Über die Mietsschulmisere in Berlin

Über die Mietsschulmisere in Berlin schreibt der „Vorwärts“ u. a. folgendes:

In Berlin waren in dem eben zu Ende gegangenen Sommerhalbjahr 1907 von 283 Gemeindeschulen (und fünf Filialen) nicht weniger als 33 Schulen (und zwei Filialen) in gemieteten Häusern untergebracht. 27.609 Kinder steckten in diesen Mietsschulen (nach der Zählung vom 1. Mai), während die Zahl aller Gemeindeschulkinder sich auf 22.8362 belief. Es wurden also fast ein Achtel aller Gemeindeschulkinder in gemieteten Räumen unterrichtet. Die Mietsschulen liegen in den neueren Stadtteilen, deren Entwicklung unsere Schul Verwaltung „nicht voraussehen konnte“ : im Osten, Nordosten, Norden, Nordwesten.


Das Bedenkliche solcher Zustände ist oft nachgewiesen worden. Die Mietsschulhäuser sind fast ausnahmslos ganz gewöhnliche Wohnhäuser; nur in der Elbingerstraße sind zwei Schulen in einem gemieteten Hause untergebracht, das von vornherein für Schulzwecke eingerichtet wurde. In den meisten Mietsschulen sind die Unterrichtsräume klein, die Ventilationseinrichtungen sind unvollkommen, die Lichtzufuhr ist durch Nachbargebäude beeinträchtigt, die Treppen und Ausgänge sind schmal, die Korridore, die bei schlechtem Wetter als Wandelgänge dienen könnten, fehlen. In manchen dieser Mietsschulhäuser stecken so viele Kinder, dass man sich wirklich fragen muss, wie da bei Ausbruch eines Brandes, durch den etwa eine Panik unter den Kindern hervorgerufen wird, die Leerung der Klassenzimmer sich vollziehen würde. So finden wir im Hause Gethsemanestraße 4 eine Schule mit 1.168 Kindern, im Hause Greifswalder-Straße 207 eine Schule mit 1.267 Kindern, im Hause Litthauerstraße 6 zwei Schulen mit zusammen 1.348 Kindern. Das Haus Schönhauser Allee 108 beherbergt zwei Schulen mit zusammen 1.682 Kindern, aber nach den Michaelisferien wird in demselben Hause noch eine dritte Schule untergebracht, dann wird wohl die Zahl 2.000 überschritten werden. In der Lütticherstraße 5 ist sie längst überschritten worden, dort hausen schon jetzt zwei Schulen mit zusammen 2.213 Kindern. Es gibt Städte, die noch keine 2.000 Einwohner haben, in Berlin aber pfercht man über 2.000 Schulkinder in ein einziges Haus hinein.

Die Schulverwaltung hätte es verhüten können, dass das Übel der Mietsschulen so ausartete. Es war wirklich kein Kunststück, die Entwicklung des Viehhofsviertels, der Schönhauser Vorstadt, der Seestraßengegend, des westlichen Teils von Moabit, rechtzeitig vorauszusehen. Aber selbst da, wo man nichts mehr „vorauszusehen“ braucht, sondern auf eine bereits abgeschlossene Entwicklung zurückblickt, behilft die Schulverwaltung sich immer noch mit Mietsschulen. Viehhofsviertel, Schönhauser Vorstadt innerhalb der Ringbahn, Wedding nahe dem Bahnhof, Moabit — das sind ja Stadtteile, in denen die Bautätigkeit doch wahrlich nicht erst vor fünf oder zehn Jahren begonnen hat. Aber überall finden wir da noch eine Mietsschulmisere, die seit zehn Jahren, seit fünfzehn, zwanzig und mehr Jahren besteht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gesundheit und Erziehung 1908