt an gehöre ich dem Leben, der Welt mit ihren weiten, trügerischen Kreisen an.“

Der Abend verdämmerte, sie flog an dem bekannten Hügel vorüber nach der Waldhöhle, zur Base Schlange. Auch sie erhielt jene Verwandlungssalbe und gute Lehren für die neue Laufbahn, welche hier näher anzugeben uns jedoch die Diskretion verbietet, denn das schöne, schwache Geschlecht hat Geheimnisse, welche der Mann, will er nicht unzart sein, nicht ungestraft aufdecken darf. Nur die Freundin und der Arzt werden zuweilen ins Vertrauen gezogen; die Dichterinnen aber sind es, welche derlei geheime leisbelauschte Regungen, die den Männern entgehen, eben weil sie ferne stehen, süß verzuckert und als ewige Beweise für die edlere, wahrhaftere Natur der Frauen zu unserer Kunde bringen. —

Als der Besitzer der Meierei am folgenden Abend seine Hähne und Hennen zählte, fehlte das rotgesprenkelte Paar. Er schalt die Magd Anne-Lise, welcher die Pädagogik des Hühnerstalles anvertraut war, ob ihrer Sorglosigkeit aus, beschloss ihr, den Wert des Verlustes vom Lohne abzuziehen, blieb ungerührt bei ihren Tränen, bis Michel der Knecht durch die Versicherung Trost verschaffte: er seinerseits glaube den Dieb zu kennen. Der Häusler Mathis sei so ein Hühner- und Gänsedieb, er habe ihn an den beiden vorigen Abenden vorüberschleichen sehen bei der Meierei und verwette seine Ehre, dass er die Hühner wieder holen wolle, noch in derselben Nacht. —

Die Beschränkten, Gemütlosen! Als ob es für die Geliebten kein würdigeres Los gegeben hätte, wie jenes, gefangen zu werden und heimlich eines gemeinen Todes zu sterben!

Michel stieg in derselben Nacht über den Gartenzaun des Häuslers, wurde aber von diesem, der einen leichten Schlaf hatte, gehört, ertappt, für einen Dieb gehalten und dermaßen mittelst eines Prügels zugedeckt, dass er seiner zärtlich-geliebten Anne-Lise wohl drei blutige Wunden auf seinem harten Schädel und ein geschwollenes Auge als Zeichen seiner Anhänglichkeit in den Schoß legen, aber keine Hühner wieder geben konnte.

Wenn daher dieses Werk auch in jene Dorfgemeinde gelangen sollte, aus deren Mitte ich zwei edle Seelen hier zu verherrlichen gedenke, wie sie sich selbst verherrlicht und ihrem Geburtsorte sogar bis in die neue Welt hin großen Ruhm gebracht haben, so möge es zugleich dienen — die gekränkte, verdächtigte Ehre der beiden respektiven Männer Michel und Mathis zu rechtfertigen und sie von dem wechselseitigen Verdachte des Diebstahles zu reinigen. Denn diese Denkwürdigkeiten hier sind niedergeschrieben, um Nutzen zu stiften!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hahn und Henne - Liebesgeschichte zweier Tiere