Die körperliche Züchtigung der Schulkinder

Von Dr. med. Traugott Pilf-Blankenburg am Harz.

Ich habe oft Gelegenheit genommen, in Erfahrung zu bringen, welchen Standpunkt Eltern und Lehrer, auch Ärzte, der Frage der körperlichen Züchtigung der Kinder gegenüber einnehmen. In weitaus den meisten Fällen habe ich gefunden, dass die Genannten überhaupt keine Stellung zu dieser Frage genommen haben, die sich im allgemeinen für sie nach Sitte und altem Herkommen regelt. Sehr auffallend erschien es mir, dass auch gerade die Ärzte sich so verhalten; fast bei keinem fand ich ein wohlüberlegtes, durchdachtes Urteil, das durch Kenntnis der Tatsachen und der einschlägigen Literatur fest begründet gewesen wäre. Das Thema scheint den meisten Ärzten völlig fern zu liegen, besonders dann, wenn sie selbst keine Kinder haben. Es sollte dies nicht sein. Denn wie oft kommt zum Beispiel der Arzt in die Lage, sich über die seelischen und leiblichen Folgen der körperlichen Züchtigung in Schule und Haus äußern zu müssen, und deshalb sollte er sich entschieden über diese Frage klar sein; ob er sich dann für oder gegen die körperliche Züchtigung entscheidet, das mag ein jeder nach reiflicher Überlegung selbst verantworten.


Soviel ich weiß, wird auch von den festangestellten Schulärzten bei den Schulbesuchen kein Gewicht darauf gelegt, ob Schläge selten, häufig oder gar nicht verabfolgt werden. Vielleicht wäre es interessant, bei den Schulbesichtigungen Erkundigungen darüber einzuziehen, den Standpunkt des Lehrers kennen zu lernen und sich mit ihm darüber auszusprechen. Man könnte auch über den geistigen und körperlichen Zustand der Kinder, die am meisten geschlagen werden, besondere Ermittelungen anstellen und so vielleicht manches aufdecken, was sonst verborgen bleibt.

Ich erinnere mich an einen recht bezeichnenden Fall gelegentlich einer Schulbesichtigung im Osten.

Auf meine Frage an den Dorfschullehrer, ob er schwerhörige Kinder in seiner stark besetzten Klasse habe, erhielt ich eine verneinende Antwort. Auch meine Frage an die Kinder selbst blieb erfolglos. Ich tat bald danach die Frage an den Lehrer, ob der Stock häufig in Tätigkeit käme. Der Lehrer antwortete halb stolz, halb verlegen, dass er dieses „Erziehungsmittel“ allerdings sehr häufig anwenden müsse, da er sonst nicht „durchkäme“. Ich fragte weiter, wer dann am häufigsten Schläge bekäme; er zeigte auf einen stämmigen polnischen Jungen mit der Bemerkung, der Junge sei so schwerfällig und verstockt und gleichgültig, dass er fast jeden Tag durch eine „tüchtige Tracht“ aufgeweckt werden müsse. Ich untersuchte den so überaus bevorzugten Jüngling und fand bald — um es kurz zu machen — dass er ausgesprochen schwerhörig war, wodurch seine Schwerfälligkeit, seine Verstocktheit und seine Gleichgültigkeit sogleich in einem andern Lichte erschienen. Weder er noch der Lehrer hatten von der bestehenden Harthörigkeit eine Ahnung, und ich glaube nicht, dass die Sache sonst offenbar geworden wäre; nur durch meine Frage wurde er schließlich von seiner täglichen Tracht Schläge erlöst. Er wurde sogleich in die Nähe des Lehrers gesetzt.

Den sehr ernsten Hintergrund dieses Falles kann sich jeder selbst malen.

In meinen nachfolgenden Ausführungen werde ich nicht selten Gelegenheit haben, ein Buch von Ellen Key zu erwähnen und mich darauf zu berufen. Es ist eines der Bücher jener schwedischen, hochherzigen und feinsinnigen Frau, deren Werke die höchste Verdammung und den stärksten Beifall gefunden haben. Dieses Buch heißt: „Das Jahrhundert des Kindes“ (Verlag von S. Fischer in Berlin.) Man mag über dieses Erziehungsbuch denken wie man will, leicht und ohne Nachdenken wird und darf keiner, der es liest, darüber hinwegkommen. Man braucht nicht alles zu unterschreiben, man braucht dieser Frau nicht in allem zu folgen, man kann und wird sehr oft die Empfindung haben, dass die Verfasserin in echt weiblicher Weise vielfach nicht fähig ist, ihre Gedanken logisch und richtig zu Ende zu denken und die nötigen Folgerungen zu ziehen; man braucht nicht alle ihre Überschwänglichkeiten mitzumachen, aber der hohe sittliche Ernst, die heilige Begeisterung und das reine Feuer der Menschenliebe, besonders der Liebe zum Kinde, das alles nötigt uns die höchste Achtung ab und zwingt uns, das Buch mit der größten Gewissenhaftigkeit zu lesen und mit der höchsten Gerechtigkeit zu beurteilen.

Ich will vorwegschicken, dass Ellen Key jede körperliche Züchtigung eines Kindes für überflüssig und schädlich erklärt und vollständig verwirft, und dass ich, ohne ihre Übertreibungen zu billigen, auf demselben Standpunkte stehe. Niemand kann leugnen, dass Ellen Keys Ausführungen überzeugend sind und auf festen Füßen stehen. Darum lese ein jeder dieses Buch!

Einem jeden von uns ist folgendes bekannt:

Die körperliche Züchtigung der Soldaten, die sogenannte Soldatenmisshandlung, erweckt mit Recht fortgesetzt das größte Missfallen bei jedermann; sie ist streng verboten. Der Soldat darf und soll nicht geschlagen werden, und niemand behauptet, dass die Disziplin gelitten habe, dass unser Heer minderwertiger geworden sei, seitdem die Prügelstrafe abgeschafft und jede Züchtigung und Handgreiflichkeit verboten wurde. Im Gegenteil, unsere Armee steht dadurch sittlich höher und ist viel leistungsfähiger und zuverlässiger geworden. Jeder Offizier und Unteroffizier, der sich so in der Gewalt hat, dass er seine Untergebenen nicht schlägt, steht vornehmer und ehrenhafter da, als ein Vorgesetzter, der sich zu Misshandlungen hinreißen lässt.

Wenn ein „ungebildeter“ Unteroffizier im Zorne einem Soldaten eine Ohrfeige gibt, so wird er wegen „Soldatenmisshandlung“ bestraft. Wenn ein „gebildeter“ Lehrer im Zorn oder ohne Zorn einem Kinde eine Ohrfeige gibt, so nennt man das nicht „Kindermisshandlung“, sondern ein berechtigtes „Erziehungsmittel“.

Worin liegt der Unterschied?

Ein robuster, gesunder Soldat kann seelisch und körperlich eine Züchtigung viel besser ertragen als ein Kind, das im Vergleiche zu einem Soldaten immer zart und schwach ist, auch wenn es an und für sich noch so kräftig ist. Ein Kind ist ein unfertiger Organismus, auf den Züchtigungen stets einen nachhaltigen Einfluss ausüben. Dagegen scheinen manche anzunehmen, ein Kind habe eine Seele aus Gummi oder aus Stein, und eine Haut aus Nilpferdleder. Wenn man Ruhe, Geduld und Selbstbeherrschung von einem Unteroffizier verlangt, warum verlangt man sie nicht auch von einem Lehrer gegen seine Schüler, von einem Vater gegen seine Kinder?

Ein Anderes: Unsere Ehrbegriffe sagen mit Recht, dass ein Schlag, der einem Manne zugefügt wird, eine der schwersten Beleidigungen ist, die ihm angetan werden kann; eine Ehrenkränkung, die nur mit Blut abgewaschen werden kann, ein zwingender Grund zum Zweikampfe. Hat denn ein Kind keine Ehre? Soll es etwa keine Ehre haben? Wie soll ein Knabe, der fortwährend gestoßen oder geprügelt wird, das mit seinem kindlichen und später mit seinem männlichen Ehrbegriffe vereinigen? Meint man wirklich, ein Knabe oder ein Mädchen brauche noch keinen Ehrbegriff zu kennen? Von welchem Lebensalter an wird denn in diesem Falle ein Ehrbegriff vorgeschrieben? Etwa vom 14., 16., 18. Jahre an oder wann? Ich meine, wir können unseren Kindern einen festen Ehrbegriff nicht früh genug einpflanzen. Niemand, der wirklich ernsthaft darüber nachdenkt, wird meine Ausführungen übertrieben oder sentimental finden.

Verbrecher und Übeltäter aller Art werden nicht mehr geprügelt; die Tortur und alle andern körperlichen Strafen sind als barbarisch und roh längst in den Gefängnissen und Zuchthäusern abgeschafft, aber unsere Blinder werden fleißig weiter geschlagen. Ihnen werden noch durch Prügel Geständnisse abgepresst, sie will man durch die körperliche Züchtigung bessern, ihnen will man Kenntnisse, Achtung und Gehorsam einbläuen. Das hält man nicht für inhuman, und dabei wird nicht von mittelalterlichem Standpunkte und finsterer Reaktion gesprochen. Die Kinder, deren zarte Körper und Seelen die höchste Schonung und die liebevollste, geduldigste Pflege verdienen, die darf man prügeln. Das gilt nicht als Misshandlung. Von Misshandlung ist erst dann die Rede, wenn dicke rote Striemen zu sehen sind und wenn ein deutlich bemerkbarer, grober körperlicher Schaden eingetreten ist. Was das Kind aber unsichtbar am Körper leidet, was es in seiner zarten Seele empfindet, das bleibt ohne Berücksichtigung.

Es gibt in vielen Städten Vereine, die dafür sorgen, dass die Schulkinder während der Schulzeit Milch und Brötchen erhalten; das ist sehr lobenswert. Vereine, die dafür sorgen, dass unsere Schulkinder nicht geprügelt werden, sind ebenso notwendig.

Frauen, Gattinnen zu schlagen, gilt mit Recht für entehrend und entwürdigend, für niedrig und gemein. Dienstboten zu züchtigen, scheut sich aus mancherlei Gründen ein jeder. Nur unsere Kinder sind vogelfrei; ihnen kann man alles bieten. Das verstehe, wer kann. Ich verstehe es nicht, dass Erwachsene, Soldaten und Verbrecher mehr Schonung verdienen und mehr Ehre im Leibe haben sollen als unsere Kinder. Wenn wir doch nun einmal „human“ gegen jedermann sein sollen und wollen, warum sind wir es denn nicht gegen unsere Kinder? Warum werden sie von den Fortschritten der Kultur, der Humanität, in bezug auf die Prügelstrafe ausgeschlossen?

Glaubt man denn wirklich, dass Kinder kein Ehrgefühl haben? Es soll tatsächlich Lehrer und Väter geben, die da glauben, durch Prügel das Ehrgefühl der Kinder wecken zu können!

Ellen Key sagt mit Recht, dass das Seelenleben des Kindes in bezug auf ein verfeinertes Empfinden des Leidens dieselben Fortschritte gemacht hat, wie das des erwachsenen Menschen und fährt dann fort:

„Die zahlreichen Kinderselbstmorde in den letzten Jahrzehnten sind oft grade aus Furcht vor einer körperlichen Züchtigung oder nach einer solchen geschehen, und die Seele leidet in ebenso hohem Maße wie der Körper unter derselben. Wo dies nicht der Fall ist, sind Schläge noch gefährlicher, denn da tragen sie nur dazu bei, das Schamgefühl noch weiter abzustumpfen, und die Brutalität oder die Feigheit des Gestraften zu erhöhen! In einer Schule hörte ich einmal von einem Kinde sprechen, das in jeder Beziehung so abschreckend sei, dass man sich darüber einigte, eine „Tracht Prügel“ könne ihm nur gut tun — bis man erfuhr, dass die Schläge des Vaters es zu dem gemacht hatten, was es war! Und wenn man eine Statistik über die verlorenen Söhne anstellte, wären der Verprügelten gewiss viel mehr als der Verzärtelten.“

Wir legen uns jetzt die Frage vor: Aus welchen Gründen und in welcher Absicht schlägt der Erzieher das Kind?

Es gibt Erzieher, die die Kinder mit voller Ruhe, mit vollem Bewusstsein schlagen und in den Schlägen ein sicheres Erziehungsmittel zu sehen glauben; sie tun es oft sogar ungern, es bereitet ihnen selbst Pein, aber sie glauben, es den Kindern gewissermaßen schuldig zu sein; sie prügeln aus Überlegung und aus Pflichtgefühl. Diese Beweggründe sind einigermaßen verständlich und entschuldbar. Aber ich fürchte, häufiger geschieht die Züchtigung aus weniger entschuldbaren Beweggründen. Vielfach wird mit den Gefühlen des Zornes, der Rache, der beleidigten Eitelkeit, der Gereiztheit, der schlechten Laune geschlagen. Wer prügelt, befindet sich fast immer in einem erregten Zustande, im Ärger, in Wut gegen das Kind. Und diese Erregtheit lässt er vielfach blindlings an dem Kinde aus. Hand aufs Herz, ihr Lehrer, ihr Väter, wie steht es damit?

Das Kind hat irgend eine Dummheit gemacht, oder es ist faul gewesen. Man ärgert sich darüber und verabfolgt ihm im Zorn eine Tracht Schläge. Nachdem man seine Wut an dem Kinde ausgelassen hat, tut es einem oft selbst leid, und man glaubt selbst nicht, dass man sein Kind dadurch gebessert hat. Bei Tische wirft das Kind eine Tasse, einen Teller um, wie das auch Erwachsenen begegnen kann. Man wird zornig über die vermeintliche Nachlässigkeit oder Ungeschicklichkeit und lässt seinen Zorn in einer sogleich verabreichten Ohrfeige aus. Bekommen Erwachsene wegen ihrer vielfachen Ungeschicklichkeiten Ohrfeigen? Glaubt man, dass ein Kind dadurch Geschicklichkeit lernt, wenn man es ohrfeigt? Will man das wirklich Erziehung nennen ?

Man verlasse sich darauf: das Kind wird je nach seiner Veranlagung verstockt und widerspenstig, gleichgültig oder rachsüchtig, verschlossen oder gehässig gegen den sogenannten Erzieher und gegen andere, oder es wird ängstlich, verschüchtert, zaghaft und unselbständig.

Allerdings, es ist ja so bequem, dieses „Erziehungsmittel“. Ein Schlag oder eine Reihe von Schlägen, und man glaubt sein erzieherisches Gewissen beruhigt zu haben. Dem vermeintlichen Recht ist Genüge geschehen, die Schuld ist gesühnt, die Vergeltung ist eingetreten. Wie unbequem, wie langweilig dagegen die ewigen Ermahnungen und Vorhaltungen! Dass es übrigens viel bessere Erziehungsmittel gibt, als Ermahnungen und Reden, das gehört nicht hierher. Wer aber Kinder erziehen will, der soll sich, ebenso wie bei jeder andern Arbeit und verantwortungsvollen Pflicht, nicht von Rücksichten auf Bequemlichkeit leiten lassen!

Wie unsinnig die körperliche Züchtigung ist, sagt schon im Bilde Comenius, wenn er einen Erzieher, der prügelt, mit einem Musiker vergleicht, der sein ungestimmtes Instrument zornig mit den Füßen bearbeitet, anstatt Ohr und Hand zu gebrauchen, um es zu stimmen.

Und Ellen Key sagt: „Seit man entdeckt hat, dass man mit seelischen Mitteln auf die Seelen wirken kann, sind Prügel ebenso erniedrigend für den, der sie austeilt, wie für den, der sie empfängt. Die Anwendung von Schlägen demoralisiert und verdummt den Erzieher, weil sie seine Gedankenlosigkeit steigert, nicht seine Intelligenz; seine Brutalität, nicht seine Geduld.

Und in der Tat, was ist das für eine Logik, wenn so mancher Erzieher sagt: Du hast mich geärgert, du kommst mir nicht mit der gebührenden Achtung entgegen, also räche ich mich und schlage dich, denn ich bin stärker wie du!

Glaubt man wirklich, dass man sich mit solch rachsüchtigem Gebaren und mit roher Gewalt Achtung erringt und seine Stellung verbessert? Das Band wird einen derartigen Erzieher immer mehr und mehr verachten; es wird ihn hassen lernen, denn es hat ein sehr feines Gefühl, ein zartes Empfinden für so etwas.

Liebe und Achtung erwirbt man sich nicht mit Prügeln. Aber nur der Lehrer und Erzieher, der sich Achtung und Liebe bei den ihm anvertrauten Kindern erwirbt, ist ein wirklicher Lehrer und Erzieher. Oder sollte wirklich jemand behaupten, dass dieser Standpunkt zu ideal sei, dass man die Kinder nur durch Furcht im Zaume halten und nur durch Angstmittel erziehen könne? Dann bedauere ich Erzieher und Kinder in gleicher Weise. Beim Erwachsenen gilt die Furcht als etwas schimpfliches und verächtliches, aber unsere Kinder sollen sich vor ihren Erziehern und allem möglichen fürchten, und wenn sie es noch nicht tun, wird ihnen die Angst eingeprügelt. Ich halte das für einen niedrigen und unmoralischen Standpunkt. Außerdem ist es feige, ein wehrloses Kind zu schlagen, das viel schwächer ist wie wir, und wer da sagt, er müsse ein Kind aus Liebe schlagen, der betrügt sich selbst, und ich sage ihm, dass es andere Mittel gibt, dem Kinde seine Liebe zu beweisen.

Durch Schläge wird ein Kind niemals wirklich gebessert; seine schlechten Eigenschaften werden vielleicht für einige Zeit äußerlich unbemerkbar, aber sein innerstes Wesen wird dadurch nicht umgeändert. Es wird zur Heuchelei, zur Lüge und Verstellung erzogen, und bei der nächsten Gelegenheit, wenn die Furcht vor der Züchtigung in Wegfall kommt, treten die schlechten Eigenschaften in verstärktem Maße hervor.

Liebe kann niemand durch Prügel einflößen, kein Kind lernt das Gute lieben dadurch, dass es geprügelt wird, kein Kind lernt die Wahrheit lieben, wenn es für eine Lüge geschlagen wird. Und der Hauptgrundsatz aller Sittlichkeit, dass man das Gute tun soll, weil es gut ist, und nicht aus Furcht vor Strafe oder in der Hoffnung auf Belohnung, kann doch unseren Kindern nicht früh genug eingeprägt werden.

In der Erziehungsfrage tritt die Tatsache hell an das Licht, dass es eine doppelte Moral gibt, meist strenge für das Kind, meist nachlässig für den Erwachsenen; oft ist es auch ungekehrt Warum behandelt und betrachtet man das Kind hierbei nicht ebenso wie den Erwachsenen?

„Dass auch Menschen, die in anderer Beziehung denkend und fühlend sind, Prügel noch immer verteidigen, kommt daher, dass den meisten Erwachsenen und Erziehern die elementarste Voraussetzung für ihre Aufgabe fehlt: nämlich die eigenen Gefühle und Eindrücke ihrer Kindheit bei jedem Eingriffe in das Dasein eines Kindes gegenwärtig zu haben. Sich nicht zu erinnern, wie man selbst als Kind fühlte, die Gefühle des Kindes von seinem eigenen jetzigen Gesichtspunkte, die Dinge zu betrachten, aufzufassen — das ist nicht nur der häufigste, sondern auch der gefährlichste der unzähligen Missgriffe bei der Behandlung von Kindern. Der Erwachsene lächelt in der Erinnerung über die Strafen und anderen Dinge, die ihm in seiner Blindheit angstvolle Tage und Nächte bereiteten, die stumme Herzensqual des Kindes verursachten, seine grenzenlose Verzweiflung, seine brennende Empörung, seine einsamen Tränen, sein gekränktes Rechtsgefühl, die entsetzlichen Ausgeburten seiner Phantasie, seine wahnwitzige Scham, seinen unbefriedigten Freude- oder Freiheits- oder Zärtlichkeitsdurst. Und in Ermangelung dieses guten Gedächtnisses begehen die Erwachsenen stets aufs neue das Verbrechen, der neuen Generation die Kindheit zu zerstören, die einzige Zeit im Leben, in der der Erzieher wirklich eine glückspendende Vorsehung sein könnte!“ Etwas überschwänglich in der Form, wie E. Key überhaupt schreibt, aber im Inhalte wahr.

Über die Wirkung der Schläge sagt Ellen Key ferner:

„Wo Prügel von einer schlechten Gewohnheit, einem Fehler abschrecken, ist ein wirklich ethisches Resultat nicht erzielt. Das Kind hat nur gelernt, eine unangenehme Folge zu fürchten, der der wirkliche Zusammenhang mit der Sache selbst fehlt, eine Folge, die, wie es wohl weiß, hätte ausbleiben können, und diese Furcht ist himmelweit verschieden von der Überzeugung, dass das Gute besser sei als das Böse! Da die Unannehmlichkeit keine naturnotwendige Folge der Handlung ist, kommt das Kind nämlich bald zu der Erkenntnis, dass, wenn es sich nur schlauer beträgt, es den Prügeln entgehen kann, und so steigern die Prügel die List, ganz gewiss aber nicht die Sittlichkeit. Die Höllenlehre und die Höllenfurcht zeigen in der Geschichte der Menschheit, was für eine Art Sittlichkeit Schläge — die Hölle der Kinder — in der Kindesseele hervorrufen können. Nur indem man mit äußerster Mühe, langsam, unmerklich die Überzeugung von dem Vorzug des Guten aufbaut, - als glückbringender für das Individuum selbst, sowie für seine Umgebung — lernt das Kind das Gute lieben; nur indem man das Kind lehrt, dass Strafen selbst heraufbeschworene Folgen sind, lernt es, deren Ursachen auszuweichen.“

„Schläge rufen die Tugenden des Sklaven, nicht die des freien Menschen hervor.“

Wo ist nun dagegen die Vorzüglichkeit des Züchtigungssystems? Wo sind die guten Folgen? Warum laufen so viele Lumpen und Verbrecher auf der Erde umher? An Prügel hat es denen doch in ihrer Jugend sicher nicht gefehlt.

Nach Ellen Key sind „mangelnde Selbstzucht, mangelnde Intelligenz, mangelnde Geduld und mangelnde Würde“ die vier Ecksteine, auf denen das Prügelsystem beruht, und dieser Ausspruch wird sich kaum widerlegen lassen.

Ich kann mir kaum einen Fall denken, bei dem man wirklich gezwungen sein könnte, ein Kind mit dem beabsichtigten oder überhaupt mit gutem Erfolge zu schlagen. Unsere Vorfahren, die alten Germanen, hielten es für entehrend für die Kinder und die Erzieher selbst, ihre Kinder zu schlagen, und es scheint eine Tatsache zu sein, dass erst durch das Christentum, durch die Grundsätze der Reue und körperlichen Buße, der körperlichen Peinigung und Misshandlung (Selbstgeißelung!) die schlimme Sitte in unser Volk gekommen ist.

Ich halte es nicht für nötig, meine Betrachtungen noch weiter auszudehnen, obwohl ich noch viele Seiten füllen könnte; jeder Leser wird wissen, worauf es ankommt, und er wird Stellung hierzu nehmen können. Es genügt mir, die Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt zu haben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gesundheit und Erziehung 1908