Hat Russland eine Übermacht in Europa?

Ein Patriot kann die Vereinigung Europas gegen Russland und den Anschluss der deutschen vereinigten Großmacht nicht wünschen, weil dieselbe auf einer dogmatischen, d. h., politisch gedacht, ganz leichtfertigen Basis ruhen und in ihren Folgen für Europa und für die deutsche Großmacht besonders ohne Garantie einer endlichen Ruhe sein würde.

Der Schwerpunkt der Macht fiele von Petersburg nach Paris und die orientalische Frage würde als okzidentale auftauchen. Deutschland aber würde in jedem Falle Nachteile, in keinem Vorteile haben, und mag sich doch der Geschichte erinnern, bevor es sich auf Pläne einlässt, deren Entstehung es gar nicht einmal kennt, auf Pläne, die ein schweigsamer Mann, der Napoleon heißt, ausgedacht hat *).


*) Ich spreche mich nicht über den neuen Oranier aus, weil ich auch im kleinsten nicht beitragen will, eine gehässige Stimmung gegen Frankreich zu erwecken; einem Deutschen kann nur an einer selbstständigen Stimmung in Deutschland liegen. Wie wenig Verlass aber auf die Solidarität der liberalen Interessen sein mag, werden die am besten beurteilen, welche jetzt nach einer französischen Allianz schreien. Es sind genau dieselben, welche vor kurzer Zeit sich kaum in ihren Ausdrücken über die Tyrannei des jetzigen Leiters der geschichtlich berühmten „Solidarität der Interessen für Freiheit und Recht“ zu mäßigen wussten. Vielleicht finden sie auch in dieser Betrachtung ein Korrektiv für ihre eigene Handlungsweise und die Verlässlichkeit einer Parteipolitik auf dem Gebiet der internationalen Angelegenheiten.

Mit allen dem sagt aber ein Patriot noch lange nicht aus, dass Russland alle Prätensionen nachgesehen werden sollen (am wenigsten, dass man sich ihm zu nähern oder gar zu alliieren habe); er sagt noch nicht aus, dass man den Krieg so sehr fürchten müsse, um aus Furcht seine Selbstständigkeit aufzugeben; er sagt noch lange nicht aus, die türkische Frage gehe Deutschland nichts an und verlange kein selbstständiges Auftreten der vereinigten deutschen Großmacht. Er verwirft einstweilen nur den eingeschlagenen Weg und Versuch einer Europäischen Allianz gegen Russland, weil sie eine scheinbare Basis nur in der vagen Idee eines Europäischen Gleichgewichts finden würde, welche schon der weise Klüber ganz aus den völkerrechtlichen Verhältnissen verbannen möchte; denn es gibt kein Europäisches Gleichgewicht, hat nie eines gegeben und wird nie eines geben. Alle Politik ist Machtfrage.

So aufgefasst hat noch nie ein Vernünftiger in Abrede gestellt, dass Jeder einzelne Staat, mehrere Staaten, alle Staaten gegen denjenigen mit Wort und Tat auftreten dürfen und müssen, welcher sich in einer Weise vergrößert, dass die Selbstständigkeit Eines, mehrerer oder aller Staaten dadurch dauernd bedroht wäre.

Ob eine Vergrößerung diesen Charakter hat, ist häufig eine sehr schwierige, ja sogar unlösliche Frage.

Glücklicher Weise lässt sie sich in dem vorliegenden Falle genau und unzweifelhaft umgrenzen.

Russland hat sich zur Großmacht emporgearbeitet und bedarf, um als solche zu existieren, den ungehinderten Verkehr mit der übrigen Welt durch den Sund und die Dardanellen. Es konnte nicht ruhen, bis es den Küstenstrich an der Ostsee und am schwarzen Meere gewonnen hatte, und weil dieser Besitz Lebensfrage für Russland ist, hat es auch die Erwerbung durchgesetzt, und Europa braucht sich darum nicht als in seinen Interessen bedroht anzusehen.
Europa dagegen wird nie zugeben, solange es Kraft hat zu widerstehen (und es wird sie bleibend haben), dass Russland die beiden Schlüsselburgen am Sund und an den Dardanellen besitze, ja nicht einmal, dass es in diesen Staaten mehr Einfluss gewinne, als jedem andern Europäischen Staate auch zusteht; d. h. mit klaren Worten, Europa wird keine Gebietsvergrößerung oder indirekte Machtausdehnung Russlands auf Europäischer Seite zugeben; Russland wird sich in dem bis jetzt gewonnenen Besitz und der freien Bewegung durch die Wasserstraßen nicht hemmen lassen.
Ebenso klar ist das Interesse der vereinigten deutschen Macht den russischen gegenüber, wie sehr es auch vernachlässigt worden sein mag, seit der unglücklichen heiligen Allianz und der noch unseligeren Solidarität der konservativen Interessen.

Wie Russland des freien Zuges durch den Sund und die Dardanellen bedarf, so bedarf Deutschland des freien Zuges durch den Sund und die Donau, das schwarze Meer und die Dardanellen. Für den unabhängigen Sund zu sorgen ist, vor allen auswärtigen Pflichten, Preußens erste Pflicht und Lebensaufgabe. Jeder Versuch Russlands eine exklusive oder bevorzugte Politik in Kopenhagen zu finden, ist für Preußen in erster Linie Grund zum äußersten Widerstande, Grund selbst zum gerechtesten Kriege. Für die freie Donau, ein freies schwarzes Meer und ein unabhängiges Konstantinopel zu sorgen ist Österreichs Pflicht, ja der eigentliche Grund seiner Stellung als Großmacht.
Österreich, Preußen und Deutschland haben also das nächste Interesse an der orientalischen Frage, was auch schon die Geschichte beweist, denn kein Volk hat mit den Türken mehr, öfter und länger gekämpft, als das deutsche. Russland hat es nur angetreten, den bereits abgeschwächten Feind vollends zu demütigen, und Frankreich, das uns jetzt lockt, hat Österreich ein volles Jahrhundert gehindert, seine Stellung im Osten würdig zu vollziehen.
Diese politische Notwendigkeit zwischen Russland und Europa, zwischen Russland und der vereinigten Deutschen Großmacht will zu einem definitiven völkerrechtlichen Abschluss kommen; der Inhalt aller sich kreuzenden Bestrebungen heißt die orientalische Frage.

Im Großen und Ganzen könnte diese Frage längst geregelt sein. Sie ist es aber nicht, und namentlich deshalb nicht, weil Russland bereits vertragsmäßig drei Schritte über die politisch-notwendige Grenze hinaus hat tun können. Europa hat nicht zur rechten Zeit aufgemerkt, sonst könnte das schwarze Meer kein geschlossen Meer, die Donauländer nicht unter einem Protektorat, die Donaumündung nicht unter einem unmoralisch ausgebeuteten Verschluss sein. An diesen drei Zugeständnissen und durch die ähnliche Religion spinnt sich der russische Ehrgeiz weiter.

So verletzend für Europas Interessen alle diese vertragsmäßigen vielfach anerkannten und garantierten Rechte Russlands sein mögen, so würde doch die Europäische Diplomatie, eben weil sie den Umstand selbst verschuldet, kaum versucht haben, Russland energisch entgegen zu treten, wenn es nur seine bestehenden Rechte geltend gemacht hätte.

Russland hat aber eine Ausdehnung dieser Rechte versucht, und es ist wichtig, den Umfang dieser Neuerung ohne Vorurteile zu betrachten, weil davon der Entscheid abhängt, ob ein Europäischer Krieg deshalb gerechtfertigt ist oder nicht. Russland hat mit der Türkei einen Krieg begonnen, weil sein Anspruch auf ein erweitertes Protektorat über die griechischen Untertanen des Sultans nicht gutwillig eingeräumt wurde.

Russland hat türkisches Territorium besetzt und sich in den Donaufürstentümern, jedoch mit der ausdrücklichen Erklärung, dass es keine Gebiets-Vergrößerung intendiere, und nach ausgetragenem Streit die Donaufürstentümer wieder herausgeben wolle, festgesetzt.

Diese beiden Tatsachen kollidieren nicht mit der Türkei allein, sondern in erster Linie mit Österreich, resp. der vereinigten deutschen Großmacht, in zweiter Linie mit ganz Europa.

Die öffentliche Meinung von Europa hat den Zar getadelt, einstimmig: über die Form des Bruchs und den Beginn des Streites, weil er dadurch den Frieden Europas unterbrochen hat; geteilt über den Inhalt der Forderung, je nachdem die Einen an eine gerechte Behandlung der christlichen Untertanen glauben, die Andern nicht.

Der letzteren Meinung sind jetzt die verbündeten Großmächte, indem sie ausdrücklich erklärt haben, dass der Preis ihres Beistandes in einer gleichen und allgemeinen Regelung der Rechte der christlichen Untertanen in der Türkei bestehen werde. Auch ist kein Zweifel, dass Russland, wenn es in Verbindung mit den übrigen Mächten und wie es im Geiste der Zeit liegt, für die Christen jeglicher Konfession ein festes Recht verlangt hätte, eben so viel in der Meinung Europas gewonnen hatte, als es jetzt dadurch verloren hat, dass es für sich allein und nur über die griechischen Christen ein Protektorat und eine Bevorzugung vor den übrigen Mächten verlangte. Denn bei seinem jetzigen Verfahren mussten Hintergedanken sein, und diese mussten dem übrigen Europa gefährlich erscheinen.

Eben so wenig Wert als diese Versicherungen, welche die Religion allein zum Vorwand nahmen, wegen der damit notwendig verbundenen Hintergedanken haben, eben so wenig faktischen Wert hat die Versicherung Russlands, wie feierlich und so oft sie erfolgt sei, dass es keine Eroberung an der Donau beabsichtige.

Diese Versicherung wurde von allen unterrichteten Staatsmännern von Anfang an mit misstrauischen Augen angesehen, nicht weil man an den Wortlaut nicht geglaubt hätte, sondern weil man sich der Intrigen erinnerte, wodurch vorerst ein ähnlich totgeborenes Reich, wie es Griechenland im Süden ist, an der Donau von der Türkei losgerissen werden sollte. Dann hätte freilich Russland nichts unmittelbar für sich erobert und wäre dem Wortlaut seiner Versprechungen nachgekommen. In der Sache aber hätte es einen ungeheuren Schritt vorwärts getan, über die Barriere hinaus, welche in zweiter Linie im Interesse von Europa liegt, in erster Linie Lebensfrage für Österreich ist. Und dieses Misstrauen hat sich durch die Aufstände der türkischen Griechen und die Intrigen in Serbien, deren Umfang noch nicht, deren Tendenz ganz klar ist, gerechtfertigt, und verwickelt die Frage immer mehr und mehr.
So ist die ursprüngliche Sachlage.
Merkwürdig dabei sind zwei Punkte:

1) dass Österreich, welches am nächsten und in seinen wichtigsten Intereisen beteiligt ist und der Natur der Sache nach am wenigsten bloßer Zuschauer bleiben darf, ruhig verblieb, und erst jetzt eine vorsorgliche Demonstration gegen die Rebellion der Griechen und die dahinterliegenden Pläne macht. Dass ferner Österreich aus diesem politischen Fehler, jetzt, wo Gefahr im Verzug ist, mehr und rascher auf die Seite der Westmächte getrieben wird, als seinen Interessen gut ist; dass endlich Österreich die absolut notwendige Verbindung der drei deutschen Mächte nicht längst vor aller Welt geschlossen und ihr Programm dargelegt hat. Was Österreich an der Donau betrifft, muss Deutschland und Preußen in jedem Nerv fühlen. „Haben die Russen Konstantinopel, so stehen sie zwei Jahre darauf in Königsberg", sagt Friedrich der Große. Oder will Preußen und Deutschland den politischen Grundfehler wiederholen, wo sie Österreich in Italien und Ungarn aus kosmopolitischem Schwindel nicht zu Hilfe geeilt sind, und es Russland in die Arme getrieben haben.

2) Ebenso merkwürdig, als dass Österreich nichts tat, ist, dass die Westmächte, die nur in zweiter Linie dabei interessiert sind, sich jetzt plötzlich in einem Kriege gegen Russland befinden, wozu Rüstungen gemacht werden, wie sie Europa kaum gesehen; dass aus diplomatischen Verhandlungen über Nacht ein Europäischer Krieg herausgesprungen ist; fertig, geharnischt als wäre derselbe von Anfang an in der Absicht der Verhandlungen gelegen.
Sieht es nicht genau so aus, als hätte irgendeine geheime Macht unter dem Schein, als handele es sich um den Frieden um jeden Preis, die friedliche Quadrupelallianz von Frankreich, England, Österreich und Preußen erst zusammentreiben und dann diese lose gebundene Allianz selbst plötzlich mit dem Kriege überraschen wollen?

Dieser Plan ist zur Hälfte gescheitert. Österreich und Preußen haben sich nicht überraschen lassen. England ist hineingetrieben wider Willen seiner Staatsmänner, sein Volk nur durch den Eindruck von der Massacre bei Sinope, die dem größten politischen Fehler gleichzuachten ist. Nur Frankreich hat durchgeführt, was es von Anfang an wollte, als es die Frage von den heiligen Orten aufstachelte, bis zu dem Brief des Kaisers an den Kaiser, der eine Wendung zum Frieden vor einem Kampf unmöglich macht.

War etwa Frankreich die geheime Macht? Dann ist sehr die Frage, ob der Krieg der geführt wird, begonnen worden ist, um Russlands Übermacht zu begegnen, oder nicht vielmehr Frankreichs Übermacht zu begründen.
Und wenn Russland keine Übermacht hätte?

Russland hat keine Übermacht; man hat den Glauben daran künstlich erzeugt. Diesen Grundfehler teilt die russische Diplomatie mit allen Parteien und fast allen Regierungen des Kontinents, den deutschen großen und kleinen insbesondere. Seit dreißig Jahren hat man aus Russland einen Völkerpopanz gemacht, und dies trägt jetzt seine Früchte, bitter für Europa, ebenso bitter für Russland selbst. Es hat sich dadurch ein Hass in Europa gegen Russland festgesetzt, der jetzt die beste Propaganda für die ehrgeizigen Plane Louis Napoleons macht; es hat sich dadurch in Russland ein barbarischer Hochmut gegen Europa festgesetzt, der den Zaren über seinen eigenen Willen hinaustreibt und ihm in einem Jahre all seinen Ruhm in Europa getrübt hat. Man hat den Wahnsinn als Weisheit gepredigt, dass Russland Hort der konservativen Interessen sei und hat der übergreifenden Macht dadurch eine Handhabe an eigene innere Angelegenheiten Deutschlands gegeben; man hat durch diesen Wahnsinn einen andern erzeugt, als wäre die Demütigung Russlands eine Demütigung der konservativen Interessen in Deutschland selbst; es gibt. Narren genug, die von einem Sieg über Russland eigene Freiheit, wie sie sie wünschen, erwarten.

Aus diesen falschen, künstlich erzeugten Gründen ist der Krieg gegen Russland in Deutschland populär, aus diesen Gründen wird die Menge täglich tauber gegen das, was eine umsichtige Politik vorschreibt. Indem die Diplomatie Parteistichworte auf Völkerverhältnisse übertragen hat, hat sie alle und jede gesunde Basis verloren.

Wir sagen Russland hat keine Übermacht. Jede Europäische Großmacht ist für sich allein in Stande, sowohl was Truppen, als was Mittel und energische Anwendung derselben betrifft Russland zu widerstehen. Diesen Beweis würde Fürst Schwarzenberg für Österreich geliefert haben; darauf bezieht sich sein Wort, dass er die Welt durch ungeheuren Undank in Erstaunen gesetzt haben würde.

Wo kann da Übermacht sein? Und wenn Russland auf deutsche Kabinette zu viel Einfluss geübt hat; so ist nicht seine Übermacht schuldig, sondern die Eifersucht der deutschen Kabinette aufeinander.

Und wer war es denn, der in blindem Neid und blindem Ehrgeiz Russland darin unterstützt hat? War es nicht England, war es nicht Franks reich, die uns in Dänemark demütigten, die uns in Italien die Revolution entgegenjagten?
Russland hat keine Übermacht; es hat es kaum über die Türkei. Hat man die Lage der Russen 1829 vergessen; sieht man mit offenen Augen nicht, was heute an der Donau geschieht, wo man deutsche Generale herrufen muss, weil der russische Oberfeldherr seinem Gegner nicht gewachsen ist?