Geist und Wesen der Kunstwerke

In der Meinung, dass Geist und Wesen der Kunstwerke und der Künstler sich in dem äußern, was inhaltlich zu den Begriffen spricht, nimmt die Mehrzahl der Menschen ganz Abstand davon, sich Rechenschaft darüber zu geben, mit welchen Mitteln der Künstler seine Wirkungen hervorbringt, obgleich diese doch so untrennbar vom Wesen eines Kunstwerks sind wie die Materie vom Geist. Daher ist es vielleicht nicht überflüssig, kurz von dem eigentlich Künstlerischen in Uhdes Bildern zu reden, von der Art, wie er seine Ideen gestaltet. Denn die Idee in einem Kunstwerk ist überhaupt nichts wert, wenn ihr das Gestaltungsvermögen des Künstlers nicht zu einem sinnlich überzeugenden, die Phantasie des Betrachtenden in ganz bestimmte Bahnen drängenden Leben verhilft. Die Malerei, die Kunst der zweidimensionalen Fläche, ist darauf angewiesen, Illusionen hervorzurufen. Die Mittel, mit denen allein das geschehen kann, sind Zeichnung und Farbe; im höchsten Sinne sogar nur die Farbe, in der die Zeichnung völlig aufgegangen ist. Malen heißt eigentlich, Farben auf einer Fläche in einem schönen Verhältnis, in einer sinnvollen Art so ordnen, dass bestimmte Illusionen und durch diese wieder mehr oder minder deutliche Vorstellungen auf dem Wege der sinnlichen Wahrnehmung zustande kommen. Unter diesen Vorstellungen, die durch die Malerei erzeugt werden können, sind die wichtigsten die der Räumlichkeit, die der Körperlichkeit und die der Bewegung, des belebten Daseins. Zum Teil sind diese Vorstellungen von einander bedingt. Die der Räumlichkeit ist eine Vorbedingung dafür, dass Körperlichkeit und Bewegung vorgestellt werden können. Beide sind unmöglich ohne ein Vor und Zurück oder Zurseite. Es ist daher für einen Maler, der sich bemüht, in einem Bilde eine überzeugende Illusion der Wirklichkeit zu geben, vor allem nötig, nach dem Eindruck des Räumlichen in seiner Darstellung zu streben. Die Art, deren sich Uhde zur Erreichung dieses Zweckes in seinen Werken bis etwa 1881 bedient, ist nicht sonderlich originell. Erst da, wo er die Raumillusion in seinen Bildern dazu benutzt, um gewisse Stimmungen hervorzubringen, kommt seine Individualität zum Ausdruck. Es war schon gesagt worden, dass die Stimmung der Uhdeschen Bilder hervorgerufen wird durch ein zartes Hellicht. Um die Wirkung der Helligkeit für das Auge des Betrachtenden zu steigern, hat der Künstler lange Jahre hindurch die Lichtquelle für seine Darstellungen in den Hintergrund der Bilder gelegt, damit aber zugleich erreicht, dass diese Beleuchtung die Raumwirkung erhöht, indem der Raum sich in die Unendlichkeit dieser Lichtquellen zuletzt zu verlieren scheint. Da er zugleich die Gestalten seiner Bilder im wesentlichen in nächster Nähe der Lichtquellen anordnet, gewinnt er nicht nur Dunkelheiten im Bilde an einer Stelle, wo er sie als Gegensatz zur Steigerung der Illusion des stärksten Lichtes braucht — er erhält auch den Vordergrund frei, um ihn, der ja farbig ist, als Licht- und Stimmungsträger benutzen zu können. So findet man bei fast allen Uhdeschen Darstellungen in Innenräumen ein Fenster im Hintergrunde, das nicht nur als Lichtquelle dient, sondern auch, weil man auf eine Straße, ins Grüne oder gar in eine weit sich ausdehnende Landschaft blickt, die Illusion des Raumes für den Betrachter des Bildes erweitert und ungewöhnlich stark und lebendig macht. Zugleich aber gibt dieser helle Fleck im Hintergrunde der Komposition den Halt. Ihn nimmt das Auge als kräftigsten Reiz zuerst wahr und von ihm aus folgt es dem alle Gegenständlichkeiten ordnenden Wege des Lichtes, das sich in Innenräumen naturgemäß am stärksten auf dem Fußboden sammelt. Nicht ohne Vorbedacht wählt der Künstler für diesen gern ein Material, das geeignet ist, das Licht lebhaft zurückzustrahlen; also abgenutzte Fliesen oder glänzend gewordenes oder gemachtes Holz. Er erreicht damit, dass der Fußboden nicht die ihm eigentümliche Farbe, sondern etwas Immaterielles, ein schwach farbiges Licht reflektiert. Dadurch scheinen Uhdes Innenräume, obgleich in den früheren Bildern gar nicht besonders hell gemalt, von Licht überzuströmen, von einem Licht, das alles Arme und Dürftige verklärt, das Hässliche schön macht und mit seinem goldenen Glanz Poesie und Heiterkeit auch dort verbreitet, wo Not und Sorge wohnen. Man sehe sich daraufhin nur sein „Lasset die Kindlein zu mir kommen!“, „Das lesende Mädchen“, „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast!“ in seinen beiden Fassungen, „Das Abendmahl“, „Am Fenster“ und ähnliche Bilder an.

In etwas veränderter Weise geht er in seinen Darstellungen innerhalb von Landschaften vor. Hier sucht er die Illusion des Räumlichen dadurch zu erhöhen, dass er den Horizont möglichst hoch legt, oder dass er durch perspektivische, im Vordergrund beginnende und zuweilen ganz stark betonte Linien den Blick des Betrachtenden in eine endlos scheinende Ferne leitet. Die Aktion des Lichtes in die Luft zu verlegen, vermeidet der Lyriker Uhde, er benutzt dazu nur das Terrain und ist also auf dieses als Stimmungsträger fast ganz angewiesen. Da es in Freilichtdarstellungen im allgemeinen keine besonders sichtbar zu machende Lichtquelle gibt, ist Uhde hier auch stets auf geschlossene, von der Lichtführung unabhängige Komposition bedacht. Seine Freilichtbilder lassen sich mit einigen Ausnahmen, zu denen, wie schon erwähnt, die „Trommelübung“ gehört, nicht, wie manche andre seiner Bilder, in verschiedene Motive auflösen. Uhdes erste Schöpfungen dieser Art lassen erkennen, dass sie in einer Zeit entstanden sind, wo die Maler ihre Schöpfungen auf Grau stimmten, um sie lichtvoll und luftig zu machen. Alle Farben werden mit diesem Grau gebrochen. Doch wird man finden, dass bei Uhde neben dem Grau schon ein Gelbbraun zum Vorschein kommt, dass mit den Jahren mehr und mehr Besitz von seinen Farben nimmt und sie immer leuchtender, intensiver werden lässt. Diese Steigerung der Farbe ist so allmählich vor sich gegangen, dass des Künstlers Bilder um 1900, zumal er nun auch die Wirkungen des unmittelbaren und reflektierten Sonnenlichts zu malen liebt, in ihrer Farbenfülle und Leuchtkraft zu den stärksten in den Ausstellungen gehören. Und das Erreichte ist umso höher zu schätzen, weil es das Produkt einer Entwicklung, nicht ein solches der Tagesmode ist. Denn niemand wird behaupten dürfen, dass Uhdes Farbe und sein Impressionismus in Beziehung zu bringen sind zu den Erscheinungen der französischen Malerei, die in der Berliner Kunst eine so heftige Umwälzung herbeigeführt haben. Je mehr des Künstlers Erkenntnis vom Wesen des Lichts und der Farbe wuchs, um so freier wurde seine Technik. Man kann nicht sagen, dass Uhdes erste Bilder nach seiner Rückkehr von Paris einen ängstlichen Maler verraten. Vielmehr hat sein Vortrag schon damals eine erstaunlich sichere Breite; aber die Zeichnung führt neben der Farbe noch ein ziemlich selbständiges Dasein. Der Einfluss Menzels ist, wie bei Liebermann, unverkennbar. Der Anschluss an Bastien-Lepage gibt dem Künstler Veranlassung, die Zeichnung zu einer ruhigen, alle entbehrlichen Intimitäten ausschaltenden großen Wirkung zu bringen. Die Farbenflächen erscheinen dabei einheitlicher organisiert, weil auch die Lichtwirkung vereinfacht wird. Schließlich verschwindet die an sich strenge Zeichnung von Uhdes Bastien-Lepage-Periode, die etwa um 1885 ihren Höhepunkt hat, ganz, um einer großzügigen, breiten, durchaus von der Farbe ausgehenden Malerei zu weichen. Des Künstlers Vortrag wird flüssig, sicher und energisch, ohne die Spur einer Manieriertheit. Uhdes Malweise in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat nichts Leidenschaftliches, aber sie ist darum keineswegs temperamentlos. Sie ist der Ausdruck der vollkommenen Meisterschaft, als deren reifste Schöpfung wohl die „Atelierpause“ angesehen werden muss.


Nach 1900 wechselt der Charakter von Uhdes Malerei. Seine Hochachtung vor dem schönen, großen Vortrag ist im Sinken. Er hat erkannt, dass dieser nicht alle Wirkungen, die er erstrebt, hergibt, dass die Malerei heut andre Probleme zu lösen hat als die, welche die unsterblichen Meister des Pinsels, Hals und Velazquez, vor sich sahen. Er begreift, dass es jetzt viel wichtiger ist, in einem Malwerk den zitternden Schein bewegten Lebens zum Ausdruck zu bringen, als sich einer Kalligraphie des Malens zu befleißigen; dass die sinnliche Wirkung des Bildes für das, was er jetzt will, die Hauptsache sei. Aus dieser Erkenntnis heraus arbeitet der Künstler seit etwa sieben Jahren mit kurzen, fast strichelnden Pinselzügen, mit nicht sehr vielen, aber in sich reich nuancierten Farben, und seine Meisterschaft verrät sich darin, dass er mit absoluter Sicherheit die richtige Farbe an die richtige Stelle setzt, zwar keine stilvolle, aber eine sehr ausdrucksvolle Malerei gibt, mit der er Wirkungen und Bilder hervorbringt, die in jedem Zuge verraten, dass sie der Hand eines Auserwählten ihr Dasein verdanken. Aber auch der Empfindung und dem Geiste eines solchen. Denn, wenn Uhde in den zuletzt entstandenen Bildern seiner Töchter im Grünen oder am Klavier nichts gäbe als einen von allem menschlichen Interesse losgelösten Natureindruck, so würde niemand in diesen Leistungen etwas Besonderes sehen. Jedoch Uhde empfängt, wie jeder große Künstler, die Natur mit den Augen und mit dem Herzen zugleich. Er kann sie nicht wiedergeben, ohne ihr von seinem eignen Wesen mitzuteilen. Auf Uhdes Wesen, auf seiner geraden, guten und liebevollen Persönlichkeit beruht die Wirkung seiner Bilder, auch jener letzten, von denen er meint, sie seien die wahrsten und objektivsten von der Welt. Er muss eben seiner Anlage folgen, die ihn dazu bestimmt hat, Malerei als die Kunst zu üben, die durch die Augen zu den Seelen der Menschen spricht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz von UHDE 1848-1911 Sein Leben und seine Kunst