Abschnitt 1

Drittes Kapitel
Napoleonische Strategie.


Das natürliche Grundgesetz der Strategie ist, wie wir uns wiederholen wollen, die Kräfte zusammen zu nehmen, die Hauptmacht des Feindes aufzusuchen, sie zu schlagen, und den Sieg zu verfolgen, bis der Besiegte sich dem Willen des Siegers unterwirft und seine Bedingungen annimmt, äußersten Falles bis zur Besetzung des ganzen feindlichen Landes. „Die Vernichtung der feindlichen Streitkraft ist unter allen Zwecken, die im Kriege verfolgt werden können, immer der über Alles gebietende“ (Clausewitz). Diese also, nicht ein geographischer Punkt, ein Gebiet, eine Stadt oder eine Stellung oder ein Magazin ist das Objekt des Angriffs. Ist es gelungen, vermöge einer großen taktischen Entscheidung die feindliche Streitmacht physisch und moralisch so weit zu zerstören, daß sie nicht weiter zu kämpfen vermag, so dehnt der Sieger seinen Sieg so weit aus, wie er es für seinen politischen Zweck angezeigt hält.


Die Heere der alten Monarchie waren zu klein, in ihrer Taktik zu unbeholfen, in ihrer Zusammensetzung zu unzuverlässig, um diese Grundsätze in ihrer Kriegführung durchführen zu können. Sie lagen fest vor Stellungen, die für ihre Taktik unangreifbar waren, sie konnten sie nicht umgehen, weil sie ihre Verpflegung mit sich schleppen mußten. Sie konnten sich nur mäßig tief ins feindliche Land hineinwagen, weil sie große Gebiete nicht zu decken vermochten und die gesicherte Verbindung mit ihrer Basis unter allen Umständen hüten mußten.

Napoleon sieht sich von diesen Fesseln befreit. Er legt von vornherein alles an auf die taktische Entscheidung, die das feindliche Feldheer außer Spiel setzen soll, und verfolgt dann seinen Sieg, bis der Feind sich seinen Bedingungen unterwirft. Aus diesem obersten Grundsatz ergeben sich Konsequenzen, die von den Feldzugplänen bis in jede einzelne kriegerische Handlung reichen. Da von vornherein alles angelegt ist auf eine überwältigende taktische Entscheidung, so sind alle anderen Zwecke und Rücksichten diesem einem obersten Zwecke untergeordnet und der Feldzugsplan ist von einer gewissen natürlichen Einfachheit. Die Ermattungs-Strategie ist aufgebaut auf einzelne Unternehmungen, die so oder auch anders gestaltet sein können. Friedrich hat im Beginn des Siebenjährigen Krieges geschwankt zwischen den allerverschiedensten, ja entgegengesetzten Plänen. Je unternehmender, je aktiver der Feldherr ist, desto mehr Möglichkeiten erscheinen vor seiner Phantasie und desto subjektiver sind seine Entscheidungen. Napoleons Feldzugspläne haben eine innere objektive Notwendigkeit. Wenn man sie erst erkannt und sich klar gemacht hat, hat man das Gefühl, daß sie gar nicht anders sein konnten, daß die schöpferische Tat des strategischen Genius nur darin bestand, das herauszufinden, was die Natur der Dinge gebot. Der Empire-Styl, von dem man in der Kunstgeschichte spricht, mit seinem Klassizismus, seiner gradlinigen Einfachheit läßt einen gewissen Vergleich auch mit der Kriegskunst der Epoche zu.

Suchen wir einen Überblick zu gewinnen über die positiven Konsequenzen, die sich unmittelbar aus diesem Gegensatz der Grundprinzipien ergeben. Wir brauchen sie nicht dialektisch zu entwickeln, sondern können sie ablesen aus den Taten der großen Meister, Napoleon und Friedrich.

Napoleon faßte bei seinen Feldzugsideen das feindliche Heer ins Auge und legt von vorn herein alles darauf an dieses nicht nur anzugreifen, sondern womöglich zu vernichten. Auch Friedrich hat den Grundsatz aufgestellt, „wer alles konservieren will, der konserviert nichts. Das essentielle Stück, woran man sich also zu halten hat, ist die feindliche Armee.“ Wir haben aber gesehen, daß für Friedrich dieser Grundsatz doch nur eine relative Bedeutung hatte, daß er immer wieder und sehr stark davon abgewichen ist. Für Napoleon galt er unbedingt. Napoleon kann, wenn er es mit mehreren Gegnern zu tun hat, sie alle einzeln, einen nach dem andern abtun. 1805 hatte er die Österreicher besiegt (bei Ulm), ehe die Russen zur Stelle waren; dann die Russen mit den Resten der Österreicher (bei Austerlitz), ehe die Preußen eingriffen. 1806 besiegte er wieder die Preußen, ehe die Russen da waren (bei Jena) und 1807 die Russen, ehe die Österreicher sich von neuem aufgerafft hatten.

Friedrich hat bei Ausbruch des Siebenjährigen Krieges ganz anders gehandelt. Schon im Juli 1756 war die Situation völlig reif, die Österreicher noch nicht gerüstet, die Russen und Franzosen fern. Statt aber so schnell wie möglich zuzuschlagen, hat Friedrich den Kriegsbeginn künstlich bis Ende August hinausgezögert. Wäre er Niederwerfungsstratege gewesen, d.h. hätten ihm seine Mittel erlaubt, Niederwerfungsstratege zu sein, so müßten wir in diesem Verhalten den schwersten strategischen Fehler seiner ganzen Kriegslaufbahn feststellen. Da aber selbst unter den allergünstigten Verhältnissen der Plan einer völligen Niederwerfung Österreichs für ihn ausgeschlossen war, so handelte er richtig, indem er für dieses Jahr sich auf die Okkupation Sachsens beschränkte und sie so spät vornahm, daß die Franzosen es nicht mehr für angezeigt hielten, ihn darin zu stören.

Man sieht, wie zweckwidrig diejenigen handeln, die zu höherem Ruhme Friedrichs zu beweisen suchen, daß er im folgenden Jahr, 1757, den Plan der Niederwerfung Österreichs (Schlacht bei Prag; Belagerung von Prag) wirklich gehabt habe. Wenn dieser Plan 1757 wirklich ausführbar gewesen wäre, wie viel leichter hätte er es 1756 sein müssen! Klar und folgerichtig ist Friedrichs Verfahren nur auf dem Boden der Ermattungsstrategie. Ist dem aber so, so dürfen wir umgekehrt diesen Eingang des Siebenjährigen Krieges in seinem fundamentalen Gegensatz zu Napoleons Verfahren 1805 und 1806 verwerten als schönsten und fruchtbarsten Beleg für den natürlichen Gegensatz zwischen dem Wesen und den Grundsätzen der beiden historisch festzustellenden Arten der Strategie.

Suchen wir auf diesem Wege weiter.

In der Ermattungsstrategie stehen Festungsbelagerungen, ihre Verhinderung, der Entsatz im Vordergrund der Ereignisse; bei Friedrich weniger als bei seinen Vorgängern, aber immer noch sehr bedeutsam. Napoleon hat in all’ seinen Feldzügen (abgesehen von Nebenunternehmungen) nur zwei Festungen belagert, Mantua 1796 und Danzig 1807.

Auch zu diesen beiden Belagerungen entschließt er sich nur, weil er im Augenblick mit den vorhandenen Kräften den Krieg im freien Felde, gegen die feindliche Heeresmacht, nicht fortzusetzen, nicht weiterzutreiben vermag. Man belagert in der Niederwerfungsstrategie nur, was man schlechterdings nicht vermeiden kann, zu belagern, es sei denn, daß es die feindliche Hauptstadt selber sei, wie 1870 Paris, oder daß ein ganzes feindliches Heer in der Festung eingeschlossen ist, wie 1870 in Metz, oder daß es sich um kleinere Neben-Aktionen handelt. Für Friedrich ist die Einnahme einer Festung, wie Neiße (1741), Prag, Olmütz, Schweidnitz (1762) oft das eigentliche Ziel eines Feldzuges.

Friedrich lehrte ausdrücklich: „Wenn ihr ein Land findet, wo es viele feste Plätze gibt, so lasset keine hinter euch, sondern nehmt sie alle ein; alsdann geht ihr methodisch vor und ihr habt nichts für Euren Rücken zu fürchten“.

Wenn die Verbündeten sich bei ihrem Eindringen in Frankreich im Jahre 1814 an diesen Friderizianischen Grundsatz hätten halten wollen, hätten sie Napoleon niemals überwältigt.

Friedrich baute Kanäle; er gebrauchte die Wasserstraßen nicht nur für den Handelsverkehr, sondern auch für die Verpflegung seiner Truppen. Napoleon baute Chausseen; er führte den Krieg vor allem mit Marschieren.

Für Friedrich ist die Schlacht nach einem öfter von ihm gebrauchten Ausdruck ein „Brechmittel“, das man einem Kranken gibt. Es blieb mir nichts anderes übrig, schreibt er öfter, wenn er den Entschluß zu einer Schlacht rechtfertigen will. Sie ist ihm eine Frage an das Schicksal, eine Herausforderung des Zufalls, der in unberechenbarer Weise den Ausgang bestimmen kann. Napoleon erklärte es für seinen Grundsatz, sich auf keine Schlacht einzulassen, wenn er nicht 70% Chancen des Gewinns für sich habe. Hätte Friedrich sich an diesen Grundsatz halten wollen, so hätte er kaum je eine Schlacht schlagen können. Das ist nicht etwa ein Unterschied in der Kühnheit der beiden Feldherren, von der nicht die Rede sein kann, sondern liegt in der Verschiedenheit des Systems: wollte der Niederwerfungsstratege die Schlacht als eine Zufallsentscheidung ansehn, so wäre der ganze Krieg auf den Zufall gestellt, denn die Schlacht ist es, die ihn entscheidet. In der Ermattungsstrategie ist die Schlacht nur ein Moment unter mehreren und ihre Entscheidung kann wieder ausgeglichen werden. Friedrich schrieb einmal, als er eine Schlacht erwog, selbst wenn sie verloren gehen sollte, so würden unsere Angelegenheiten darum nicht schlechter stehen, als es ohnehin der Fall sei. In Napoleons Munde wäre ein solcher Satz unverständlich und unmöglich. Eine verlorene oder gewonnene Schlacht ändert für ihn und in seinen Augen unter allen Umständen die Situation von Grund aus. Kunersdorf war für Preußen zu verwinden, Jena nicht. Von Friedrich haben wir gesehn, wie sehr der auch von ihm öfter proklamierte Satz, daß zur Schlacht alle verfügbaren Kräfte herangezogen werden müßten, in der Praxis eingeschränkt wurde. Napoleon führte ihn wirklich durch, obschon auch das natürlich nicht absolut zu nehmen ist. Er schrieb an Marmont (15. November 1805): „Man schreibt mir etwas mehr Talent als Andern zu und doch, um einem Feinde, den ich gewohnt bin zu schlagen, eine Schlacht zu liefern, glaube ich niemals genug Truppen zu haben; ich rufe zu mir heran Alles, was ich vereinigen kann.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Kriegskunst Teil 4