Nach dem Brand -2-



Neben dem Lager stand eine junge, bleiche, aber bildschöne Frau. Ein alter Mann mit weißen Haaren hatte sich gerade über den Fieberkranken gebeugt und fühlte mit vorsichtigem Finger seinen Puls. Die Frau schaute mit ängstlich gefalteten Händen und besorgtem Blick zu. Als der alte Arzt nachdenklich den Kopf schüttelte, ergriff sie seinen Arm und führte ihn zur Tür.


„Sie sind mit seinem Zustand nicht zufrieden, Doktor?“ erkundigte sie sich mit zitternder Stimme. „Verhehlen Sie mir bitte nichts, die Ungewißheit und Angst sind für mich viel schlimmer als die Wahrheit!“

„Sie müssen nichts befürchten, Mrs. Hetson“, sagte der alte Mann freundlich. „Sein Puls gefällt mir allerdings nicht, aber er hat gerade starkes Fieber, und ich hoffe, daß aus der ganzen Sache nichts weiter wird als eben ein Fieber, das wir schon wieder beheben können. Es wäre aber für Sie beide wünschenswert, wenn Sie eine freundlichere Umgebung bekämen als diese alte Kattunbude. Der erste starke Regen würde sie doch zusammenwaschen!“

„Denken Sie nicht an mich, Doktor“, bat die Frau. „Schaffen Sie mir nur die Beruhigung, daß mein armer Frank wiederhergestellt wird, und ich will Ihre Kunst segnen!“

Der Arzt zuckte die Achseln. „Beste Mrs. Hetson, ich befürchte fast, daß das eigentliche Übel außerhalb des Bereiches meiner Kunst liegt und mehr in seinem Geist, vielleicht in seiner Einbildung beruht. Sie wissen, weshalb er in diesem Zustand ist?“

„Nein, ich habe keine Ahnung.“

„Wo haben Sie ihn gefunden?“

„Der Arzt fand ihn, ein Gentleman aus England. Wir waren in sein Haus geflüchtet, ehe die Flamme auch dort hinüberschlug und uns zur Flucht zwang. Hetson war zum Parkerhaus geeilt, um noch etwas von unseren Sachen zu retten. Der Arzt fand ihn bewußtlos auf der Straße liegen. Er erkannte ihn und ließ ihn in dieses kleine Haus bringen, das ihm ebenfalls gehört. Ich war in der Wohnung seines Bruders und kam dann auch hierher. Jetzt ist er gegangen, um Medizin zu besorgen. Ich danke nur Gott, daß er Ihre Schritte hierhergelenkt hat. Aber wie erfuhren Sie, daß wir uns hier befanden?“

„Nur durch einen Zufall“, sagte der alte Mann, „der hier das kalifornische Schicksal zu vertreten scheint, wenn wir in unserem wunderbaren Leben überhaupt einen Zufall gelten lassen wollen. Von Mitpassagieren hörte ich, daß Mr. Hetson, der einigen auf der Straße begegnet war, seine Frau verloren habe und ganz außer sich geraten sei. Einer der Leute hatte glücklicherweise geholfen, ihn in dieses Haus zu tragen, und war so freundlich, mich hierherzuführen.“

„Aber wie kann um Gottes willen diese Krankheit nur in seiner Einbildung verwurzeln?“ sagte die Frau.

„Vielleicht bin ich selbst schuld“, antwortete Doktor Rascher. „Ich sah Sie während des Feuers in Begleitung des englischen Arztes, den ich natürlich nicht kannte. Ich nahm an, Ihr Mann wäre bei Ihnen. Als ich ihn dann suchend traf, sagte ich ihm, daß ich Sie unter dem Schutz eines fremden Mannes getroffen hätte. Ich fürchte, daß er ihn für seinen Nebenbuhler hielt. Nach dem, was Sie mir berichtet haben, könnte das seinen Zustand erklären.“

Jenny schwieg, sie war fast noch blasser geworden und sah ernst zu Boden.

„Armer, armer Frank!“ flüsterte sie dann leise. „Was glauben Sie, Doktor, kann ihn von diesem unglücklichen Wahn befreien, ihn gründlich heilen?“

„Gründliche Heilung“, sagte der alte Mann, „ist nur durch ein persönliches Begegnen und Aussprechen der beiden Männer möglich. Aber es ist auch ein gefährliches Mittel. Jetzt quält er sich ab in der Angst um ein Schattenbild, ein Phantom, das ihm überall droht und doch nicht erreichbar ist. Wenn er ihm erst einmal Auge in Auge gegenübersteht...“

„Befürchten Sie nicht, daß das seinen Zustand verschlimmern könnte, Doktor?“

„Ehrlich gesagt, nein. Allerdings läßt sich die Entwicklung solcher Seelenzustände unmöglich vorherbestimmen. Wissen Sie, wo dieser Mann sich aufhält?“

„Ich habe davon keine Ahnung. Erst durch Frank habe ich gestern erfahren, daß er in Kalifornien ist, und selbst das kann noch eine Namenstäuschung sein. Ich befürchte für ihn aber das Schlimmste, sogar für sein Leben, wenn er in diesem Zustand ihm begegnet.“

„Dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als entweder Kalifornien mit dem ersten besten Schiff wieder zu verlassen, und das wäre für Sie beide, insbesondere für Sie, Mrs. Hetson, das allerbeste. Oder Sie machen, wenn Ihr Mann einverstanden ist, eine Reise in die Gebirge, sobald er in der Lage ist, das ohne Gefahr auf sich zu nehmen. Die frische Bergluft und das Gefühl der Sicherheit oben in der Wildnis werden dazu beitragen, seine alte Kraft und Gesundheit zurückzubringen. Dann wird er sich auch die früheren, häßlichen Träume fernhalten.“

„Doktor!“ flüsterte in diesem Augenblick der Kranke und erhob sich mühsam von seinem Lager. „Doktor! Sie sind dort die Straße hinaufgeflohen! Wenn Sie ein Pferd nehmen, können Sie ihn noch einholen! Jenny! Jenny!“

„Frank - mein Frank!“ rief die Frau, stürzte an sein Lager und nahm ihn in die Arme. „Ich bin doch bei dir und werde dich nie wieder verlassen! Kennst du deine Jenny nicht mehr?“

„Die Straße hinauf, Doktor!“ rief aber der Unglückliche, den die Stimme nicht erreicht hatte. „Dort drüben! O Gott, jetzt sind sie um die Ecke, und in dem Menschengewirr werden Sie die Spur verlieren!“

„Frank, lieber Frank, komm zu dir! Ich bin doch hier, bei dir, sieh mich an!“

Der Kranke lauschte einen Augenblick, dann stöhnte er: „Siftly! Wo ist Siftly? Rufen Sie ihn, Doktor. Ich muß ihn sprechen, aber schnell! Er kennt alle Winkel und Wege dieser irren Stadt - er hat mir auch ein Mittel genannt, um Ruhe und zu finden! Siftly - Siftly... kann mir... helfen!“ Erschöpft, mit geschlossenen Augen sank der Kranke zurück in die Arme seiner Frau, wo er ruhig liegenblieb.

„Nach wem ruft er da?“ fragte der Arzt mit unterdrückter Stimme, als er wieder nach dem Puls faßte.

„Ein Jugendfreund meines Mannes, den er hier zufällig getroffen hat“, erwiderte Mrs. Hetson.

„Da er nach ihm ruft, wäre es vielleicht gut, ihn herzubringen. Vielleicht kann seine Nähe die wilden Träume zerstören. Wissen Sie, wo er zu finden ist?“

„Soviel ich weiß, wohnte er im Parkerhaus. Zumindest kennt man ihn dort, denn trotz der Überfüllung des Hauses verschaffte er uns noch ein Zimmer. Aber sein Aussehen ist nicht gerade eine Empfehlung. Ich kann mich irren, aber ich glaube kaum, daß ich mich in seiner Nähe wohl fühlen würde.“

„Liebe Mrs. Hetson“, sagte achselzuckend der Arzt und legte den Arm des Kranken wieder auf die Decke. „Nach dem, was ich bislang von dem Land und seinen Bewohnern gesehen habe, scheint es mir, als könnte man nicht immer nach dem Äußeren gehen. Oft steckt hier in der unscheinbarsten Hülle ein ganz hervorragendes Exemplar eines Menschen. Ich habe selbst ein merkwürdiges Beispiel davon erlebt, was ich Ihnen vielleicht später einmal erzähle. Von dem ersten Eindruck müssen wir hier absehen. Jedenfalls will ich nach dem Mann im Parkerhaus sehen. Wenn wir von seiner Anwesenheit eine Besserung für unseren Kranken erwarten können, bringe ich ihn hierher. Sind Sie damit einverstanden?“

„Mit allem, was Sie anordnen!“ sagte sie und ergriff seine Hand. „Sie haben sich schon an Bord als so guter, ehrlicher Freund erwiesen, daß ich...“

„Aber, Mrs. Hetson, ich wollte, ich könnte wirklich etwas Wesentliches für Sie tun. Bis das geschehen ist, sparen Sie sich den Dank!“ sagte der alte Mann abwehrend und lächelte.

„Was soll ich jetzt mit dem Kranken tun? Die ganze Nacht allein ohne Hilfe vergehe ich ja vor Angst!“

„Allein dürfen Sie auch nicht bleiben, man weiß nie, was passiert. Ich habe deshalb schon daran gedacht, Ihnen eine Frau herüberzuschicken, und zwar die, die die Schiffsreise mit uns gemacht hat. Es ist zwar eine Deutsche, aber ich weiß, daß Sie sich auch in meiner Sprache verständlich machen können. Sie wohnt nur ein paar Häuser weiter und hat ihre Kinder unter der Aufsicht eines Reisegefährten. Sie kann immer einmal hier hereinsehen und wird meine Bitte bestimmt nicht abschlagen. Ich bin ihr unterwegs auch immer gefällig gewesen und habe das jüngste Kind von einer Krankheit geheilt. Der englische Arzt wird Ihnen wahrscheinlich ein Beruhigungsmittel für Ihren Mann bringen, denn ein anderes Mittel können wir kaum anwenden, ehe wir die Krankheit nicht genau kennen. Jedenfalls sehe ich selbst in einer Stunde noch einmal nach und bringe dann hoffentlich gleich die versprochene Frau und einige Medikamente mit.“

Jenny Hetson wollte ihm danken, aber der Arzt schüttelte freundlich seinen Kopf, ergriff den Hut und verließ rasch das Haus. Er wollte zuerst mit Frau Siebert sprechen und dann zum Parkerzelt gehen.

Der Abend brach an, und im hell erleuchteten Parkerzelt herrschte bereits wildes Leben. Allerdings fehlten die anregenden, frivolen Bilder, und die rauhen, eingerammten Pfosten mit den Lampen gaben dem Platz nichts von seiner früheren Eleganz. Aber der innere Raum war hell erleuchtet. Aus rohen Brettern hatte man ein Orchesterpodium errichtet, von dem die rauschende Musik wirbelte. Um die mit grünen Tüchern gedeckten Tische scharten sich die Spieler, soviel nur Platz fanden. Schon die Neugierde hatte viele Fremde hergebracht, die den Betrieb wieder eingerichtet sehen wollten, wo noch vor wenigen Stunden Flammen zum Himmel schlugen. Andere Spielhäuser waren ja auch vorübergehend zur Untätigkeit verurteilt, weil ihnen die Mittel für den schnellen Aufbau fehlten. Aber spielen mußten die Leute, womit sollten sie sonst den langen Abend verbringen. Was nur Platz finden konnte, drängte herbei.

Wie erwähnt, war der hintere Raum des Zeltes für die Speisetafel freigehalten und durch eine hölzerne Barriere, die am Abend noch einen Zeltvorhang erhielt, getrennt. Der Ertrag deckte zwar kaum die Kosten der Einrichtung, aber hier galt es, die Leute festzuhalten, die ihr Geld verspielen wollten. Sie sollten nicht außer Haus ihr Abendessen suchen und dann vielleicht nicht mehr zurückkehren. Auch der Champagner floß dort reichlich. Da sich der Wirt die Flasche mit fünf Dollar bezahlen ließ, ersetzte ihm das etwas von dem geringen Verdienst, den das Essen brachte. Die gedeckten Plätze waren fast alle belegt. Stand hier oder dort einmal einer auf, nahm sofort ein anderer seinen Sitz ein, und die Kellner wurden ständig in Atem gehalten. Erst mit einbrechender Dunkelheit verloren sich die Gäste immer mehr, um in der benachbarten Abteilung ihr Glück zu versuchen. In der Zeit zwischen Mittagessen und Abendbrot kamen nur wenige herein, die rasch abgefertigt wurden.

Unser alter Bekannter, der Kellner Emil, war ebenfalls den ganzen Tag außerordentlich beschäftigt gewesen. Erst jetzt, als sich die Zahl der Eßlustigen verminderte, fand er die Zeit, an sein eigenes Mittagessen zu denken. Das holte er sich selbst aus der Küche an einen gerade unbesetzten Teil des Tisches, schenkte sich ein Glas Wein ein und aß in aller Ruhe. Dabei warf er aber doch hin und wieder einen Blick zum Eingang, ob nicht noch eine größere Anzahl Gäste eintrat. Da hob Doktor Rascher die Leinwand auf, und Emil sprang mit einem Satz von seinem Stuhl auf.

„Hallo, Doktor, wie geht es Ihnen? Haben Sie bei dem Brand viel von Ihren Sachen verloren?“

„Vor allen Dingen bleiben Sie sitzen, und essen Sie Ihr Abendbrot, Herr Baron!“ sagte der alte Arzt und schüttelte die Hand des jungen Mannes.

„Wenn Sie mich doch bloß nicht mehr ‚Baron‘ nennen würden!“ sagte er lächelnd und setzte sich wieder. „Sie werden doch wohl zustimmen, daß der Titel und meine Beschäftigung nicht zusammenpassen - wenigstens nach unseren europäischen Ansichten. Nennen Sie mich Emil, und wenn es nur wegen der anderen Leute ist. Wenn wir uns später einmal wieder zu Hause treffen, was hoffentlich der Fall ist, dann können Sie mich wieder nennen, wie Sie wollen.“

„Wenn Sie es nicht anders haben wollen, meinetwegen.“

„Ist Ihnen in der vergangenen Nacht viel verbrannt?“

„Gott sei Dank, nein. Meine Apparate befanden sich zum Glück noch an Bord. Nur meine kleine Medizinkiste und etwas Wäsche hatte ich an Land und konnte das glücklicherweise retten.“

„Es freut mich, das zu hören“, sagte Emil. „Jetzt aber erlauben Sie mir, Sie zu bedienen. Sie wollen doch essen? Bitte, keine Umstände, ich hoffe, wir verstehen uns doch?“

Der alte Mann lächelte.

„Sie müssen es einem eingefleischten Deutschen schon verzeihen, daß er sich von seinen alten Vorurteilen nicht so rasch losreißen kann. Aber Sie wünschen es so, lieber Emil, und so will ich mich fügen. Ja, ich möchte gern nachher etwas essen, denn ich hin fast noch nüchtern. Aber zuerst möchte ich Sie um Auskunft bitten. Es handelt sich um einen Mann, wohl einen Amerikaner, der im Parkerhaus wohnt oder sich vor dem Brand dort sehr häufig aufgehalten hat.“

„Mit dem größten Vergnügen, wenn ich ihn kenne. Haben Sie seinen Namen, oder können Sie ihn mir beschreiben?“

„Ich weiß nur, daß er Siftly heißt.“

„Siftly?“ sagte der Kellner erstaunt. „Was haben Sie denn mit dem zu tun?“

„Sie kennen ihn?“

„Allerdings. Er gehört zu der nichtsnutzigen Sorte amerikanischer Spieler, die schon jetzt der Fluch des Landes geworden sind. Er ist nicht ungebildet, aber schon in seinem Gesicht erkennt man seinen Hang zu allen Lastern der Welt. Er ist rücksichtslos bei der Verfolgung seines Zieles, viel Gold zu bekommen. Diese Küste wird er nur als reicher Mann wieder verlassen, und wenn er dazu rauben und morden muß.“

„Sie schildern ihn ja in sehr schwarzen Farben!“

„Ich schildere Ihnen aber nicht nur einen, sondern leider eine ganze Klasse von solchen Menschen, deren Repräsentant Siftly ist. Wenn Sie meinem Rat und meiner kalifornischen Erfahrung etwas glauben wollen, dann lassen Sie sich mit dem Mann in nichts ein, wozu Sie einen ehrlichen Menschen brauchen.“

„Kalifornische Erfahrung“, lächelte der Arzt gutmütig. „Wie lange sind Sie denn schon eigentlich im Lande?“

„Drei Monate“, lautete die Antwort. „Sie müssen aber wissen, daß unser Jahr hier nur einen Monat hat oder daß sich in Kalifornien die Erlebnisse eines Jahres in diese Zeit zusammendrängen. Wir leben hier entsetzlich schnell, und selbst die Zinsen werden nicht nach Jahren, sondern nur nach Monaten gerechnet. Kaufleute zahlen jetzt nicht selten schon zehn oder zwölf Prozent monatliche Zinsen für das Kapital, und sechs Prozent per Monat ist der niedrigste Zinsstand. Vermögen wird hier ja auch in Monaten oder sogar Wochen gewonnen und oft in Tagen oder Stunden verloren. Wer einmal fünf Jahre in diesem Land verbracht hat, kann sich einen Greis an Erfahrung nennen!“

„Sie mögen vielleicht recht haben“, stimmte ihm der alte Arzt zu. „Was ich schon in den vierundzwanzig Stunden meines Aufenthaltes erlebt und gesehen habe, bestätigt das vollkommen. Um Sie aber zu beruhigen, ich habe selbst nichts mit diesem Siftly zu tun. Einer meiner Reisegefährten ist aber sehr krank und verlangt nach ihm. Wenn er aber eine solche Persönlichkeit ist, wie Sie ihn beschrieben haben, will ich ihn auch nicht belästigen, sehen möchte ich ihn aber doch. Ist er hier im Zelt?“

„Gewiß, denn die Spieltische sind das Element, in dem er lebt. Er könnte genausowenig ohne das grüne Tuch und die Karten existieren wie ein Fisch ohne Wasser. Er kommt aber auch zum Essen hierher, weil er bei uns abonniert und vorausgezahlt hat. Wenn Sie noch etwas warten wollen, können Sie ihn nachher beobachten. Sonst gehe ich aber auch einmal mit Ihnen in das Spielzelt und suche ihn, nur ist das Gedränge eben sehr arg.“

„Noch habe ich Zeit“, sagte der Arzt. „Da ich auch etwas genießen muß, kann ich gleich beides verbinden. Bitte, lieber... Emil, bestellen Sie mir etwas zu essen.“ Der junge Mann verbeugte sich lächelnd, rückte dem Gast Teller, Messer, Gabel und Glas zurecht und verließ dann das Zelt, um sein Abendbrot zu besorgen.

Das Orchester war von der Speisetafel nur durch die dünne Leinwand getrennt. Es hatte ununterbrochen wüsten Lärm gemacht, den man allerdings nach einiger Zeit nicht mehr hörte. Betrat man erst den Raum, so klang es wie das schwere Klappern und Rauschen einer Mühle, das uns zuerst betäubt. Dann aber härtet sich das Gehör so dagegen ab, daß man keinen bestimmten Eindruck mehr davon wahrnimmt. Ja, man gewöhnt sich so stark daran, daß man nur lauter spricht, um von einem anderen gehört zu werden. Den Lärm vergißt man dabei ganz - bis er plötzlich schweigt.

So ging es Doktor Rascher. Er saß an dem Tisch und wartete auf sein Essen. Dabei dachte er an seinen Patienten Hetson, während dieses Chaos von wilden, schwirrenden und schmetternden Tönen sein Ohr erfüllte und betäubte, als die ‚Musik‘ ganz plötzlich und wie abgeschnitten schwieg. Erschrocken zuckte er von seinem Stuhl hoch und fühlte erst jetzt das Unangenehme des früheren Tobens.

„Gott sei Dank, daß es vorüber ist“, murmelte er leise vor sich hin. „Jetzt werden sie mich doch die paar Bissen ruhig essen lassen.“

Der leise zitternde Ton einer Violine antwortete ihm darauf. Er setzte fast so unmittelbar ein, wie die übrigen Instrumente schwiegen, und der Doktor rückte sich unwillig auf seinem Stuhl zurecht. Dieser Unwille in seinem Gesicht wich aber bald einem angenehmen Erstaunen, mit dem er dem Fortgang der Töne lauschte. Immer seelenvoller und mächtiger schwollen sie an, er hörte und sah nichts weiter um sich her und beachtete noch nicht einmal, daß Emil das Essen vor ihn hingestellt hatte und hinter seinem Stuhl stehenblieb. Das war auch ohne das leiseste Geräusch geschehen, und der Kellner schien selbst ganz verloren den schwermütigen Klängen des wunderbaren Instrumentes zu lauschen. Andere Gäste hatten inzwischen das Zelt betreten und Platz genommen - er bemerkte es gar nicht. Regungslos lauschten die beiden der süßen Melodie.

„Emil! Zum Henker, Emil!“ weckte ihn da eine rauhe Stimme aus seinen Wachträumen. „Sind Sie durch das Gefiedel da draußen so müde geworden, daß Sie im Stehen Ihren Mittagsschlaf halten? Was gibt’s heute zu essen? Ich habe einen Hunger wie ein Wolf und den ganzen Tag noch keinen ordentlichen Bissen über die Lippen gebracht!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gold