Abschnitt 1

Viertes Kapitel.
Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz.


Das Fridericianische Kriegswesen war zum erstenmal mit dem neufranzösischen zusammengestoßen bei Valmy, hatte den Kampf dann noch zwei Jahre, 1793 und 1794 fortgesetzt und sich in dieser Zeit qualitativ immer noch überlegen gezeigt. Aus politischen Gründen, aber militärisch unbesiegt, schied Preußen durch den Frieden von Basel im Frühjahr 1795 aus dem Kriege aus. Als es elf Jahre später von neuem die Waffen mit den Franzosen kreuzte, hatten diese sich mittlerweile zu den Soldaten Napoleons entwickelt, und jetzt krachte Preußen beim ersten Stoß zusammen. Man erschöpft die Natur dieses Vorganges nicht, wenn man mit der Königin Luise sagt, Preußen sei eingeschlafen gewesen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen. So stolz man war auf den ererbten Ruhm, so waren doch auch Kritik und Reformbestrebungen recht lebendig und Altes und Neues stehn schon vor der Krisis im Kampf miteinander. Noch ehe man sich in Frankreich selber so recht des eigenen Schaffens in der Taktik bewußt war, trug am 10. Juli 1794 der damalige hannoversche Major Scharnhorst in sein Tagebuch den Satz ein „Der jetzige französische Krieg wird das jetzt angenommene taktische System in einigen Punkten gewaltig erschüttern“ und schrieb dann gegen Ende des Jahrhunderts mehrere Abhandlungen, in denen er von dem Satz ausging (1797), „es ist eine ausgemachte Wahrheit, daß die französischen Tirailleurs den größten Teil der Affairen in diesem Kriege entschieden haben“, und daran seine Vorschläge für die Fortbildung der in den deutschen Heeren noch herrschende Taktik knüpfte. Er wollte das Alte und Neue organisch miteinander verbinden. Die Linear-Aufstellung aufzugeben oder gar die ganze Infanterie in Schützen aufzulösen, erschien ihm abwegig, aber er schlug vor, das dritte Glied für den Tirailleur-Kampf zu verwenden. Für die Salve war das dritte Glied ohnehin nicht recht verwendbar gewesen und man war im Revolutionskrieg schon tatsächlich zur zweigliedrigen Aufstellung übergegangen. Das ergab aber generell durchgeführt unregierbar breite und gefährlich dünne Linien. Indem man nun ein Drittel der Infanterie ausschwärmen ließ und dazu nicht das erste, sondern das dritte Glied nahm, blieb die alte, wohlgeordnete und fest zusammenhaltende Front bestehn und konnte ihre Vorzüge zur Geltung bringen, die Schützen aber, die sich um die Flügel der Bataillone nach vorn zogen, verstärkten die Feuerkraft des Ganzen viel intensiver, als wenn sie im dritten Gliede der Linear-Front verblieben, wo sie überdies doch im Bedarfsfalle zur Verdickung der Front wieder ihren Platz fanden. Die Erhaltung der festgeschlossenen Front für das Salvenfeuer und schließlich die Attacke schienen Scharnhorst so wichtig, daß er die Mannschaften der beiden ersten Glieder das Schützengefecht nicht einmal gelehrt wissen wollte.


Auch als Scharnhorst in den preußischen Dienst übernommen wurde (1801), drangen nun seine Ideen noch keineswegs durch. Der General Fürst Hohenlohe führte allerdings für dieselben schlesischen Regimenter, die er nachher bei Jena kommandierte, das Tiraillieren des dritten Gliedes ein (1803). Aber in demselben Jahr erließ der Feldmarschall v. Möllendorff in Berlin einen Befehl, in dem er das Zielen beim Schießen direkt verbot – die Soldaten sollten „den Kopf grade aufrecht haltend horizontal anschlagen“.

Altes und Neues haben also schon vor 1806 in Preußen mit einander gerungen, aber in allem wesentlichen war das Alte unerschüttert und die Armee war ihrer Struktur nach noch durchaus die alte Friderizianische. Als solche aber war sie nicht etwa schlechter, sondern besser als zu Friedrichs Zeit. Ihre Disziplin war unerschüttert, das Offizierkorps tapfer, aber der Geist war entwichen, die Führung war kläglich, der Gegner ein Riese, und so mußte sie erliegen. Ich habe mich über diese Zeit und diese Ereignisse, die Katastrophe, den Wiederaufbau und den endlichen Sieg Preußens, in anderen Arbeiten eingehend geäußert und will mich hier nicht wiederholen. Das Ergebnis ist, daß Preußen die Ideen der französischen Revolution, denen es unterlegen war, nunmehr selber aufnahm, sich mit ihrer Hilfe verjüngte, auf dem Gebiete des Kriegswesens noch überbot und praktisch und theoretisch die letzten Konsequenzen herausarbeitete.

Einzuschieben ist, daß auch Österreich nach der Niederlage von 1805 unter der Leitung des Erzherzogs Karl die alte Taktik reformierte und das Tiraillieren und die Kolonnen in geschickter Weise mit der Linear-Ordnung verband, so weit das bei einem Heer, daß der nationalen Grundlage entbehrte, möglich war. Ich habe oben schon die Argumentation des Generals Mack angeführt, weshalb das Tiraillieren zu verwerfen sei. Ein drastisches Zeugnis, wie anders der Geist der alten Militär-Pädagogik war und wie schwer es werden mußte, den Übergang in den neuen Geist zu finden, ist ein Bericht des Feldmarschalleutnant Bukassowicz an den Hofkriegsrat (1803): „Im Türkenkrieg hat man bei Besania-Damm eine Truppenabteilung auf den halben Mann das Bajonett zu fällen beordert, und da auch der Mann sonst nichts andres damit zu tun gelernt hat, ist auch derselbe wie eine Statue unbeweglich geblieben. Die Türken haben davon profitiert und mit bloßem Messer sich unter die Musketen begeben, sofort die Füße der Soldaten abgehauen, wessentwegen die Truppen nach der Hand lernen mußten, mit dem Bajonett auf das Kommandowort: Stich! – zu stechen“.

Die Russen folgten noch dem Worte Suwarows „die Kugel ist eine Närrin, das Bajonett aber ist ein ganzer Mann“. Noch 1813 haben in der russischen Armee nur die Jäger-Regimenter tirailliert; die übrigen Infanterie das Einzelgefecht gar nicht gekannt.

In Preußen verwandelte SCHARNHORST als Kriegsminister die alte Söldnerarmee in ein Volksheer, indem er die fremde Werbung abschaffte und die allgemeine Wehrpflicht, die die Franzosen wieder hatten fallen lassen, verwirklichte. Die Idee fand so viel Widerspruch, daß sie nicht in der Vorbereitungszeit, sondern erst mit dem Moment der Erhebung selbst durchgesetzt und zur Ausführung gebracht werden konnte (9. Februar 1813). Sie war auch zunächst nur für die Dauer des Krieges verkündet, wurde aber 1814 von dem Jünger und Nachfolger Scharnhorsts, BOYEN, von neuem und definitiv zur Annahme gebracht.

Das Tirailleur-Gefecht war, wie wir gesehen haben, bei den Franzosen zwar zu größter Bedeutung gelangt, aber eine wildwachsende Pflanze geblieben. In Preußen, wie vorher schon in Österreich, wurde es nunmehr in Anlehnung an die Vorschläge, die Scharnhorst schon 1797 literarisch gemacht hatte, systematisch durch Reglements eingeführt. Nach wie vor blieb die dreigliedrige Linear-Aufstellung mit ihrem alles wegfegenden Salvenfeuer die Grundform. Aber das dritte Glied sollte vor der Front zum Schützengefecht ausschwärmen und nötigenfalls (darin ging Scharnhorst jetzt über seinen Vorschlag von 1797 hinaus) durfte auch das ganze Bataillon in Tirailleurs aufgelöst werden. Das in Linie aufgestellte Bataillon sollte aber nicht bloß Salvenfeuer abgeben, sondern auch beim Angriff mit ihrer Stoßkraft der Tiefe wirken können. Das zu ermöglichen, konstruierte Scharnhorst, auch nach französischem Muster, die „Kolonne nach der Mitte“, zwei Züge breit, vier Züge tief. Mit der denkbar größten Schnelligkeit konnte das Bataillon aus dieser Kolonne zur Linie aufmarschieren oder aus der Linie die Kolonne bilden, da sich zugleich von rechts und links die äußeren Züge hinter die mittleren setzen.

Die Kolonne nach der Mitte war (da das Bataillon 4 Kompagnien oder 8 Züge zählte) 12 Mann oder bei ausgeschwärmten Schützen noch 8 Mann tief. Das war die Normaltiefe der griechischen Phalanx, also nach den älteren Begriffen noch eine Linear-Aufstellung, im Verhältnis zu der dreigliedrigen Aufstellung aber zu der man im 18. Jahrhundert gelangt war, schon eine Kolonne.

Wie Scharnhorst die französischen Organisations-Gedanken auf Preußen übertragen und zugleich erneut hat, so ist GNEISENAU, der schon bei der Armee-Reform Scharnhorst zur Seite gestanden hatte, derjenige unter den Gegenspielern Napoleons, der dessen Strategie ganz in sich aufgenommen hatte, so daß er den Gewaltigen mit seinem eignen Schwerte zu schlagen vermochte. Die große Aufgabe der Verbündeten im Herbstfeldzug 1813 war, ihre Heere, die in Brandenburg, Schlesien und Böhmen im Halbkreis um Napoleon herum standen, auf einem Schlachtfeld zu vereinigen, ohne dem Gegner die Gelegenheit zu geben, von seiner Zentralstellung aus sie einzeln zu fassen und zu schlagen. Das wurde erreicht, indem die Schlesische Armee, als Napoleon sie nach ihrem Übergang über die Elbe bei Wartenburg (3. Oktober) packen wollte, nicht über die Elbe zurückwich, sondern, ihre Verbindungen preisgebend, um Napoleon herummarschierte und sich in seinem Rücken an der Saale mit dem Schwarzenbergischen Heer zusammenschloß. Napoleon war durch dieses Manöver von Frankreich abgeschnitten und hätte mit seiner ganzen Armee durch die Übermacht der Verbündeten eingeschlossen und vernichtet werden können. Schwarzenbergs Generalstabschef Radetzky hatte auch in diesem Sinne bereits eine Disposition entworfen, die bis in unsere Tage auf die gröblichste Weise mißverstanden und entstellt worden ist, als ob ihr Sinn gewesen sei, nicht sowohl das französische Heer zu vernichten, als es ohne Schlacht im Sinne der alten Strategie durch Manöver zum Rückzug zu bewegen. Radetzkys genialer Plan wurde zerrissen durch die Einmischung des Kaisers Alexander auf Betreiben seines militärischen Beraters des Generals v. Toll. Die Heere der Verbündeten trennten sich wieder und gaben den Franzosen die Rückzugsstraße nach Westen dadurch frei.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Kriegskunst Teil 4