Der königliche Gesandte von Hahnenstein

Der neue königliche Gesandte von Hahnenstein war in N... angekommen. Wegen der gerade begonnenen Ferien konnte er seine Funktion nicht sogleich antreten. Er bezog sein schön eingerichtetes Hotel, schickte Karten herum, besuchte die elegante Gesellschaft, und ging dann auf ein paar Monate in das nahe gelegene Bad. —

Man fand den Gesandten recht erträglich-liebenswürdig. Sein Äußeres war, wenn nicht außerordentlich empfehlend, doch sehr weit von dem, was man abschreckend nennt, entfernt. Seine stark gebogene Nase wollten einige tadeln, doch machte sie hingegen bei andern, der erfahrenen Damen, um so mehr Glück und hatte ihren ganzen Beifall. Hahnenstein war noch jung und hatte bereits eine glänzende Karriere gemacht. Mit der Wirksamkeit eines geheimen Legationsrates verband er nun die Funktion eines Gesandten am großen Bundeskongress der Generalprovinzen; er trug zwei Orden und den Kammerherrenschlüssel. Unter seinen Kollegen, die fast sämtlich zu ihrer Erholung und Beschäftigung im Bade waren, ward er bald einheimisch; doch tadelten viele seinen Feuerkopf und seinen Geschäftseifer, seine heftigen patriotischen Ideen und die freisinnigen Ansichten, welche er häufig laut werden ließ, die aber zu der Stellung eines Diplomaten nicht recht passten. Der alte Minister W... sagte dagegen beschwichtigend: „Lasst ihn nur gewähren, meine lieben Kinder. Ich bin jetzt zwölf Jahre hier. Jeder, den ich noch ankommen sah, kam mit einer guten Tracht Feuereifer versehen. In einem Jahre singt er ganz anders, ist er so ruhig wie wir. Denkt an mich und erzählt mir’s wieder.“ —


Weniger gefiel von Hahnensteins Hang zur Einsamkeit den Kollegen und ihren respektiven Frauen und Töchtern. Er hatte jeder Dame nur vorübergehend den Hof gemacht und keine einzige bedeutende Intrige gesponnen. Er sah schwärmerisch aus und schien sein Herz in der Residenz seines Vaterlandes gelassen zu haben. Das fand man gar zu sentimental für einen Staatsmann und medisierte darüber.

Er horchte nicht auf das Geschwätz, blieb fleißig wie vorher, schwärmte in den herrlichen Umgebungen des Badeortes, die von der Natur gesegnet, von der Geschichte mit großen Erinnerungen geschmückt sind, umher, oder er blieb zu Hause im verschlossenen Zimmer und befestigte so die Vermutung, dass er sich mit Schriftstellerei befasse.

Und in der Tat trieb er auch eine Art Schriftstellerei, doch nicht jene karge, beschwerliche für Lohn und Ruhm der Welt; es war Schriftstellern seiner Liebe, seiner Seele Idee und Ausführung, wozu ihm kein Verleger den Plan, gleich einem Stück Tuch gegeben hatte, um es zu verschneidern. Er schrieb an den „Memoiren aus dem Leben eines Hahns,“ welche er seiner Henne zueignete und zu ihrer Lektüre bestimmte, damit sie schon jetzt, oder in den Tagen ihrer Wiedervereinigung die Schilderung seines Menschenlebens überblicken könnte. So begann er darin:

„O Du meine einzig Geliebte! So wäre ich denn fern von Dir und weiß nicht, wo Du weilest; und meine Seele fühlt sich desto inniger an Dich gekettet und möchte vergehen vor Sehnsucht. Ich weiß nicht ob Du jemals diese Zeilen lesen wirst und dennoch muss ich sie dem Papiere vertrauen und es ist mir als fändest Du sie in der nächsten Stunde, als wäre Dein Geist zugegen und sähe, was ich schreibe und denke. O es ist so süß und bequem einen Roman in Briefen zu schreiben!“ —

„Meine Teure! Hier bin ich und weiß nicht, was ich bin und wer ich bin. Wohl hat die Base Schlange recht gehabt, da sie mir verkündete, ich würde mit der obersten Stufe irdischen Glückes beginnen: aber warum fühl' ich das Glück nicht in seiner ganzen Ausdehnung? Ist es, weil ich es fasse mit dem Geiste eines Hahnes, mit dem schuldlosen Gemüte eines Tieres — oder gibt es kein vollkommenes Menschenglück? Mit der Salbe ist mir Alles geworden was ich brauche, Kenntnis und Einsicht. Die Leute um mich sagen, ich sei so jung und schon so mächtig. O meine Geliebte! Ist man denn mächtig, wo man nichts zu tun hat? Alle meine Kollegen vom Bundeskongresse sind geistvolle, gelehrte, wichtige, sogar fähige Männer, man nennt sie mächtig; ein feierlicher Glanz umgibt uns, als oberste, heilige Behörde, und dennoch müssen wir alle die Nichtigkeit desselben fühlen, denn wir wirken nicht, wir zerstören selbst nicht. Die Kreuze auf meiner Brust und der goldne Schlüssel auf dem Fracke — seltsame Tracht — sie zeichnen mich aus vor vielen tausend Menschenkindern und das sollte doch wohl nicht umsonst sein. Ich sollte im Geiste kräftiger, im Wirken reichhaltiger sein, als alle diese Tausende, um jene Auszeichnung zu verdienen. Doch nein! so ist es nicht, jene wirken mehr, mühen sich und quälen sich ab, während ich ruhe und ruhen muss. Und so weiß ich von uns allen nicht, ob wir bedeutend oder unbedeutend, ob wir wichtig oder unwichtig sind. Neun Monate haben wir Ferien, drei Monate Urlaub; so vergeht das Jahr. Es gibt entweder für uns nichts zu tun oder wir sollen nichts tun. Kommt ein Bericht oder sonst eine Geschäftsanregung, so wird von uns beschlossen zu beschließen dass er protokolliert und darauf im Archiv deponiert werde. Ich möchte demnach sagen, wir haben zwölf Monate im Jahre keine Arbeit. Für den Trägen, den Bequemen oder den Abgelebten, der Ruhe Bedürftigen ist das sehr angenehm; wie soll aber der Feuergeist hier Nahrung, Luft und Glanz finden? Während der Zeit, dass ich hier bin, ist nichts vorgefallen, was wichtig genug gewesen wäre, durch unsere offizielle Zeitung bekannt zu werden. Ein andrer Gesandtschaftsrat, mit dem ich als dem Empfänglichsten, Umgang pflege, erzählte mir, es wäre auch so lange Er sich hier aufhalte, nichts dergleichen vorgefallen, ausgenommen, dass in voller Sitzung beschlossen worden ist, wegen der Würde des Ganzen und zum Besten der Generalprovinzen, mehrere ausgezeichnete Werke in die Kongressbibliothek aufzunehmen, z. B. ein Buch über die bequemste Ofenheizung — ein andres über Brennmaterialien und Ofenröhren; über die Branntweinbrennerei usw. — Und dennoch, meine Geliebte, schmachtet das arme Volk, das wir repräsentieren, beschützen, dem wir helfen sollen, unter vielfältigem Drucke, leidet an alten Wunden die noch immer bluten und es bis zum Tode schwächen; dennoch ist es bedrückt und verkürzt von einigen Provinzialvorstehern, die auch wechselseitig nicht einmal Frieden halten unter einander! Statt an Ofenheizung sollten wir daran denken, die Herzen der armen Menschen zu erwärmen, geistig und körperlich; statt uns mit Branntweinbrennerei und Brennmaterialien zu befassen sollten wir sie begeistern für Freiheit, Einigkeit, Vaterlandsliebe und Gemeinsinn. Statt zu forschen, wie der die Menschheit verderbende Branntwein entfuselt wird, sollten wir sie vor Trunkenheit, Irr- und Aberglauben, vor Missbrauch unzulänglicher, veralteter Gesetze und Formen retten. Was helfen gute, neue Ofenröhren, wenn die Armut nichts hat für die Speiseröhren, das Herz nichts für seine Blutröhren, das Gehirn nichts für die Ohrröhren! O meine Geliebte! Es schneidet in meine Seele, höre ich den Weheruf des Völkerrechtes, die Klagetöne getäuschter Hoffnung, das Verwimmern eines armen, öden, betrogenen Daseins. Die Sterne auf meiner Brust wärmen mich nicht, denn mein Herz schlägt ohnedies warm für das Schöne und Edle; aber sie lasten eiskalt darauf, sehe ich die Armut in ihrer Blöße frieren und ich verwünsche alle neue Ofenapparate, wenn der Brennstoff, der sie erwärmen soll, mangelt. — Und nicht das Wohlbefinden allein macht diese Menschen, wie ich in kurzer Zeit aber richtig erkannt habe, glücklich; sie sind, wenn gleich weniger als wir, doch besser als Bäume, denen es genügt in gutem Erdreich und gegen den Nordwind gestützt, zu stehen: es ist die Idee, die sie beglückt, die Wärme der Freiheit, die Klarheit des Geistes, der sie bedürfen, um an Leib und Seele gleich glücklich zu sein. Stiehl der Pflanze das Licht und sie verkümmert — und diese Menschen sind, wie ich eben sagte, doch etwas mehr als Pflanzen. Genügt es dem Vogel, dass er im Käfig eingeschlossen, alltäglich sein gutes Futter hat, dass er nicht jeden Tag ängstlich es zu suchen braucht. O nein! Gebt ihm die Freiheit und er verschmäht Eure süßen Körner um der Schlechten willen, die er sich mühsam suchen muss. So schreitet der Zeitgeist, wenn die Völker mündig werden, allmächtig vorwärts. Sie haben ihn, den mächtigen Adler, in einen großen, eisernen Käsig verschlossen, und wir sind um den Käfig herumgestellt, sein Ausfliegen zu — leider! zu verhindern, nach seinen Bedürfnissen zu forschen und sie denen mitzuteilen, die da sind Machthaber und die Pflicht tragen, ihnen abzuhelfen. Diese Schildwachtsteherei aber ist langweilig und ermüdend, sie stumpft sogar ab — wir lassen es, da wir ja seinen Käsig ohnedies nicht öffnen dürfen. Aber über kurz oder lang wird dieser Riesen-Adler, kann er die Stäbe seines Kerkers nicht durchbrechen, sein Haupt an ihnen sich freiwillig zerschmettern; um bloß die Seele zu befreien und diese Seele glaube ich — wird herumwandeln als Gespenst und die Schläfer erwecken, die Trägen andonnern, die Untätigen emporschütteln und sie Alle mit seinem Geiste erfüllen, schrecklich, gefährlich und — ungeheuer!“ —

„Es ist aber, als wären meine Genossen mit Blindheit geschlagen; denn sie preisen bloß ihr Geschick, als das höchste irdische Glück. Die Provinzialvorsteher aber sind mit uns und unserer Untätigkeit zufrieden, sie erhalten uns noch darin, denn sie haben sich unter einander und dem Volke einen Popanz hingestellt, der Ehrfurcht einflößt, sie in Furcht erhält, das Verlangen nach Verbesserung stets mit Troste abweist, und eben in dem Umstande, dass er existiert, auf die Zukunft hin mit Hoffnungen verweist.“

„Es begab sich, dass ein junger Provinzialvorsteher, der von Natur aus ungemein viel Hang zur Willkür und zum Schauspielwesen hat, das Volk seines Bezirkes an seinen Freiheitsprivilegien verkürzen wollte aus bloßem Eigensinn und Gehässigkeiten gegen seinen Vorgänger, der jene Freiheiten, die eben so zeit- als staatsgemäß waren, dem Volke zugestanden hatte. Er wollte, um die Mächtigen für diesen seinen Plan zu gewinnen, ihre einzelnen Privilegien vergrößern, sie zur Willkür bevollmächtigen gegen das arme Volk; denn diesem allein sollte seine schöne Hoffnung, der matte Schimmer von Freiheit genommen werden, bloß weil sie ein andrer Verhasster ins Dasein gerufen. Doch jene mächtigen Vaterlandsmänner beharrten standhaft auf ihren letzterrungenen Vorrechten und verschmähten die Vorteile, welche einer dunklen, feudalistischen Zeit angehörten, denn sie schämten sich ihrer. Es kam zum Streite und die Provinz legte uns, dem Bundeskongress seine Beschwerden vor, bat um Abhilfe der neuen aufgedrungenen Verfassung und flehte im Namen des Volkes wie der Mächtigen den Vorsteher kraft unsrer Macht zu bestimmen jene Verfassung ihnen zu belassen. — Was anfangen? Wir stehen unter dem Einflusse der gesamten Vorsteher, wie eines jeden Einzelnen; sollte den Beschwerden der Untertanen Raum gegeben werden, so beschwerten sich bald alle andere Provinzen gegen ihre Vorsteher und wir wurden sonach — wenn unsre Beschlüsse von den Vorstehern anerkannt wurden, eine mächtige Regentschaft, gefährlich allen, einzig in ihrer Art und nicht passend für die speziellen Gesetze der einzelnen Provinzen. Doch wir stehen ja unter dem Einflusse der Vorsteher, jener Beklagte erklärte noch dazu er sei souverain, er könne wie Gesetze, so Verfassungen geben und aufheben; von den übrigen Vorstehern — die sich eine solche Souveränität auch vorbehalten und sie nicht mutwillig verscherzen werden — wurden wir nicht unterstützt: wir erklärten uns demnach für inkompetent in dieser Sache und wiesen mit Bedauern die Kläger ab, sie auf den lieben Herrgott, an den sie appellieren könnten, vertröstend. — Du fragst Geliebte was das Wort inkompetent bedeute? Das heißt so viel als: wenn ich eigentlich sollte, auch gerne möchte, aber nicht den Mut habe, eine Sache zu tun, die Gründe weshalb ich nicht kann jedoch nicht angeben will: — so sage ich, ich sei inkompetent in dieser Sache. Ein anderer Mächtigerer, oder Einer, der den Mut hat, sich die Finger und Ohren zu verbrennen, müsse das tun, oder möge es tun, in so fern er wieder nicht inkompetent ist. So ging das arme Volk von dem Pontius zum Pilatus, beide waren auch in kompetent, aber Christus musste deshalb doch sterben.“ — „O meine teure Freundin! Ich finde die Last des Menschentums bereits schwer auf mir liegen. Wenn es nicht den Preis Deiner Liebe gälte, ich würde sagen, dass ich mich schon jetzt sehne, wieder Tier zu sein. Base Schlange hat mir wohl Lehren gegeben, die unter der Menschengattung gut zu gebrauchen sind: — konnte sie aber auch mein Herz zugleich mit meiner Gestalt umzaubern? Jene Lehren zu befolgen, derlei Handlungen zu üben ohne sie und sich zu vernichten vor Scham, Reue und Abscheu, muss man auch zugleich ein Mensch sein.“

„O meine Geliebte! Könntest Du mich jetzt sehen, Du würdest mich wohl kaum erkennen, so verändert bin ich geworden. Sonst als freies Tier ging ich gerade und stolz einher und sah der Gotteswelt frei ins Auge, jetzt schleiche ich gebückt einher, denn mein Rücken ist krumm geworden, nicht von der Last der Arbeit, wohl aber von den Beugungen der Demut, Kriecherei, Leibdienerei und Höflichkeit. O meine innerste Seele sträubt sich gegen solche Entwürdigung, doch die Menschen finden dies gebückte Leben weder mehr auffallend noch lästig. So äußerst verderbt sind schon die Armen. — Wenn ich so des Abends allein wandle im Park, der hinter dem Kursaale liegt, da hänge ich meinen Gedanken nach und bleibe oft stehen und betrachte meinen Schatten, und sehe, wie ich — da ich nun ein glücklicher, wichtiger Mensch geworden, auch nur der Schatten eines freien Geschöpfes bin; ich entsetze mich vor meiner gebückten, entwürdigten Gestalt. Ich weine Tränen nicht über das, was ich tue, nein! über das, was ich unterlassen muss. Wenn mich die grünen Pappeln dort umrauschen, wenn der Springbrunnen geschwätzig, wehmütig-klingend herüberschallt; dann denke ich nicht allein an Dich, meine Geliebte, o ich habe Erbarmen mit den Menschen und sinne nach, wie es möglich wäre, den Baum ihres Wohlstandes auch grünen zu machen, den Quell ihrer Begeisterung, ihrer bessern Elemente in die Höhe zu treiben!! Durch Deklamationen wird hier nichts bezweckt, meine Teure; es muss Menschlichkeit, Liebe, und ein väterlicher Sinn, Entsagung und vor allem Frömmigkeit in die Herzen der Provinzialvorsteher kommen, ihr Gemeinsinn muss sich für das Volk und das große Vaterland erklären. Und es ist ja so leicht und lohnend Glückliche zu machen; es ist so süß zu befreien, es macht reicher von seinem Überflusse andre zu bereichern!“

„Möge es ein guter Gott wenden. Ich werde froh sein, habe ich diese erste Probe überstanden; wie schrecklich muss es erst tiefer unten sein. Doch die Liebe wird mir auch dazu Kraft geben. Ich kann den armen Geschöpfen, unter denen ich jetzt bin, nur Tränen geben; helfen mögen sie sich selbst. Wenn Gott ihre Vorsteher erleuchtet, werden es diese! Ich habe indessen gefühlt was eines Menschen höchstes irdisches Glück ist — Geld, Sorglosigkeit, Untätigkeit. Der glücklichste Menschensohn ist also der, welcher Gesandter am Bundeskongresse ist; er hat Titel, Würde, Gehalt — ich meine die Bezahlung, welche er für seine Tätigkeit erhält — Untätigkeit, Frieden, Ruhe. Es fehlt ihm demnach nichts, wenn er nicht ein Herz hat, wie ich — der Hahn.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hahn und Henne - Liebesgeschichte zweier Tiere