Fünfter Abschnitt. - So verging der Anfang des Winters; immer näher kam das neue Jahr, welches bestimmt war, Gabrielen diesen stillern Freuden zu entreißen, um sie in größere Zirkel einzuführen. ...

So verging der Anfang des Winters; immer näher kam das neue Jahr, welches bestimmt war, Gabrielen diesen stillern Freuden zu entreißen, um sie in größere Zirkel einzuführen. Sie sah ihm deshalb mit bangem Widerstreben entgegen.

Eines Abends ward die Gesellschaft weit größer und glänzender als gewöhnlich, viele, die sonst mitten im Geräusch lebten und selten Frau von Willnangen besuchten, traten nach und nach in ihr Zimmer, denn ein ungewöhnlich spät anfangender Ball ließ ihnen zufällig den Abend frei, und sie benutzten diese Gelegenheit, sich vorher hier zu versammeln, wo sie die Frau vom Hause immer zu finden gewiß waren. Unter mehreren Personen, welche Gabriele schon im Hause ihrer Tante gesehen hatte, erkannte diese vorzüglich die Gräfin Eugenia und den jungen Mann, welcher den Antonius vorgestellt hatte; ganz zuletzt kam auch Ernesto hinzu und mit ihm Ottokar.


Frau von Willnangen wurde Gabrielens Erschrecken bei Ottokars Eintritt, ihr hohes Erröten und ebenso plötzliches Erbleichen gewahr, und das bis dahin vergebens gesuchte Geheimnis des jungen Herzens lag nun entschleiert vor ihrem Blick. Ihre Ansicht von Gabrielens Zukunft klärte sich auf, denn ohne Ottokarn genau zu kennen, wußte sie doch genug von ihm, um ihn günstig zu beurteilen. Zum ersten Mal fiel es ihr ein, daß er und Gabriele in einem Hause lebten; daß die ihr eigne Liebenswürdigkeit bei diesem steten Zusammensein sich ihm offenbaren müsse; und daß auch er von ihr sich bald mächtig angezogen fühlen würde, schien ihr gewiß. Sie beschloß daher, von nun an Ottokarn genauer zu beobachten und keine Gelegenheit dazu entschlüpfen zu lassen. Der Gedanke, Gabrielen recht bald unter dem Schutz, am liebenden Herzen eines edeln Mannes zu sehen, war ihr zu tröstend, zu erfreulich, als daß sie sich nicht hätte geneigt fühlen sollen, auf das tätigste dazu mitzuwirken, sobald die Gelegenheit sich darbot. Fürs erste aber wollte sie sich auf bloßes Bemerken beschränken.

Das Gespräch wandte sich diesen Abend sehr bald wieder auf die Tableaux bei der Gräfin Rosenberg. Als die ersten und bis jetzt einzigen, welche man hier gesehen hatte, waren diese Darstellungen noch unvergeßlich, und in den Gesellschaften ward viel herüber und hinüber, preisend und tadelnd, darüber gesprochen. Gräfin Eugenia fand es seit jenem Feste für gut, überall so wie hier, als die erklärteste Widersacherin dieses neuen geselligen Vergnügens aufzutreten. „Ich war herzlich froh“, sprach sie, „als ich einen schicklichen Vorwand ersonnen hatte, mich von der Teilnahme davon loszumachen. Nie hätte ich es ausgehalten; mich bewegungslos von mehr als hundert Augen anstarren zu lassen, dazu gehört ein Grad von Mut, welchen ich mich wenigstens nicht rühmen darf zu besitzen.“

„Und doch waren Sie so gütig, uns auf unserm Privattheater recht oft durch Ihre Erscheinung zu entzücken“, wandte mit einer höflichen Verbeugung der Antonius jenes Abends ein. „Das ist ja ganz etwas anders“, erwiderte Eugenia, „dort auf den Brettern bin ich nicht mehr ich, die Dichtung, die Kunst reißen mich hin, ich sehe die Zuschauer und ihre Blicke nicht mehr. Überdem gehört ein gewisses Talent dazu, um auf der Bühne aufzutreten; aber schön geputzt einige Minuten bewegungslos dastehen, kann jedes Gänschen vom Lande, wenn es nur hübsch ist.“

„Vor allen Dingen ist der hohe Grad von Eitelkeit und Leichtsinn wohl zu erwägen, welcher dazu gehört, sich in phantastischer, oft unanständiger, ja sogar heidnischer Kleidung zur allgemeinen Bewunderung hinzustellen“, sprach langsam bedächtig ein Fräulein Silberhain. Diese junge Dame stand schon seit einiger Zeit auf der zweiten Grenze ihres Lebensfrühlings. Früher war sie eine Naturphilosophin, jetzt wandte sie sich zur Frömmigkeit, weil diese moderner ist, aber sie hatte Schelling und Thomas a Kempis in ihrem Köpfchen noch nicht recht zu einigen gewußt und warf daher Redensarten aus beiden im Gespräch verwirrt und wunderlich durcheinander. Übrigens hing ein fein gearbeitetes Kruzifix an einer goldenen Kette von ihrem Halse herab, ein zweites krümmte sich sehr widerwärtig zu einem Ringe an ihrer Hand, und ihre gemessenen Worte drängten sich mühsam durch die kaum geöffneten, fast regungslosen Lippen.

„Ich begreife nicht, wie man um so nichtigen Zweck seine Identität zu opfern vermag“, fuhr Fräulein Silberhain in ihrer Rede fort, „wie kann ein in seinen tiefsten Tiefen vom Höchsten erfülltes Gemüt so ganz dieses vergessen und dem prunkenden Schimmer irdischer Vergänglichkeit huldigen! Die Stille des Gemüts, das beseligende Gefühl dessen, was unser Ein und Alles sein soll, müssen ja in der aus Tand und flüchtigem Glanz entstehenden Verblendung auf lange von uns weichen, und der verirrte Sinn braucht vielleicht viele Monate, ehe er wieder zur anschauenden Klarheit gelangt.“

„Hätte ich nur einen recht schönen türkischen Shawl gehabt, ich wäre für mein Leben gern dabei gewesen, wenn ich auch nur ein ganz unbedeutendes Nebenpersönchen hätte vorstellen sollen; und was wetten wir? Mein frommes, gelehrtes Schwesterchen würde sich unter dieser Bedingung auch wohl dazu haben bewegen lassen“, rief überlaut das sehr junge Fräulein Fanny Silberhain, indem es sich lachend hinter Gabrielen vor den zürnenden Blicken der viel ältern Schwester verbarg.

„Allerdings“, sprach ein ansehnlicher, schwarz gekleideter Mann, „allerdings wüßte ich wenigstens keine bessere Gelegenheit, um sowohl jene kostbaren Hüllen als überhaupt alle Pracht der Gewänder und auch körperliche Vorzüge ins schönste Licht zu stellen als solche Tableaux. Bei Maskeraden verlieren die ausgesuchtesten Masken sich im Gewühl, und obendrein verhüllen die häßlichen Larven das Gesicht, hier aber wird uns der ungestörteste Genuß der Anschauung des Schönen, verbunden mit der ästhetischen Freude an dem Kunstwerk, welches, gleichsam ins Leben gerufen, vor uns tritt.“

„Echte Freude an der Kunst ist allemal religiös, hier aber, Herr Professor! sehe ich nur die traurige Erscheinung ungebändigten Weltsinns und unverhüllter Eitelkeit“, sprach, sanftmütig zürnend, das Fräulein mit dem Kruzifix.

„Erlauben Sie indessen, meine Gnädige!“ erwiderte der Professor, „daß ich Sie daran erinnere, wie untrennbar die Neigung zur Eitelkeit von jeder höhern Natur ist, die man die organische zu nennen pflegt; bemerkt man sie doch sogar an einigen der edleren Tiergattungen. Sie ganz ausrotten zu wollen, wäre ebenso vergeblich als schädlich, so wie alles, was gegen die Natur anstrebt. Es ist vielleicht unschicklich, hier den nackten Wilden als Beweis, wie tief der Hang zum Putz in unserem Wesen liegt, anzuführen, der sich tattowiert und mit grellen Farben bemalt, um sich zu verschönern, aber blicken Sie nur um sich her, Sie finden bei Reichen und Armen dasselbe, nur anders gestaltet. Daß man sich, schön geschmückt, auch andern gerne zeigt, ist ebenfalls natürlich und war es vom Anbeginn der Welt. Damals, als Weichlichkeit und Prachtliebe das alte Rom seinem Untergange näher führten, war es unter den vornehmen Römerinnen gebräuchlich, sich, wenn sie einander besuchten, nicht nur auf das herrlichste zu schmücken, sondern sich auch durch ihre Sklavinnen mehrere reiche Gewänder und Schmuck nachtragen zu lassen, die sie im Hause der den Besuch empfangenden Dame alsdann sich anlegen ließen, wie Sie alle, meine Gnädigen, aus der weltberühmten Anekdote der Mutter der Gracchen längst wissen werden. Man behauptet, daß diese Sitte auch unter den, allen männlichen Augen verborgen lebenden, vornehmen Frauen des Orients noch heutzutage im Schwange sei. Aber wie ärmlich, wie unbequem, wie ungraziös selbst erscheint diese Art von Schaustellung gegen eine Reihe von Tableaux, welche die glücklichste Wahl unter den Kostüms aller Völker, aller Jahrhunderte frei lassen. Die Pracht der Steine und der Gewänder erscheint in ihnen nur als das begleitende Attribut der Schönheit, des geistreichen Ausdrucks und der anmutigsten Stellungen, und wir können es in der Tat der Gräfin Rosenberg nicht genug verdanken, daß sie mit diesem erhöhten Genuß uns bekannt machte.“

„In welchen wunderlichen Zeiten leben wir! Ein Professor muß gegen Damen die Eitelkeit in Schutz nehmen!“ rief ein alter Herr.

„Mich dünkt, wir leben in einer in dieser Hinsicht recht verständigen Zeit, in welcher man endlich einmal aufhört, die Frauen allein eines Fehlers zu beschuldigen, den ich am liebsten eine Tugend nennen möchte“, erwiderte schnell Ottokar. „Wir Männer mögen uns noch so weise anstellen“, fuhr er lächelnd fort, „wir sind ebensowenig frei von ihm als die Frauen, und ich danke Gott dafür. Der Hang zum Gefallen erscheint mir als die Würze des geselligen Lebens, als die Wurzel aller seiner Freuden und Tugenden, die ohne ihn zugrunde gehen müßten. Man täte ja am besten, in Höhlen und Wälder zu ziehen, wenn niemand mehr das Bestreben zeigen wollte, liebenswürdig zu erscheinen und sogar durch den bloßen Anblick zu gefallen.“

„Sollte denn aus diesen Tableaux, über welche wir so viel streiten, nicht auch für die Kunst manches Gute entstehen können?“ fragte Auguste von Willnangen.

„Doch wohl nur, indem sie mehr Teilnahme an ihr und ihren Erzeugnissen aufregen“, erwiderte Ottokar, „sonst glaube ich nicht, daß sie in dieser Hinsicht von großem Nutzen sind. Sie bleiben doch nur die Kopie einer Kopie der Natur, und zwar eine unvollkommne, denn vieles muß aus jedem Gemälde hier wegbleiben, das doch durchaus dazu gehört, die Hintergründe, die Architekturen, die Landschaften, das Gewölk.“

„Eine angenehme, gesellige Unterhaltung zur Abwechselung mit den ewigen Charaden und Sprichwörtern scheinen sie mir doch wenigstens zu bieten“, sprach Frau von Willnangen, „auch hoffe ich, sollen sie dazu beitragen, die unseligen Jeux d'esprit aus der Gesellschaft zu verbannen, in welchen der arme Geist so gemartert wird, um zu erscheinen, daß er sich endlich ganz in Langeweile auflöst. Nur tut es mir leid, daß die Vorbereitungen zu Tableaux für die kurze Dauer ihrer Erscheinung zu viel Zeit und Mühe kosten.“

„Alles läßt sich vereinfachen“, erwiderte Ernesto, „und ich getraue mir mit sehr wenigen Vorrichtungen, ganz aus dem Stegreif, dennoch manches Ergötzliche in dieser Art Ihnen vorzuführen. Wir brauchen zum Beispiel nur die Flügeltür auszuheben, einen Vorhang vorzuhängen, eine große spanische Wand dahinter zu stellen, und wir haben das Lokal dazu. Einige große Lampen, oder ein paar Dutzend zu einer Fackel vereinigte Wachslichter, und die Beleuchtung ist fertig. Schminke und etliche falsche Bärte für die Herren sind bald herbeigeschafft, und wenn die Damen ihre schönen Shawls zur Garderobe herleihen wollen, so läßt sich mit diesen wenigen Requisiten schon manch guter und glänzender Effekt hervorbringen. Auch für die Kunst selbst könnte auf diese Weise Bedeutendes geschehen, wenn die Gesellschaft einem Künstler erlaubte, mit ihrer Hülfe nicht bloß schon vorhandene Gemälde nachzubilden, sondern seine eignen Gedanken, die oft noch beinah formlos ihm vorschweben, auszuführen. Manches erfreuliche Kunstwerk könnte diesem Spiele seine Entstehung verdanken, wenn ein talentvoller Künstler auf diese Weise gleichsam ein Vorbild von dem sähe, was er auszuführen willens ist; der Zufall würde manches ordnen, manches in ihm erwecken, an das er außerdem nie gedacht hätte, und der aus solchen Proben für die Kunst entstehende Gewinn könnte leicht unschätzbar werden.“

Kaum hatte Ernesto geendet, als schon Auguste von Willnangen und Fanny Silberhain fröhlich aufsprangen und ihn mit Bitten bestürmten, gleich auf der Stelle eine solche Darstellung anzuordnen. Ottokar, Antonius und der größte Teil der Gesellschaft, selbst Frau von Willnangen nicht ausgenommen, vereinigten ihre Bitten mit jenen, und Ernesto mußte dem allgemeinen Wunsche nachgeben; nur tat er es mit der Bedingung, daß es ihm erlaubt sei, seine Figuranten selbst zu wählen. Fanny sammelte sogleich aufs eifrigste alle Shawls ein und wählte dabei in Gedanken den glänzendsten unter ihnen für sich aus; Auguste besorgte so schnell als möglich alles Übrige und trug noch eine Menge zweckdienlicher Sachen herbei, die von frühern Maskenanzügen und kleinen theatralischen Vorstellungen her sich noch in der Garderobe vorfanden. In weniger als einer halben Stunde war alles zum Anfangen der Vorstellungen in Bereitschaft. Mehrere Tableaux folgten nun einander, ernste und heitere, im mannigfaltigen Wechsel, denn Ernesto war unerschöpflich im Erfinden, und Ottokar sowohl als der Professor standen ihm bei der Anordnung treulich bei. Die ganze Gesellschaft geriet in eine so fröhliche Stimmung, daß alle die Wagen überhörten, welche allmählich herbeirasselten, um sie zu einem glänzenderen Feste abzuholen. Nur Fräulein Silberhain saß ernst in sich gekehrt, und wies im voraus alle Einladungen zur tätigen Teilnahme unerbittlich ab, ehe noch eine an sie gelangte. Gräfin Eugenia hingegen hatte eine Weile zugesehen; da es aber Ernesto nicht einfallen wollte, ihr eine Rolle anzubieten, winkte sie Antonius herbei, der eben müßig dastand. Leise flüsterte sie ihm den Auftrag zu, Ernesto auf nicht auffallende Weise an sie zu erinnern und ihm zu verstehen zu geben, daß sie in einem so kleinen, aus lauter Freunden bestehenden Zirkel ihren Widerwillen wohl überwinden werde, und nötigenfalles sich entschließen könne, etwa als Grazie oder Muse aufzutreten. Antonius erklärte ihr sein Entzücken über diesen Auftrag, versicherte, nicht mit Worten ausdrücken zu können, wie geehrt er sich durch dieses holde Vertrauen in seine Geschicklichkeit fühle, und flog in das Nebenzimmer, um ihren Befehl zu vollbringen. Leider aber gelang es ihm durchaus nicht, Ernesto nur auf eine Minute allein habhaft zu werden, es kam ihm sogar vor, als ob dieser ihm geflissentlich ausweiche. Vielleicht hatte Ernesto wirklich von dem ausgesprochenen Wunsch der Gräfin etwas gemerkt und vermied mit Vorbedacht die Gelegenheit, ihn an sich kommen zu lassen, vielleicht lag aber auch die Schuld an der gar zu höflichen Unbeholfenheit des Abgesandten; genug, Eugenia blieb den ganzen Abend unangefochten als Zuschauerin, und war die erste, welche die laute Bemerkung machte, daß die zum Anfange des Balls bestimmte Stunde schon längst geschlagen habe.

Gedankenvoll saß Frau von Willnangen dicht neben Gabrielen in der fernsten Ecke des Zimmers. Sie sah, wie jene jedem Tone Ottokars lauschte, wie ihr Auge entzückt auf ihm ruhte, sooft er in den Tableaux erschien, und das unruhige, fast hörbare Klopfen des jungen Herzens erregte so tiefes Mitgefühl, so bange Sorge in ihrem Gemüt, daß sie fast ebensosehr als Gabriele selbst erschrak, als Ernesto plötzlich vor beiden stand und sie zur tätigen Teilnahme an dem Tableau aufforderte, welches für heute die Reihe derselben beschließen sollte. Doch bald faßte sie sich wieder und stand mit gewohnter Freundlichkeit auf, um ihm mit ihrer jungen Freundin in das Nebenzimmer zu folgen. Gabrielens Hand zuckte in der ihrigen, ihr Blick bat, sie frei zu lassen, doch er ward nicht erhört, und Ernesto erinnerte sie mit komischer Feierlichkeit an das ihm zugestandene Recht, seine Figuranten nach Belieben wählen zu dürfen.

Das Tableau stellte die Nacht vor, die ihren dunkelblauen Sternenschleier über ihre Kinder, den Schlaf und den Tod, ausgebreitet hält. Der Frau von Willnangen hohe Gestalt, der ruhige, milde Ausdruck ihres noch immer schönen Gesichts eignete sich ganz zum Bilde einer stillen, heitern Sommernacht. Zu ihren Füßen schlummerten zwei liebliche, blonde Genien, der eine war mit Mohnblumen geschmückt, der andre, mit der ausgelöschten Fackel, trug einen Kranz von Zypressen. Bunte, phantastische Traumgestalten drängten sich hinter ihr, unter ihnen stand Gabriele, als ein trüber, Unheil verkündender Traum, in ihren langen, schwarzen Schleier gehüllt, unter welchem die goldglänzenden Locken tief herabrollten. Beim Lampenlicht, mitten unter rosenwangigen, schimmernden Gestalten schien sie, ohne alle Schminke, noch blässer als sonst. Sie glich Pygmalions Meisterwerk bei der ersten Regung des erwachenden Lebens. So glühend strahlte ihr dunkles Auge aus dem Marmorgesicht, denn ihr Blick traf auf Ottokarn, der in einiger Entfernung in ihrem Anschaun verloren stand.

Alle Anwesenden erklärten einstimmig dieses Tableau für die Krone von allen, welche dieser genußreiche Abend an ihnen vorübergeführt hatte.

„Ich stimme gern mit Ihnen ein“, sprach Ernesto, „denn die Erfindung dieser Gruppe ist nicht mein, ich habe nur die Träume hinzugefügt. Ich bildete sie nach einer Zeichnung meines leider viel zu früh unter der Pyramide des Cestius zur Ruhe gegangenen Freundes, Carstens“, fuhr er mit bewegter Stimme fort. „Lange fesselte ihn ein trübes Mißgeschick, das wie ein böser Zauber auf seinem Leben ruhte und ihn verhinderte, aus dem Reich der Formen in das der Farben zu dringen. Und da es endlich überwunden war, da sein hoher Genius die Flügel freier zu regen begann, da entschwand er uns ganz. Die Kunst wird ewig um ihren Liebling trauern, um so mehr, da jetzt ein dem seinen ganz entgegengesetztes verderbliches Streben unter ihren Jüngern täglich herrschender wird.“

Die Gesellschaft mußte nun ernstlich zum Aufbruch eilen, denn das Stampfen der Pferde unter den Fenstern mahnte sie immer lauter. In dem dadurch entstehenden Gewimmel fand sich Gabriele plötzlich neben Ottokar. Er beugte sich freundlich zu ihr herab und ergriff ihre zitternde Hand. „Ich fürchte keine bösen Träume mehr“, flüsterte er ihr zu, „seit ich die Vorbedeutung des Unglücks so anmutig erscheinen sah.“ Der fortwogende Strom der Gesellschaft riß ihn im nämlichen Moment fort, ohne daß Gabriele zur Antwort Zeit gewann.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele