Die jüdischen Ärzte in Frankreich

Die Schicksale der jüdischen Ärzte in Frankreich hatten wir bis zum vierzehnten Jahrhunderte einschließlich verfolgt. Das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert sind in der französischen Geschichte von kriegerischen Ereignissen erfüllt. Die Kämpfe mit England, der sogenannte englisch-französische Erbfolgekrieg von 1328 — 1360, hatten diese Periode bereits eingeleitet; die Wirren im eigenen Lande und der Bürgerkrieg unter der Regierung des geistesschwachen, schließlich wahnsinnigen Königs Karl VI., welche das Land an den Abgrund führten, waren gefolgt, und dann waren von neuem Feindseligkeiten mit England ausgebrochen, Karl VIII. und Ludwig XII. unternahmen später Feldzüge nach Italien, die wenig glücklich für die Franzosen waren, und Franz I. lag mit Kaiser Karl V. in hartem Kriege. Die zweite Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts ist durch die Hugenottenkriege und die Bluthochzeit genügend gekennzeichnet. Was die französischen Juden in diesen unruhigen Jahrzehnten anlangt, so hatte 1394 die französische Geistlichkeit von neuem eine Verbannung derselben aus dem Lande bewirkt; ihre Güter aber wurden als Staatseigentum einbezogen, Als dann Ferdinand und Isabella die Juden aus Spanien vertrieben hatten. König Emanuel aber aus Portugal, fanden einige Vertriebene in Frankreich ein Obdach; damals regierte Karl VIII., der letzte Fürst aus der älteren Linie der Valois (1483—1498).

In dieser Zeit finden wir zu Arles als Arzt Pierre de Notre-Dame, der von der Stadt besoldet wurde; wie es in Spanien Brauch gewesen war, bereitete er seine Medikamente selbst zu. Dieser Umstand veranlasste die Apotheker, die sich durch ihn geschädigt fühlten, so lange gegen ihn zu intrigieren, bis ihn die Stadt seines Amtes entsetzte. Pierre de Notre-Dame trat in den Dienst des Herzogs von Calabrien, und dieser übersandte ihn später seinem Vater, dem König René, der ihn sehr hochschätzte. Den Namen Pierre de Notre-Dame nahm dieser jüdische Arzt erst in vorgerückteren Jahren an, als er sich taufen ließ; seinen jüdischen Namen kennt man nicht. Er wurde der Stammvater der berühmten Familie Nostradamus. Unter König René lebte auch Doktor Abraham Salomon, der sich so hoher Gunst erfreute, dass er von jeglicher Steuer frei erklärt wurde.


Ein Franzose von Geburt (aus Marseille) war Jakob Proncal; er kam 1490 nach Neapel und verfasste dort eine Abhandlung über das Studium der Wissenschaften, besonders der Heilkunde.

Die Gastfreundschaft Frankreichs war nur eine kurze, und wir haben bereits erfahren, dass der in Frankreich geborene Bonet de Lates, der nachmals in Italien zu so hoher Berühmtheit gelangte, 1498 ein Opfer der Judenvertreibung in Montpellier geworden ist. Nur in Avignon, wo das Herrscherwort der Päpste noch immer galt, durften sich um die Wende des fünfzehnten Jahrhunderts noch Juden aufhalten, und unter diesen befanden sich auch Ärzte. Zu Pernes, einem kleinen Orte bei Jarpentras, lebte der gelehrte Josef Kolon, ein fleißiger Übersetzer Medizinischer Texte ; seine Übersetzungen sind nicht veröffentlicht worden. Sein Zeitgenosse war Jehuda ben Salonon. In Avignon selbst wirkten Mordochai Nathan, Meister Nathan und Josef de Noves; Mordochai Nathan verfasste Randbemerkungen zu Rabbi Meirs Werken. Einzelheiten über Lebenslauf und Schaffen dieser Ärzte sind nicht bekannt.

Dann müssen aber die jüdischen Ärzte dank der andauernden Verfolgungen in Frankreich vollkommen ausgestorben sein. Jedenfalls musste Franz I., der von 1515 bis 1547 regierte, als er, schwer erkrankt durch die Aufregungen seiner unglücklichen Kriege, wie durch sein ausschweifendes Leben, die Hilfe eines jüdischen Arztes wünschte, diese außerhalb seines Landes suchen. Er ging seinen ehemaligen Gegner, den deutschen Kaiser Karl V., darum an; dieser sandte ihm einen Arzt. Weil ihn aber Franz für einen Christen hielt, sandte er ihn, ohne sich untersuchen zu lassen, nach Deutschland zurück 29) und berief durch Vermittlung seines türkischen Gesandten einen jüdischen Arzt aus Konstantinopel. Der französische König erkannte, dass ihm mit Recht die jüdischen Ärzte als die tüchtigsten seiner Zeit gerühmt worden waren; denn der Arzt aus der Türkei verordnete Eselinnenmilch, und Franz I. genas. Seitdem wurde der Gebrauch dieser Milch ein allgemeiner in Frankreich, und er verbreitete sich von diesem Lande über Europa.

Trotzdem sind jüdische Ärzte in Frankreich im sechzehnten Jahrhunderte eine seltene Erscheinung geblieben, weil den Juden die Kultusfreiheit nicht gewährleistet ward. Um so ehrenvoller ist die Laufbahn des Ely Montalto. Einer portugiesischen Emigrantenfamilie entsprossen, war er nach Italien gekommen und hatte dort voll Eifer Medizin studiert. Sein Ruhm als Arzt drang bald nach Paris, und Königin Maria (aus dem Hause Medici) bestellte ihn als ihren Leibarzt. Montalto war charaktervoll und nahm diese Auszeichnung nur an, nachdem ihm die volle Freiheit der Religionsübung verbrieft worden war. Heinrich IV., der erste Bourbone auf Frankreichs Thron, bewilligte diese Bedingung für ihn und seine ganze Familie; er gewann ihn in der Folge lieb und wert, und als Beweis der rührenden Fürsorge des Königs für Montalto erzählt man, Heinrich IV. habe, so oft der Leibarzt Freitags außerhalb der Stadt Kranke zu besuchen hatte, durch Vorspannpferde dafür Sorge tragen lassen, dass er vor Sonnenuntergang, also vor Sabbathanfang, in seine Behausung zurückkam. Als Montalto sodann 1615 zu Tours starb (der königliche Hof war damals auf der Reise nach Spanien zur Feier der Vermählung Isabellas von Bourbon mit Philipp IV. begriffen), ließ die Königin seinen Leichnam einbalsamieren und nach Holland überführen, damit er auf einem jüdischen Friedhofe sein Grab finde; dieser Leichentransport währte vom Oktober 1615 bis Mitte Februar 1616. Durch zwei Abhandlungen, die 1614 in lateinischer Sprache erschienen sind, machte sich dieser Arzt in weiteren Medizinischen Kreisen bekannt, während ein philosophisch-theologisches Werk von ihm in der Sprache seiner Heimat, also portugiesisch, geschrieben worden ist. Montaltos Sohn Isaak war gleichfalls Arzt; aus einer Bemerkung desselben in einem von ihm veröffentlichten Werke geht hervor, dass Ely Montalto nach Heinrichs Ermordung 1610 auch Arzt und Ratgeber Königs Ludwig XIII war, der unter Vormundschaft seiner Mutter Maria als neunjähriger Knabe den Thron ererbte.

29) Cabanis, Révolution de la médecine, page 128, citiert von Carmoly.

Auch Montaltos Gunst wurde nicht verallgemeinert. Denn Orobio de Castro, welcher um die Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts an der Universität zu Toulouse medizinische Vorlesungen hielt, war als Scheinchrist nach Frankreich gekommen. Er war, wie Montalto, Portugiese von Geburt; seine Eltern hatten das Christentum angenommen, um den Bedrückungen zu entgehen, sie erzogen aber ihren Sohn als Balthasar insgeheim als Juden. Orobio oder Balthasar de Castro studierte zu Salamanka und vertiefte sich in die Lehren der Scholastik und Metaphysik; in diesen Disziplinen unterrichtete er später an der Universität. Erst dann begann er Medizin zu studieren und wurde ein gesuchter praktischer Arzt in Sevilla. Hier machte er sich aber der Ketzerei verdächtig und wurde verhaftet. Drei Jahre suchten die Vertreter des Rechts unter Anwendung bestialischer Folterqualen dem unglücklichen Manne das Geständnis, dass er Jude sei, zu erpressen; aber, so oft er auch den Tod vor Augen sah, Orobio de Castro blieb standhaft und musste der Freiheit zurückgegeben werden. Doch wandte er diesem barbarischen Lande den Rücken und kam eben nach Toulouse. Obgleich er höchste Achtung gewann und den Titel eines königlichen Rates verliehen bekam, konnte er dennoch nicht wagen, sich als Juden zu bekennen. Dieser Heuchelei überdrüssig, warf er Amt und Ehren fort und ging nach Amsterdam, wo er öffentlich als Jude leben durfte. Er gewann hier rasch eine so ausgedehnte Praxis, dass er zu wissenschaftlicher Betätigung wenig Zeit fand. Nur die Bekämpfung Spinozas (1684) und seine Religionsdispute über das Judentum mit dem christlichen Theologen Philipp von Limburg (1686) fallen in diese Zeit.

Aus früherer stammen zahlreiche philosophische nnd theologische Schriften, teils lateinisch, teils spanisch geschrieben. Orobio de Castro starb zu Amsterdam 1687.

In die letzten Lebensjahre dieses jüdischen Arztes fällt die Geburt Johanns Baptists von Silva zu Bordeaux (1686), des Sprossen einer der gelehrtesten jüdischen Familien Portugals, aus deren Schoß zahlreiche Ärzte vor und nach Jean-Baptiste hervorgingen. Auch sein Vater erzog ihn zum Arzte und ließ ihn in Montpellier studieren. Kaum neunzehn Jahre alt, errang er sich den Doktorhut der dortigen Medizinischen Fakultät und wurde bald darauf Assistent bei Helvetius, der durch den Verkauf der von ihm geheim gehaltenen Ipecacuanhawurzel an Ludwig XIV. bekannt ist und sich um die Einführung dieses Medikamentes verdient gemacht hat. Sein Ruf wuchs so, dass er wiederholt zu dem kranken König Ludwig XV. (1721) berufen und schließlich 1724 zu seinem Consiliararzt ernannt wurde. Ja, selbst im Auslande war sein Ruhm bekannt. Der Kurfürst von Bayern Karl, nachmals Kaiser Karl VI. von Deutschland, berief ihn zu sich nach München; die Kaiserin Anna, von Russland die von 1730 — 1740 regierte, trug ihm sogar 1738 die Leibarztstelle an ihrem Hofe an. Jean-Baptiste de Silva schlug sie aus, und sein dankbarer König verlieh ihm das Adelspatent. Auch Louis Henri von Bourbon, Prinz von Conde, erwählte ihn zu seinem ersten Arzte. Voltaire sagt in seinem Siecle de Louis XIV., dass Jean Baptiste de Silva ein gefeierter Arzt war, einer von denen, die Moliere nicht zu verspotten gewagt hat. Schriftstellerisch bewährte er sich in seinem Traite de l'usage de difterentes saignees, principalement de celle du pied, gedruckt 1727 in Paris, 1729 in Amsterdam; er sucht darin zu beweisen, dass jeder Aderlass ableitend und blutreinigend wirkt. Ferner erschienen in drei Bänden (1741, 1744, 1755) Dissertations et Consultations de MM. Chirac 30) et Silva; die Veröffentlichung besorgte Bruhier und fügte ein Memoire pour servir à la vie de Silva hinzu. Jean-Baptiste de Silva starb im August 1742.

30) Chirac war gleichfalls Arzt Ludwigs XV. und ist bekannt als derjenige, der zuerst den Plan zu einer Gründung einer Medizin und Chirurgie umfassenden Akademie in Paris fasste.

Zugleich machte sich ein anderer Spross portugiesischer Emigranten in Paris berühmt. Fonseca war selbst noch in Portugal geboren worden; dort endeten Großvater und Oheim als Opfer der Inquisition auf dem Scheiterhaufen, sein Vater rettete sich durch die Flucht, und der achtjährige Knabe wurde zwangsweise getauft. Älter geworden, diente er im Geheimen der Religion seiner Väter, und, als er sich der Ketzerei verdächtig gemacht hatte, entfloh er nach Frankreich. Später ging er nach Konstantinopel und erwies sich aus Dankbarkeit gegen Frankreich, das ihm eine Zufluchtsstätte gewährt hatte, in der türkischen Hauptstadt besonders den französischen Ansiedlern dienstfertig. Abbe Sevin sagte von diesem jüdischen Arzte, dass seine Freundschaft ihm ein Bedürfnis sei und ihm bei seinem intimen Verkehr mit den ersten Würdenträgern der Pforte auch von großem Nutzen sei. Auch zwei andere Franzosen, Marquis d'Argens und Motraye, sprachen voll Bewunderung von ihm. So war es begreiflich, dass Fonseca bei einer Rückkehr nach Paris offene Arme und offene Häuser fand; er verkehrte mit Voltaire, mit der Comtesse de Caylus u. a. m. Die vornehmsten Pariser wählten ihn als Arzt, und seine Bildung verschaffte ihm die Bekanntschaft mit den Geisteshelden seiner Zeit. Wissenschaftliche Werke hat er nicht hinterlassen; eine Abhandlung über die Pest, die 1712 in Leyden erschien, ist nicht von ihm, sondern von einem seiner Vorfahren, Abraham Fonseca. 31) Fonseca starb in Paris in hohem Alter.

Im übrigen Frankreich finden sich nur wenige Zeitgenossen dieser Ärzte, die jüdischen Glaubens waren. Eine sehr alte Gemeinde war Nancy; sie war im Beginne des vierzehnten Jahrhunderts vertrieben worden und hatte erst im Beginne des siebenzehnten Jahrhunderts eine neue Existenz gewonnen, begann aber sehr bald und rasch aufzublühen. Doch 1721 verwies Herzog Leopold alle Juden, welche nach 1680 zugezogen waren, der Stadt, und die übrigen durften nur unter beschämenden Bedingungen und unter einer Art Polizeiaufsicht wohnen bleiben. Erst unter Stanislaus besserten sich diese Verhältnisse, und nun begannen sich auch Juden in Nancy wissenschaftlich, u. a. als Ärzte, auszuzeichnen. Ein Kind dieser Stadt war Isaak Assur, der zu Straßburg Medizin studierte und dort das Doktordiplom empfing; er übte mit großem Erfolg in Nancy die Praxis aus und beschäftigte sich in seinen Mußestunden mit Mathematik. Nach ihm ließ sich als Arzt in Nancy Jakob Berr nieder, anfangs nur Wundarzt; später wurde er in Nancy selbst von der Universität zum Doktor der Medizin kreiert.

31) nach Carmoly, pag. 199.

Nach Ausbruch der Revolution setzte er in Metz seine ärztliche Tätigkeit bis zu seinem Tode fort.

Durch die Revolution wurden dann gewaltsam alle Verhältnisse und somit auch die der Juden in Frankreich umgestürzt. Dem Principe der proklamierten Égalite, Liberté und Fraternité konnte nur durch die Gleichstellung der Israeliten mit allen Citoyens genügt werden. Die Pariser Universität hatte bereits einen Preis für das beste Werk über die Verbesserung der Judenverhältnisse ausgesetzt und von den eingelaufenen Arbeiten drei gekrönt. Da brach die Revolution aus, und die Juden reichten der konstituierenden Nationalversammlung am 4. August 1789 ein Bittgesuch um Emanzipation ein, das auf Befürwortung des Vicomte de Noailles und des Herzogs de Montmorency genehmigt ward. Napoleon I. führte 1806 durch Berufung des sogenannten Synedriums von 71 gelehrten Männern diese Anschauung völlig zum Siege, und wir haben demnach in Frankreich keine Sonderstellung der jüdischen Ärzte in unserm Jahrhundert, haben also auch keine Geschichte der jüdischen Ärzte mehr; sie ist verwebt mit der Geschichte der französischen Medizin. Schon 1830 zählte man in Frankreich siebenundzwanzig Ärzte jüdischen Glaubens, und bis heute ist ihre Zahl bedeutend gewachsen; viele davon haben zum Ruhme der französischen Medizin beigesteuert, nicht mehr als Juden, sondern als Franzosen!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der jüdischen Ärzte
Paris, Alexander III. - Brücke

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Paris, Champs-Elysée und Arc de Triomphe

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Paris, die Seine

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Paris in den Tuilerien

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Pariser-Kiosk

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Pariser Sommerfrische

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Das Pantheon, national Grablege und Ruhmeshalle für Frankreich. Architekt: Jaacques-Germain Soufflot. Bauzeit: 1756-1790.

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Die Kathedrale Notre-Dame de Paris. Errichtet 1163-1345.

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