Abschnitt 2

Drittes Kapitel
Napoleonische Strategie.


Friedrich hatte den Grundsatz, einen möglichst weit ausgreifenden Feldzugsplan zu entwerfen, von dem er sich selber von vornherein sagte, daß er in der Ausführung zusammenschrumpfen werde. Immer von Neuem bekennt er sich zu diesem Grundsatz. „Großzügige Feldzugspläne“, heißt es im Politischen Testament von 1768, „sind unzweifelhaft die besten, weil man bei ihrer Ausführung sofort bemerkt, was unausführbar sein würde, und indem man sich auf das Ausführbare beschränkt, kommt man weiter, als bei einem kleinen Projekt, was niemals zu etwas Großem führen kann.“ „Solche großen Pläne sind nicht immer erfolgreich; gelingen sie, so entscheiden sie den Krieg.“ „Macht vier Projekte dieser Art, und wenn eines davon glückt, so seid Ihr für alle Mühe belohnt.“ Vergleicht man also seine ursprünglichen Entwürfe mit der späteren Ausführung, so ist man dem Eindruck ausgesetzt, als ob seine Tatkraft nicht mehr auf der Höhe seiner strategischen Ideen gewesen sei. Nichts wäre falscher. Mit vollem Bewußtsein entwarf er zunächst Pläne, die über das Mögliche hinausgingen, um unter keinen Umständen unter dem Möglichen zu bleiben. Die harten Tatsachen setzten ihre Grenzen; er wußte, daß sie es tun würden und wollte, daß es so sei. Seine strategischen Ideen dürfen also immer nur mit diesem Vorbehalt gewürdigt und eingeschätzt werden. Für Napoleon gilt das Gegenteil. Seine Pläne sind in der Ausrührung nicht zusammengeschrumpft, sondern eher noch gewachsen. Er sagte von sich selber: „Es gibt keinen kleinmütigeren Menschen als mich, wenn ich einen Feldzugsplan entwerfe; ich stelle mir alle Gefahren übertrieben vor und sehe alle Umstände so schwarz wie möglich; ich bin in einer peinlichen Aufregung. Das hindert mich freilich nicht, vor meiner Umgebung durchaus heiter zu erscheinen. Ist aber mein Entschluß einmal gefaßt, dann vergesse ich alles und denke nur an das, was ihn gelingen lassen kann.“


In der friderizianischen Schlacht ist alles angelegt auf eine einheitliche zusammenhängende Wirkung; der erste Stoß soll auch die Entscheidung bringen. Napoleon tritt ein in eine Schlacht oft ohne einen bestimmten Plan, ohne auch nur eine genauere Vorstellung von der Position des Gegners. Man engagiert sich, sagt er, und sieht dann, was zu tun ist. Ein sehr bedeutender Teil der Armee muß also in der Reserve bleiben, um mit ihr an der von dem Feldherrn anzuweisenden Stelle die Entscheidung zu erkämpfen. In erster Linie geht dieser Unterschied zwischen der friderizianischen und der Napoleonischen Schlacht auf die verschiedene Taktik zurück, die Linear-Aufstellung und das Schützengefecht. Es ist jedoch auch ein Zusammenhang mit der Strategie vorhanden. Die Napoleonische Schlacht erwächst organisch aus den vorhergehenden Operationen, oft unvorgesehen. Die friderizianische Schlacht entspringt einem mehr oder weniger vorbereitenden subjektiven Entschluß, sieht also ab von einer langen Einleitung und sucht die Entscheidung je schneller, je lieber.

Friedrich konnte sich sein Leben lang nicht genug tun in Erwägungen über strategische Grundsätze, Hilfsmittel und Pläne. Napoleon sagte: „Je ne connais que trois choses à la guerre; c’est faire dix lieues par jour, combattre et rester en repos“.

Was von der einzelnen Schlacht gilt, daß Napoleon sie sich ohne vorgefaßte Idee entwickeln ließ, das gilt auch von seiner Strategie. Er selber hat gesagt, er habe niemals einen Feldzugsplan gehabt. Das steht nicht etwa im Widerspruch zu dem Satz, den wir oben gehört haben, daß er bei der Ausarbeitung seiner Pläne überaus ängstlich gewesen sei. Ein oft zitiertes Wort von Moltke lautet: „Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus. Nur der Laie glaubt in dem Verlauf eines Feldzuges die konsequente Durchführung eines im voraus gefaßten, in allen Einzelheiten überlegten und bis ans Ende festgehaltenen, ursprünglichen Gedankens zu erblicken“. In diesem Sinne meint auch Napoleon, daß er nie einen Feldzugsplan gehabt habe. Nichtsdestoweniger hatte er für und bei dem Aufmarsch seiner Truppen natürlich eine sehr bestimmte Idee und erwog mit Sorgsamkeit die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, ohne sich aber für diese oder jene im voraus zu entscheiden. In der Ermattungsstrategie finden wir immer wieder die von weit her festgelegten Feldzugspläne, bei Friedrich wohl nicht in dem Maße, wie bei seinen Zeitgenossen, aber der Natur der Dinge gemäß doch auch bei ihm.

Auch Napoleon war nicht stark genug, die Niederwerfung seiner Gegner bis auf den Punkt zu treiben, wie etwa Alexander der Große, der ganz Persien in Besitz nahm. Selbst die Preußen hätten 1807 noch weiter gekämpft, wenn die Russen sich dazu bereit gefunden hätten. Nicht bloß durch den Sieg, sondern schließlich auch durch Politik, hat Napoleon seine Kriege zu Ende gebracht. Man könnte also sagen, zwischen ihm und seinem Vorgänger sei der Unterschied doch nur ein relativer. Wir haben aber gesehen, daß die strategischen Unterschiede fundamental sind, und daß Napoleon tatsächlich nach den sich logisch aus dem Wesen der Niederwerfungsstrategie sich ergebenden Grundsätzen gehandelt hat, nicht anders als Alexander der Große. Er konnte das, weil er sicher war oder sicher zu sein glaubte, daß, wenn ihm an der völligen Niederwerfung des Feindes schließlich noch etwas fehlte, ihm sozusagen der Atem ausging, er fähig sein werde, das Fehlende durch die Politik zu ergänzen. Ja, man darf sagen, eben hier liegt keine historische Größe. Seiner tiefsten Anlage nach ist Napoleon noch viel mehr Staatsmann als Soldat. Weder als junger Mensch noch später hat er kriegsgeschichtliche oder theoretische Studien getrieben. Alle denkenden Militärs geschäftigten sich mit der Frage, ob man nicht von den dünnen Linien wieder zur tiefen Kolonne zurückkehren solle; bei dem Leutnant Bonaparte findet sich keine Spur davon. Friedrich las, was es immer an alter und neuerer Literatur über Kriegswesen und Kriegsgeschichte gab. Auch Napoleon hat allerdings öfter darauf hingewiesen, daß ein Soldat die Taten der großen Feldherren studieren müsse, um von ihnen zu lernen – er nennt Alexander, Hannibal, Cäsar, Gustav Adolf, Turenne, Eugen, Friedrich – aber er selber kannte neben Cäsar wesentlich nur die recht unmilitärischen Biographien Plutarchs und las lieber politische und moralphilosophische Schriften. Nichts ist charakteristischer für ihn als das Verhalten beim Ausbruch des Revolutionskrieges. Er war französischer Leutnant; wäre die militärische Neigung in ihm die stärkste gewesen, so hätte es ihn treiben müssen, mit seinem Regiment in den Kampf zu ziehen an die Front, umsomehr, da er mit Eifer den neuen politischen Ideen anhing. Aber das ganze erste Jahr hat der junge Offizier sich dem Kriege entzogen und sich mit etwas abenteuerlichen Plänen korsikanischer Politik umgetrieben. Erst als diese gescheitert waren, ging er zur Armee. Gleich sein erster großer Feldzugsplan aber, nachdem ihm 1796 der Oberbefehl in Italien übertragen war, war politisch aufgebaut, auf die Trennung Sardiniens von Österreich, und politisch hat er schließlich auch den Kampf gegen Österreich 1797 zu Ende gebracht, indem er, schon nahe vor Wien stehend, den Besiegten doch nicht bloß Abtretungen auferlegte (Belgien und Mailand), sondern ihnen auch eine große Erwerbung in Aussicht stellte (Venetien). Ganz ähnlich ist es bei seinen späteren Kriegen; bei all seiner ausschweifenden Phantasie hat er doch auch Blick für die Grenzen seiner Kraft. Ob seit 1812 diese Besonnenheit ihn verlassen hatte und ihn nicht mehr in Schranken hielt, oder ob eine unentrinnbare innere Notwendigkeit ihn darüber hinausführte, mag zunächst dahingestellt bleiben. Wir halten uns daran, daß seine Verhältnisse ihm ermöglichten, was Gustav Adolf, den Feldherrn Ludwig XIV., dem Prinzen Eugen und Friedrich dem Großen versagt war, seine Feldzugspläne nicht auf bloße Ermattung, sondern auf Niederwerfung des Gegners anzulegen, um dann sein Werk politisch zu vollenden.

Wenn man etwa meinen wollte, daß nun auf dem Boden der neuen Verhältnisse die neue Strategie als ein Naturprodukt von selbst erwachsen wäre, so wäre das ein Irrtum. Erst das schöpferische Genie einer großen Persönlichkeit hat aus dem gegebenen Stoff die neue Erscheinung tatsächlich gestaltet. Grade an solchen Stellen erkennt man mit besonderer Deutlichkeit, daß die Weltgeschichte keineswegs, wie die Materialisten meinen, ein Naturprozeß ist. Man ersieht das, wenn man die ersten Feldzüge, in denen die neue Strategie zur Tat wird, die Feldzüge des Generals Bonaparte vergleicht mit denjenigen des bedeutendsten seiner Kollegen, des Generals Moreau.

Nachdem das Jahr 1795 ohne große Entscheidungen vorübergegangen, Preußen aber mit dem Baseler Frieden ausgeschieden war, stellten die Franzosen im Frühjahr 1796 drei Heere auf, eines unter Bonaparte in Italien, eines unter Moreau am Oberrhein, eines unter Jourdan am Mittelrhein bis Düsseldorf. Mit Hilfe der englischen Subsidien hatten die Österreicher zusammen mit ihren kleineren Bundesgenossen es fertig gebracht, den Franzosen Heere gegenüber zu stellen, die ihnen an Zahl nicht nur gewachsen, sondern sogar um einiges überlegen waren. Hier wie dort waren die Truppen nach dem Grundsatz der Gebietsdeckung auf eine lange Front verteilt. Bonaparte, dessen Truppen teils in den Alpen, teils an der Riviera entlang bis in die Nähe von Genua standen, zog nun seine Hauptkraft auf seinen äußersten rechten Flügel in der Riviera zusammen, so daß er seine Verbindung mit Frankreich nur schwach gedeckt ließ. Von beiden Seiten ging man sich über die Apenninpässe entgegen, aber obgleich im ganzen um einige 1000 Mann schwächer, waren die Franzosen vermöge ihrer Truppenverteilung in jedem einzelnen Gefecht ihren Gegnern überlegen, schlugen die mittelste Kolonne, drängten sich dadurch zwischen die österreichische und die sardinische Armee und gewannen vollends die Oberhand, indem der General dem König von Sardinien einen vorteilhaften Waffenstillstand bewilligte. So trieb Bonaparte die Österreicher zurück bis auf Mantua, schloß die Reste der Armee hier ein und belagerte sie. Viermal kamen die Österreicher, aus den Alpen herabgestiegen, Mantua zu entsetzen. Jedesmal wurden sie von den Franzosen geschlagen; einmal in der Art, daß Bonaparte die Einschließung der Festung aufgab und sein schweres Geschütz opferte, um die Überlegenheit bei der Entscheidung im freien Felde zu gewinnen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Kriegskunst Teil 4