Sein Leben und seine Kunst

Mehr und mehr bricht sich in Deutschland die Erkenntnis Bahn, dass die siebziger und achtziger Jahre des verflossenen Säkulums einen Aufschwung der heimatlichen Malerei gesehen, wie ihn die deutsche Kunst noch niemals erlebt hat. Selbst nicht in den Zeiten, da Dürer und Holbein auf Erden wandelten. Die Freude über die Tatsache wird allerdings ziemlich stark durch das Bewusstsein gedämpft, dass dieser Aufschwung damals eigentlich von niemand recht bemerkt worden ist, ja, dass man ihm förmlich entgegengearbeitet hat. Zum Glück sind die verschiedenen Widerstände, welchen die aufstrebende deutsche Malerei in jenen Jahren begegnete, nicht geeignet gewesen, deren Entwicklung aufzuhalten. Man möchte jene heute fast als nützlich bezeichnen; denn sie haben die einzelnen Künstlerpersönlichkeiten zu einem Kraftaufwand, zu einer Disziplin des Fortschreitens genötigt, die unter günstigeren Umständen kaum stattgehabt hätten. Und wenn unter dieser Situation einzelne Individuen auch schwer gelitten und die größten persönlichen Opfer gebracht haben, so förderte sie doch so etwas wie eine Zuchtwahl. Nur die ganz Starken waren ihr gewachsen und sind siegreich aus dem Kampfe mit ihr hervorgegangen, während viele andre nach den ersten Misserfolgen wieder in die breiten Heerstraßen einbogen, die zwar nicht zu hohen künstlerischen Zielen, wohl aber zum Beifall der leicht befriedigten Zeitgenossen, zu großen Einnahmen, Ämtern und äußerlichen Ehren führen.

Die Wendung im allgemeinen Urteil über jene Starken ist nicht besonders plötzlich eingetreten. Sie ist vielmehr ganz langsam gekommen. Nicht wenig hat dazu der überaus schnelle Wechsel der Kunstmoden während der letzten zwanzig Jahre beigetragen. Richtung auf Richtung sah man erscheinen und wieder verschwinden. Nichts blieb als der Eindruck einer Ungeheuern Kraftvergeudung und des Vielgestaltigen. Die Kunst selbst sah man nirgends gefördert, und indem man das Geleistete mit dem verglich, was war, gewann man allmählich die Überzeugung, dass die Schöpfungen, über die man sich einst geärgert, die man verlacht und verhöhnt hatte, doch Vorzüge und Qualitäten besaßen, die man an den Werken der Neuesten schmerzlich vermissen musste. Man begann einzusehen, dass man nicht nur sich geirrt, sondern einfach ungerecht gehandelt hatte. Denn worüber war man damals in Empörung geraten? Dass diese Maler gewagt, die Natur jenseits eines akademischen Schemas zu sehen, und sich bemüht hatten, die Stimmungen und die Ideen der Gegenwart zum Ausdruck zu bringen. Sie waren damit doch nur dem Beispiel gefolgt, das die großen Meister aller Zeiten gegeben. Man selbst aber war in allerlei romantischen Einbildungen befangen gewesen und hatte das zeitlich Bedingte der alten Kunst für das Wesen der Kunst überhaupt gehalten. Je deutlicher man diesen Irrtum erkannte, um so klarer wurde man sich darüber, dass man eine herrliche deutsche Malerei hatte blühen gesehen, ohne sich im Geringsten um sie zu kümmern. Glücklicherweise war die Blüte noch nicht ganz vorüber. Viele der Künstler, die man zu der Zeit, da sie ihre köstlichsten Werke geschaffen, mit absoluter Nichtachtung gestraft hatte, waren noch am Leben. Von den damaligen Unterlassungssünden konnte also einiges wenigstens gutgemacht werden. Böcklin war einer der ersten, die man zu ehren begann. Seine Romantik, sein Verhältnis zur Renaissancekunst brachten schnelle Beziehungen. Dann kam Thoma an die Reihe, der viel Verwandtes mit dem Schweizer Meister besaß, aber doch schon Verbindung mit der besten neueren Malerei gesucht hatte. Ihm folgte Leibl; von diesem gelangte man zu Liebermann. Später rückte Trübner heran, und mit ihm trat dann der Kreis um Leibl in das Licht der öffentlichen Gunst. Nur einer ist bei dieser großen nachträglichen Anerkennung etwas stiefmütterlich behandelt worden: Fritz von Uhde, der doch so tapfer mit all den andern in der vordersten Reihe gekämpft hatte, und von dessen Werken man wohl behaupten darf, dass sie zu den Besten gehören, welche die neuere deutsche Malerei hervorgebracht.


Das hat natürlich seine Gründe. Diese liegen zum Teil darin, dass Uhde bereits in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dank dem allgemeinen Interesse, das er mit dem Inhaltlichen seiner Bilder erregte, als erster aus der Garde der großen neueren deutschen Maler, wenn nicht Anerkennung so doch Beachtung im reichsten Maße gefunden hat. Man fühlte sich daher vielleicht ihm gegenüber nicht in so drängender Schuld wie bei den andern. Von entscheidenderem Einfluss aber scheint doch wohl seine Stellung innerhalb der Münchner Kunst gewesen zu sein. Uhde ist der einzige von allen diesen Malern, die eine neue Kunst suchten und fanden, der München treu geblieben ist, obwohl er seine Kunstideale jahrelang allein gegen den übermächtigen Genius loci verteidigen musste. Umgeben von Genossen, die nichts oder doch nur wenig mit ihm gemein hatten, ist er in eine eigentümlich isolierte Stellung geraten, die ihm zwar ein ehrenvolles Relief verlieh, ihn aber doch etwas der allgemeinen Anerkennung, dem Bereiche der höchsten Bewunderung entrückt hat. Man kann es Uhde gar nicht hoch genug anrechnen, dass er sich dem Münchner Kunstbetriebe stets ferngehalten. Nichts hätte ihn gehindert, seine künstlerischen Erfolge ebenso auszunutzen wie manche andre Kollegen mit berühmten Namen.

Aber ihm war die Kunst viel zu sehr Herzenssache, als dass er ein Geschäft daraus hätte machen mögen. Außerdem würde es dem Sinn der von ihm vertretenen Anschauungen vollkommen widersprochen haben, sie in ein Schema oder in irgendeine Methode zu bringen. Denn wenn Uhde auch immer bemüht gewesen ist, seiner Kunst inhaltlich eine tiefere Bedeutung zu geben, so ist sie ihrem Charakter nach doch durchaus empirischer Natur und lebt von den Entdeckungen, die er von Fall zu Fall in der Wirklichkeit macht. Für diese Art fehlt es in München ein wenig an Verständnis. Nicht aus Mangel an künstlerischer Einsicht, sondern weil man in der süddeutschen Kunstmetropole der praktischen Gewohnheit huldigt, alle künstlerischen Errungenschaften sogleich auf eine Formel zu bringen, die eine nützliche Verwendung ad infinitum gestattet. Diese Gewohnheit hat München als Kunststadt groß, es zur Bewahrerin vieler wertvoller künstlerischer Traditionen gemacht; ist anderseits aber auch der Grund dafür, dass man dort jeden Fortschritt nur bis zu einer gewissen Grenze gelten lässt und eine Weiterbewegung häufig deshalb nicht mehr beachtet, weil sie den durch Erlangung der Formel gemachten Gewinn in Frage stellen könnte. Der Wille zur Tradition zwingt alles, selbst die Individualität des Künstlers zur Beständigkeit und verhindert bis zu einem bestimmten Grade die Weiterentwicklung einer Richtung oder die einer Persönlichkeit. Dass diese Sachlage bestimmte Vorteile, zum Beispiel einen einheitlichen Charakter der Münchner Kunst, ein seines Ausdrucks und seiner Wirkung sicheres Handwerk, einschließt, ist ohne weiteres zu begreifen; aber sie bildet auch die Erklärung dafür, dass alle die Künstler, denen an ihrer Weiterentwicklung gelegen, die nicht daran denken, immer und ewig dasselbe zu machen, denen sozusagen die absolute künstlerische Bewegungsfreiheit teuer ist, sich, nachdem sie alles Lernbare erlernt, meist aus München entfernen, um „Werdende“ bleiben zu können. So haben viele, die einst Schulter an Schulter mit Uhde gekämpft, den gefährlichen Boden Isarathens verlassen. Er ist allein zurückgeblieben und hat sich so tapfer gegen den Münchner Geist behauptet, dass er eigentlich gegen die eben ausgesprochenen Behauptungen zeugen würde, wenn er nicht eben die rühmliche Ausnahme einer Regel vorstellte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz von UHDE 1848-1911 Sein Leben und seine Kunst
Uhde VS 006 Studie aus Holland. Bleistiftzeichnung

Uhde VS 006 Studie aus Holland. Bleistiftzeichnung

Uhde VS 007 Studie zur „Trommelübung“ (vgl. S. 43)

Uhde VS 007 Studie zur „Trommelübung“ (vgl. S. 43)

Uhde VS 008 Kohlestudie zu dem Bilde  „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ (vgl. S. 50)

Uhde VS 008 Kohlestudie zu dem Bilde „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ (vgl. S. 50)

Uhde VS 009 Fritz von Uhde im Beginn der 1880 Jahre Nach einer Aufnahme aus dem Atelier Franz Werner in München

Uhde VS 009 Fritz von Uhde im Beginn der 1880 Jahre Nach einer Aufnahme aus dem Atelier Franz Werner in München

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