Bericht über die Tätigkeit der Schulärzte in Magdeburg im Schuljahre 1906/07.

Dem außerordentlich instruktiven und lesenswerten Berichte sind folgende Angaben zu entnehmen:

Die schulärztliche Tätigkeit bewegte sich in den gewohnten Geleisen und gewinnt an innerer Festigkeit. Die Zuziehung der Mütter zu den Untersuchungen der Neuaufgenommenen findet allgemeine Anerkennung, nur sind die Eltern darüber enttäuscht, dass sich der Untersuchung keine Behandlung anschließt.


Gegenstand der Untersuchungen, die bei Hausbesuchen und in dem Sprechzimmer des Arztes, am meisten aber in den Sprechstunden in der Schule selbst ausgeführt wurden, waren die verschiedensten Krankheiten. Augen-, Ohren- und Nasenkranke werden den Spezialärzten überwiesen.

Für Schwimmkurse ausgewählt wurden 353 Kinder, für Stottererkurse 56, für Ferienkolonien 233, zum Gebrauch der Bäder in Elmen 72, für den Besuch von Heilstätten 12, dispensiert vom Turnen, Zeichnen und Handarbeitsunterricht 182.

Häufig wird, gestützt auf unkontrollierbare subjektive Beschwerden, Dispensation vom Turnunterricht nachgesucht, ohne dass tatsächlich der Gesundheitszustand ein solches Gesuch rechtfertigte. Als vorbeugende Maßnahmen bewähren sich: Abweisung, nur teilweises Dispensieren und Stellung unter besondere Beobachtung seitens des Lehrers oder der Lehrerin.

Ohren- und Nasenkrankheiten sind häufig Gegenstand der Untersuchung, doch fügen sich die Eltern selten dem ärztlichen Rate zur Behandlung oder Operation, und zwar in der Hauptsache aus Mangel an Geldmitteln.

Was die Augenkrankheiten anbelangt, so ist bemerkenswert der Widerstand gegen das Brillentragen, eine eigentlich natürliche Reaktion.

Im Jahre 1906/07 wurden im nördlichen Bezirk 387 Kinder untersucht. Bei 68 handelte es sich um Kontrolluntersuchungen wegen Kurzsichtigkeit, bei fast allen konnte das erfreuliche Resultat festgestellt werden, dass die Kurssichtigkeit unter konsequent durchgeführter Vollkorrektion so gut wie keine Fortschritte gemacht hatte.

Von den 288 neuangenommenen Schülern litten 38 an Kurzsichtigkeit, 145 an kurzsichtigem, übersichtigem oder gemischtem Astigmatismus, 43 an Schielen, 23 an chronischen und akuten Hornhauterkrankungen und 19 an entzündlichen Zuständen der Bindehaut.

Im südlichen Bezirk kamen 299 Kinder zum erstenmal zur Untersuchung. Von diesen litten an Kurzsichtigkeit 46, Übersichtigkeit 39, verschiedenen Formen von Astigmatismus 130, Akkommodationsstörungen 2, Schielen 33, Erkrankungen der Lider 20, Entzündungen der Bindehaut 45, Erkrankungen des Tränensacks 2, Hornhautentzündungen und Trübungen (40) 46, Regenbogenhautentzündungen 3, Erkrankungen der Linse, Aderhaut und des Sehnervs 7, Nystagmus 1.

Ale normal erwiesen sich 26.

Genaue Prüfungen des Gehörs wurden vorgenommen bei 98 Schülern im südlichen und 156 im nördlichen Bezirk. Als normal erwiesen sich im südlichen Bezirk 29 oder 30%, im nördlichen 85 oder 54,5%, in beiden Bezirken 114 oder rund 45%. Es waren also nur 45 % der Schüler fähig, dem Unterricht eines mit mittellauter Stimme sprechenden Lehrers zu folgen, ohne die Augen zu Hilfe zu nehmen.

Im Berichtsjahre wurde die Neuerung eingeführt, dass Schülern, die aus den Hilfsschulen abgehen, ein Zeugnis darüber ausgestellt wird, ob sich die Betreffenden zum Heeresdienst eignen.

Die sorgfältigen Untersuchungen des Zustandes der Zähne ergaben das missliche Resultat, dass über 75% der Schüler schadhafte Gebisse besitzen und dass die Zahn- und Mundpflege sehr im argen liegt. Belehrung der Eltern ist dringend nötig und auch die Frage der Notwendigkeit von Einrichtungen zur Behandlung der Zähne wird in den Berichten der Schulärzte gestreift.

Beachtenswerte Untersuchungen wurden von einem Schularzte auch in sozialhygienischer Richtung angestellt (Ernährung, Genussgifte, Schlafzeit, Erwerbstätigkeit usw.).

Es zeigte sich, dass von 742 Schülern 92 oder 12% kein Mittagbrot genossen, sondern sich im günstigsten Falle mit einer „Stulle“ und dünnem Kaffee begnügen mussten. Der Grund hierfür ist in dem Umstände zu suchen, dass die Eltern von früh bis spät außerhalb des Hauses ihrem Erwerb nachgehen, so dass niemand den Haushalt besorgen kann. 14% der 742 Kinder haben „alleinstehende“ Mütter, und gerade diese Kinder mussten regelmäßig einer Mittagsmahlzeit entbehren. Ca. 12 % der Schüler mussten auch auf ein warmes Abendbrot verzichten.

Von 742 Schülern genießen 651 öfters Alkohol und 760 gewohnheitsmäßig konzentrierte alkoholhaltige Getränke (Rum, Arrak, Liköre), namentlich zur Winterszeit mit Tee gemischt.

306 Schüler ergaben sich dem Rauchgenuss.

Bei der Untersuchung der Schlafzeiten zeigte sich ein Übelstand, der namentlich auch mit Bezug auf eine genügende Befriedigung des Schlafbedürfnisses in nachteiligem Sinne wirkte. Die Kinder schlafen häufig nicht allein in einem Bett. Von 742 Schülern schliefen 60 oder 6,7% zu dreien in einem Bett, 497 oder 67% zu zweien und nur 195 oder 26,3 % allein in einem Bett. Im allgemeinen hatten in sieben Klassen 326 Schüler zu wenig Schlafzeit, 26 trugen bereits am frühesten Morgen Zeitungen und Frühstück aus. Im Erwerbe tätig waren im ganzen 113 Schulkinder oder 16% aller Schüler. Neben den 26 bereits erwähnten betätigten sich 63 als Laufburschen für alle möglichen Berufe (Kofferträger, Theaterstatisten, Kegeljungen), 25 als Fliegentütenverkäufer.

Der Verdienst der Kinder betrug monatlich 3 — 6 Mark, der zum Teil gespart, zum größeren Teil aber wohl in Tabak, Alkohol und Leckereien angelegt wurde. Mit Recht wird auf die großen gesundheitlichen und sittlichen Schäden und Gefahren einer solchen Erwerbstätigkeit hingewiesen.

Der körperlichen Sauberkeit und Reinlichkeit wurde große Aufmerksamkeit geschenkt. 131 Kinder besaßen kein Taschentuch, 684 benutzten zum Einwickeln des Frühstücks Zeitungspapier, nur 210 Kinder badeten wöchentlich ein oder mehrere Male, 532 überhaupt nie, nur 77 (10 %) können schwimmen.

Erwähnt werden von besonderen Vorkommnissen und Krankheiten: körperliche Misshandlung durch den Lehrer, Simulation von Kopfschmerzen durch Mädchen, um von einer ängstlichen Lehrerin ins Freie geschickt zu werden (vielleicht eine begreifliche Reaktion gegen die viele Schulsitzerei).

In einer I. Klasse einer Mädchenschule trat die Zitterkrankheit auf. Es erkrankten im ganzen 14 Schülerinnen durch psychische Ansteckung. Durch Schluss der Klasse für einige Zeit und Ausschaltung der kranken Schülerinnen ebenfalls für längere Dauer konnte die Krankheit beseitigt werden.

Die Forderung der Schulleiter, welche eine natürliche Folge der Schularzteinrichtung ist, dass die Räte der Schulärzte durch den Magistrat in die Tat umgesetzt werden sollten, drohte für die Institution verhängnisvoll zu werden. Auch auf diesem Gebiete erstreckt sich somit die Fürsorge vielfach nicht über Worte hinaus. Vom Magistrat wurde betont, dass der Schularzt nur hygienischer Berater sei und nicht behandeln dürfe. Die kostenlose Behandlung erkrankter Kinder durch den Spezialarzt für Ohren- und Nasenleiden wurde abgelehnt. Die Ausstellung von Attesten für Heilstätten hat der Schularzt in seiner Eigenschaft als Armenarzt (!) zu besorgen.

Umfangreiche und gründliche Untersuchungen über die seitliche Rückgratsverkrümmung (Skoliose) machte der Spezialarzt für orthopädische Chirurgie, Dr. Kirsch. Untersucht wurden 518 Knaben und 497 Mädchen und es fanden sich 26,7% Skoliosen. Die Anschauung, dass die Schulskoliose mit einiger Regelmäßigkeit, sozusagen unaufhaltsam, zu schwerer Skoliose führe, bestätigt sich nicht. Die sieben Schuljahre liefern bei weitem nicht soviel schwere Skoliosen wie die sechs dem Schulbesuch vorangehenden.

Zwar nimmt der Prozentsatz der Skoliosen von 20,7 % bei den Neuaufgenommenen zu auf 30,4 % bei den Konfirmanden, und zwar von 19 % bei Knaben auf 21,4 % und von 22,3 % bei Mädchen auf 41,1 % ; wenn aber die schweren oder fixierten Skoliosen (Skoliosen II. und III. Grades) und die nicht fixierten leichten Skoliosen (I. Grades) besonders berücksichtigt werden, dann ergibt sich, dass 7,5 % der schweren Skoliosen bereits in die Schule eintreten und bis zur Entlassung bloß auf 8,6 % steigen, ja bei Knaben sogar von 7,2 % auf 6 % sinken und nur bei Mädchen von 7,8 % auf 11,6 % anwachsen.

Nur die nicht fixierten Skoliosen vermehren sich in der Schulzeit stärker, nämlich von 13,2 % auf 21,8 % (bei Knaben von 11,8 % auf 15,3 % bei Mädchen von 14,5 % auf 29,5 %).

Aus seinen Ergebnissen zieht Kirsch den Schluss, dass nicht etwa die große Mehrzahl der schweren Skoliosen des späteren Lebens bei einem geradegewachsenen Kinde unter dem Einflüsse des Schulsitzens entstehe, sondern dass fast nur die beim Schuleintritt schon wesentliche Veränderungen des Rückgrats aufweisenden Kinder die schwere Skoliose in das Leben hinausnehmen.

Für therapeutische Maßnahmen muss indessen immer beachtet werden, dass schwere Skoliosen sich im Verlaufe der Schulzeit aus Skoliosen I. Grades herausbilden können und deshalb der Berücksichtigung bedürfen.

Auf Grund der Prozentziffern berechnet Kirsch, dass absolut in den Magdeburger Schulen bei 21.894 Schulkindern 5.600 Skoliosen sich vorfinden werden, und zwar Skoliosen I. Grades 3.850, fixierte II. und III. Grades 1.750, darunter ganz schwere III. Grades 750.

Angesichts der großen Zahl von Skoliosen scheint dem Berichterstatter eine therapeutische Berücksichtigung sämtlicher Schüler mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden zu sein. Um für 5.600 Schüler orthopädische Turnklassen zu bilden, würden bei 30 Kursteilnehmern und drei wöchentlichen Behandlungsstunden 186 Turnklassen und ca. 660 wöchentliche Stunden nötig sein. Wie schon ausgeführt, müssen aber alle Skoliosen Berücksichtigung finden, weil nicht sicher nachweisbar ist, aus welchen Stadien die schweren Skoliosen sich herausgebildet haben, d. h. wie weit Skoliosen I. Grades in Betracht fallen.

Als Heilmittel führt Kirsch an: den Schulturnunterricht, den orthopädischen Schulturnunterricht, die Behandlung in orthopädischen Anstalten mit Gymnastik an besonderen Apparaten sowie mit orthopädischem Korsett und das Lagerungsbett.

Als eigentliche Aufgabe der Schule bezeichnet der Berichterstatter die Einrichtung des Schulturnunterrichts und des orthopädischen Turnens. Die Beschaffung von Lagerungsbetten und orthopädischen Heilmitteln für Unbemittelte will er der Armendirektion aufbürden.

Für Skoliosen III. Grades genügt nur eine eigentliche orthopädische Spezialbehandlung. In Magdeburg kommen ca. 766 solcher Skoliosen in betracht. Die betreffenden Kinder sollen auch den orthopädischen Turnunterricht in der Schule genießen. In dieser Hinsicht teilt Kiesch die Anschauung derjenigen nicht, die bei den schwersten Fällen auch die Anteilnahme am orthopädischen Turnunterricht in der Schule ausschließen wollen, weil Verschlimmerungen eintreten könnten. Er betont, dass, wenn die Kinder aus ökonomischen Gründen nicht in Anstalten behandelt werden können, schließlich der orthopädische Turnunterricht immer noch besser ist als der gewöhnliche Turnunterricht oder gar nichts.

Skoliosen III. Grades werden im orthopädischen Schulturnen genügend behandelt und für Skoliosen I. Grades ist das Schulturnen ausreichend, wenn nur durch ständige Überwachung die Möglichkeit gewahrt bleibt, eine Verschlimmerung des Zustandes rechtzeitig festzustellen. In den unteren Klassen, die keinen Turnunterricht haben, wären orthopädische Schulkurse einzuführen. Bei diesen unteren Klassen würde Kiesch auch mit der Einrichtung orthopädischer Turnkurse beginnen.

Am Schlusse enthält der Bericht eine Gesamtübersicht der Ergebnisse der Untersuchung der Schulkinder im Schuljahre 1906/07 in den städtischen Volksschulen und eine „Graphische Darstellung über das Resultat der Untersuchung von Schulkindern auf Skoliose“.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gesundheit und Erziehung 1908