Abschnitt 2

Viertes Kapitel.
Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz.


Ein Zug von ähnlicher Anlage und Kühnheit, wie 1813 der Marsch von der Elbe an die Saale, ist 1815 der Marsch von Ligny über Wavre nach Belle-Alliance. Beide Manöver waren um so wirksamer, als Napoleon sie nicht in Rechnung gezogen hatte und infolgedessen selber falsch operierte, 1813 einen Luftstoß machte, 1815 das Korps Grouchy nicht rechtzeitig auf das Schlachtfeld berief. „Ces animaux ont appris quelque chose“ rief er aus.


Zur Vollendung einer großen Erscheinung in der realen Welt gehört auch ihre Theorie. Merkwürdig genug, daß auch der theoretische Denker, der das strategische Handeln Napoleons begrifflich zu fassen wußte, dem preußischen Heer angehörte, Clausewitz, ein Jünger Scharnhorsts, der Freund Gneisenaus. Wie die drei Männer zusammenzuordnen sind, ist ausgeprägt in dem Satz, den Gneisenau an Clausewitz schrieb, als man Scharnhorsts Gebeine von Prag, wo er gestorben war, nach dem Invaliden-Kirchhof von Berlin überführte: „Sie waren sein Johannes, ich nur sein Petrus, obgleich ich ihm nie untreu geworden bin, wie jener seinem Meister“.

Schon vor Clausewitz hat der französische Schweizer Jomini Napoleons Kriegskunst zu analysieren unternommen. Er war ein begabter und belesener, sehr fruchtbarer Schriftsteller, hat auch den entscheidenden Punkt in der Napoleonischen Strategie, das Streben nach der Schlachtentscheidung, gut erfaßt und beschrieben (schon 1805), in das eigentliche Wesen des Napoleonischen Handelns und der Strategie überhaupt ist er jedoch nicht eingedrungen. Dazu gehörte jener Trieb zu philosophischer Vertiefung, der seit Kant und Hegel das Leben in Deutschland erfüllte und in dem preußischen Offizier den Interpreten des Kriegsgottes erweckte, dessen Taten die alte Welt umgestürzt und die Menschen gezwungen hatten, eine neue aufzubauen. Jomini suchte das Wesen der Strategie in den Operationslinien und prüfte die Vorzüge der inneren Operationslinie und der äußeren. Clausewitz erkannte, daß Basis und Operationslinie und was dahin gehört, wohl sehr brauchbare Begriffsbildungen seien, sich zu verständigen und Situationen klar zu erfassen, daß jedoch Regeln für Pläne und Entscheidungen sich daraus nicht ableiten lassen, weil im Kriege die Elemente des Handelns alle unsicher und relativer Natur sind. Das strategische Handeln kann daher nicht doktrinärer Natur sein, sondern entspringt der Tiefe des Charakters. Der Krieg aber ist eine Handlung der Politik und die Strategie darf daher überhaupt nicht isoliert, sondern immer nur im Zusammenhange mit der Politik betrachtet werden. Wer sich darüber beschwert, daß die Politik sich in die Kriegführung gemischt habe; sagt etwas logisch Widersinniges und meint in Wahrheit, daß die sich einmischende Politik als solche ihm falsch erscheine. Eine richtige Politik kann auch die Strategie – falls der Politiker nicht etwa militärisch unrichtig denkt – nur richtig dirigieren. In den höchsten entscheidenden Momenten sind Politik und Strategie nicht von einander zu unterscheiden und die weltgeschichtliche Wirkung des großen Strategen geht aus von der Persönlichkeit im ganzen. Friedrichs gemäßigter Kriegsplan beim Ausbruch des Siebenjährigen Krieges und die Steigerung im nächsten Jahr sind durchaus bestimmt durch die politischen Momente, die Rücksicht und die Bundesgenossen der Kaiserin, und nicht, weil er glaubte, mit seiner schrägen Schlachtordnung die Österreicher sicher zu besiegen, sondern weil er sich mit dem Gedanken des ehrenvollen Unterganges vertraut gemacht hatte, wagte er den Angriff auf die Übermacht bei Leuthen. Die Überlegenheit, die dem General Bonaparte über alle die anderen tapferen und glänzenden Soldaten der Revolutionsheere erhob, wurzelte nicht nur in seinen eminenten militärischen Qualitäten, sondern ebenso sehr in seinem Sinne für Politik. Denn erst die politische Überlegung war es, die ihm erlaubte, die ausgreifenden strategischen Ideen zu vollführen, weil er in Aussicht nahm, den militärischen Erfolg politisch zum Abschluß zu bringen, ehe ein Rückschlag das Gewonnene wieder zerbrach. Daß Napoleon am Tage von Belle-Alliance nicht mit dem Wiedererscheinen der Preußen rechnete, kann ihm rationell als ein schwer begreiflicher Fehler angerechnet werden. Hier aber liegt sein Heldentum. Hätte er auf die Ankunft der Preußen gerechnet, so hätte er gegen die erdrückende Übermacht den Kampf gar nicht aufnehmen können und hätte geendet, wie 1870 Bazaine, der von vorn herein am Erfolge verzweifelte und schließlich, ohne eine Schlacht wirklich durchgeschlagen zu haben, kapitulieren mußte. Auch Napoleon konnte gegen die erdrückende Übermacht unter zwei Feldherren, wie Wellington und Gneisenau, den Feldzug auf keine Weise gewinnen. Daß er aber dem Siege ganz nahe gekommen und schließlich nicht schmachvoll, sondern ruhmvoll unterlegen ist, hat ihm selber einen unvergänglichen Glanz und seinem Volke einen Brunnen moralischer Kraft geschaffen, aus dem es sich immer wieder neues Leben getrunken hat.

Die Epoche von der Renaissance bis zum Ende der alten Monarchie zeigt eine unendliche Fülle von großen Soldaten und Heerführern. Aber in der ersten Hälfte wird man den Ausdruck „große Strategen“ noch nicht anwenden wollen; die Dimensionen der kriegerischen Ereignisse sind trotz der gewaltigen Schlachten, denen wir begegnen, nicht groß genug, oder besser ausgedrückt, das Kriegerische im großen Zusammenhang der Dinge bewegt sich noch mehr in der Sphäre einzelner Kriegstaten auf dem politischen Hintergrunde, als in jener Einheit von Politik und kriegerischer Aktion, die das Wesen der Strategie ausmacht.

Die großen Strategen im vollen Sinne des Worts beginnen erst mit Gustav Adolf. In Wallenstein spielt der Staatsmann und Organisator eine größere Rolle, als grade der Strateg. Die großen Feldherren aus der Schule Gustav Adolfs, Cromwell, die Reihe der großen französischen Marschälle unter Ludwig XIV. werden im Gedächtnis der Nachwelt überragt durch Eugen von Savoyen und Marlborough. Ihren Höhepunkt und ihren Abschluß findet die Epoche in Friedrich dem Großen. Man hat diesem lange eine besondere Stellung anweisen wollen, indem man ihn charakterisierte als den Vorläufer Napoleons. Diese Formulierung haben wir als falsch erkannt und verworfen. Friedrich war nicht ein Vorläufer, sondern ein Vollender. Erst durch Clausewitz philosophische Vertiefung des Begriffs der Strategie in Verbindung mit der Politik und seine damit verbundene psychologische Analyse des Wesens der Heerführung, ist das volle Verständnis für die Gleichheit wie für die Verschiedenheit der beiden Kriegsgewaltigen erschlossen worden. Clausewitz selber hat diese Konsequenz seines Gedankenbaus noch erkannt, aber nicht mehr ausgeführt. In einer „Nachricht“, die er am 10. Juli 1827 niederschrieb und die an die Spitze seines hinterlassenen Werkes „Vom Kriege“ gestellt ist, nimmt er sich vor, dieses Werk noch einmal umzuarbeiten unter dem Gesichtspunkte, daß es eine doppelte Art des Krieges gebe, nämlich diejenige, „wo der Zweck des Niederwerfen des Gegners ist“, und diejenige, „wo man bloß an den Grenzen des Reiches einige Eroberungen machen will“. Die „ganz verschiedene Natur“ dieser beiden Bestrebungen müssen überall von einander gesondert werden. Ehe er diese Arbeit ausführen konnte, ist Clausewitz im Jahre 1831 gestorben. Die Lücke, die er gelassen hat, auszufüllen, war eine der Aufgaben des vorliegenden Werkes.

Mit dem Erscheinen von Clausewitz’ Werken nach seinem Tode (1831) schließt sozusagen die Napoleonische Periode der Geschichte der Kriegskunst. Sie leitet über in die neue, insofern sich Moltke in seinem Denken an den Clausewitzschen Werken gebildet hat. Diese neue Epoche wird in ihrem Inhalt bestimmt durch die neue Technik, nicht nur der Waffen, sondern auch des Verkehrs und aller Hilfsmittel des Lebens, von den Eisenbahnen und Telegraphen bis zu den Nährmitteln, die in so unendlicher Fülle im Laufe des 19. Jahrhunderts emporgestiegen sind.

Bis zu diesem Punkte wollte ich dieses Werk führen. Was folgte, beschlossen in dem phänomenalen Aufstieg Preußens und seinem endlichen Zusammenbruch, das werden sich einmal Andere angelegen sein lassen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Kriegskunst Teil 4