An Bord der "Kronprinzessin Cecilie" den 25. JUni 1913, abends 9 Uhr.

Nun geht es in die Nacht hinaus. Noch ist der Abendhimmel schwach gerötet. Über die dunkelnde Wasserfläche blinken von der letzten französischen Insel, die der Landzunge von Cherbourg vorgelagert ist, in regelmässigen Intervallen aufblitzend, zwei Leuchtfeuer. Die Wasserfläche ist nur leicht bewegt, etwa wie die Ostsee bei einer frischen Ostbrise, und doch rüttelt der Wind an einem, wenn man vorne auf dem Oberdeck steht, dass man die gut sitzende Mütze vorsichtshalber auch noch mit der Hand festhalten muss; und beim Herabsteigen, wo der Luftstrom durch einen Gang nachgefahren kommt, stösst er hinter einem her, als ob man in einem Blasrohr sässe.

Eben hört der Gesang vom Zwischendeck her auf. Der offene Teil des letzteren geht gegen den Bug zu in einen gedeckten Raum über. In dem dort herrschenden Dunkel konnte ich nicht recht erkennen, wer dort sitzt. Seit etwa zwei Stunden ertönten dort ununterbrochen weibliche und Kinderstimmen, die langgezogene, psalmartige Lieder, eins nach dem andern, sangen.


Das Zwischendeck scheint mir überhaupt der interessanteste Teil des Schiffes zu sein. Ein überraschender Anblick: wenn man auf dem Promenadendeck gegen vorne zu wandert, hört man plötzlich Stimmengewirre und blickt hinunter auf ein buntes Menschengewimmel. Ein Gemisch der Ärmsten der Armen mit wohlbehäbig aussehenden Bauern und Handwerkern. Alle Alter sind vertreten, von Kindern an der Brust bis zu Grosseltern. Und Nationalitäten auch etliche; aber keine Engländer und Franzosen, da Zwischendeckspassagiere nur in Bremen an Bord genommen werden. Solange sich keine Seekrankheit zeigt, herrscht da offenbar die fröhlichste Stimmung. Barfuss laufende Kinder haben da einen originelleren Spielplatz, als sie wohl zu Hause hatten. Sie jagen herum um die überdachten Kajüteneingänge, klettern an allen erhöhten Gegenständen hinauf und kommen so spielend in die neue Welt hinüber. Die unteren Teile der Strickleitern, die zum Promenadendeck und vorne zum Deckdach hinaufführenden Leitern, alles ist besetzt von Männern und Frauen, die möglichst weit hinausschauen möchten in die Ferne, die ungewisse, der sie entgegenfahren. An geschützten Stellen sitzen Gruppen von Weibern, an andern junge Burschen und Mädchen und erzählen sich Geschichten, die, nach den Lachsalven zu schliessen, sehr lustig sein müssen. Welcher Gegensatz dagegen die Erste-Kajütegesellschaft, die bei erlesenen Speisen, die sie sich nach Herzenslust aussuchen können, den üppigen Saal füllt!

Eben war ich noch einmal draussen. Wir sind jetzt auf der gleichen Höhe mit dem vorgeschobensten festländischen Leuchtfeuer. Aber vor uns, in der Ferne, sieht man eine glänzende Lichterreihe. Es ist die Olympic, das Schwesterschiif der untergegangenen Titanic von der Red Star Line. Sie kam eine halbe Stunde vor der Kronprinzessin auf die Reede von Cherbourg und legt hinter der Mole an, um eine Schiffsladung I. und II. Kajüte und eine Schiffsladung Zwischendecksleute an Bord zu nehmen. Ein mächtiges Schiff, noch grösser als unseres, aber weniger schnellfahrend. Wir werden es bald wieder einholen, sagt mir einer unserer Schiffsleute mit einem Ausdruck der Überlegenheit. Es hatte, ebenso wie die Titanic, keine wasserdichten Abteilungen und ist nun ein halbes Jahr auf dem Dock gewesen, um sich einen Doppelboden machen zu lassen und dadurch das erschütterte Vertrauen der seefahrenden Leute wieder zu gewinnen.