Wolf, Gerson (1823-1892) Pädagoge und Geschichtsforscher

Wolf, Gerson Dr. Phil., Pädagoge und Geschichtsforscher, geboren am 16. Juli 1823 in Holleschau (Mähren), † am 29. Oktober 1892 in Wien. In seiner Vaterstadt, berühmt als Sitz hervorragender rabbinischer Kapazitäten (Sabbatai Kohen, genannt Schach), erhielt er den ersten hebräischen Unterricht und wurde nebst dem von dem damals daselbst weilenden Regimentsarzte Egenter, welcher um diese Zeit Pseudonym mehre Bände Gedichte in der Schweiz herausgab, in die deutsche Sprache und Literatur eingeführt. Nach vollendetem dreizehnten Jahre (Konfirmation) ging er nach Pohrlitz, von dort nach Nicolsburg, wo der gelehrte Landrabbiner Nehemias Trebitsch einer „Jeschibah“ (Hochschule) Vorstand und dann nach Wien. Dort trat er in geistige und freundschaftliche Beziehung zu dem hervorragenden Theologen und Prediger der israelitischen Kultusgemeinde J. N. Mannheimer. Frühzeitig regte sich in Gerson Wolf der Drang nach schriftstellerischer Tätigkeit, und war er im Jahre 1848, an dessen Kämpfen er persönlich teilnahm, Mitarbeiter an den Zeitschriften „Wiener Zuschauer“ (Ebensberg), „Humorist“ (M. G. Saphir), „Sonntagsblatt“ (L. A. Frankl), „Österreichische Zeitung“ (Ernst v. Schwarzer). (Vgl. Wolfs Schrift: „Aus der Revolutionszeit des Jahres 1848—1849“ und Zenkers Geschichte der Wiener Journalistik während des Jahres 1848.) 1849 trat Wolf mit der ersten selbständigen Schrift: „Die Demokratie und der Sozialismus“ in die Öffentlichkeit, welche ihm einen Ausweisungsbefehl einbrachte, der jedoch zurückgenommen wurde. Obwohl Gerson Wolf von dieser Zeit ab jeder politischen Tätigkeit entsagend, sich dem Lehrberufe widmete, wurde er doch im Jahr 1852, als der Belagerungszustand über Wien strenger durchgeführt wurde, vor ein Kriegsgericht gestellt und nach siebzehntägiger Untersuchungshaft zu vier Wochen Festungsarrest nach Stein überwiesen, weil man bei einer Hausdurchsuchung Guizots „La Democratie en France“ auch unter seinen Büchern gefunden. In der Haft lernte er die Not der Sträflinge kennen, übernahm daselbst die Seelsorge, die er zwanzig Jahre lang von Wien aus versah und war damit Anlass, dass im Jahr 1873 eine seinen Namen tragende Stiftung für entlassene Sträflinge aus Dankbarkeit gegen ihn ins Leben gerufen wurde. 1851 war Wolf in weiteren Kreisen durch seine Schrift: „Über die Volksschule in Österreich“ bekannt geworden, welche bei Fachmännern Anerkennung und Beachtung fand. 1854 wurde Wolf, nachdem er schon seit 1850 als Religionslehrer an der Staatsrealschule in der Leopoldstadt tätig war, von der Wiener israelitischen Kultusgemeinde zu ihrem Religionslehrer erwählt und 1884 zum Inspektor sämtlicher israelitischen Religionsschulen Wiens ernannt, welchem Amte er bis an sein Lebensende mit Treue und Hingebung vorstand.

Werke


Der Schwerpunkt seiner geistigen Wirksamkeit liegt in seiner literarischen Tätigkeit, welche sich hauptsächlich neben pädagogischen und bibliographischen Arbeiten, auf eine aktenmäßige gründliche Bearbeitung der Geschichte der Juden, namentlich in Österreich erstreckt, zu welchem Zwecke er die Archive in Wien, Venedig, Mailand und Mantua durchforschte. Er legte seine wissenschaftlichen Ergebnisse teils in den hervorragendsten jüdischen Zeitschriften (Ludwig Philippson: Allgemeine Zeitung des Judentums. Frankel und nachher Graetz: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Abraham Geiger: Jüdische Zeitschrift, L. Geiger: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland, Wertheimer: Jahrbücher u. A.) nieder und teils in selbständigen, zum Teil größeren Werken, die wir hier folgen lassen: 1. „Zur Geschichte der Juden in Worms und des deutschen Städtewesens“. Nach archivalischen Urkunden im k. k. Ministerium des Äußern (Breslau 1862); 2. „Vom ersten bis zum zweiten Tempel“. Geschichte der israelitischen Kultusgemeinde in Wien (1820—1860); 2. „Catalog der Bibliothek des sel. Herrn Dr. B. Beer in Dresden“ (Berlin 1863); 4. „Judentaufen in Österreich“ (Wien 1863); 5. „Isaac Noë Mannheimer. Eine biographische Skizze“ (Wien 1863); 6. „Die Juden in der Leopoldstadt“ (Wien 1863); 7. „Zur Geschichte d. jüdischen Ärzte in Österreich“ (1864); 8. „Das 100jährige Jubiläum der israelischen Kultusgemeinde“ (Wien 1864); 9. „Studien zur Jubelfeier der Wiener Universität“ (1865); 10. „Zur Lage der Juden in Galizien“ (1867); 11. „Joseph Wertheimer, ein Lebens- und Zeitbild“ (1868); 12. „Der Abfall vom Christentum und der Übertritt zum Judentum“ (1868); 13. „Der Prozess Eisenmenger“ (1869); 14. „Die Vertreibung der Juden aus Böhmen im Jahr 1744 und deren Rückkehr im Jahr 1748 mit Benutzung archivalischer Quellen“ (1869); 15. „Zur Salzburger Chronik“ (1873); 16. „Geschichte der Juden in Wien von 1156—1876“ (1876); 17. „Die jüdischen Friedhöfe und die Chevrah Kadischah in Wien“ (1879); 18. „Die alten Statuten der jüdischen Gemeinden in Mähren, nebst den darauf folgenden Synodalbeschlüssen“ (1880); 19. „Grillparzer als Archivdirektor“ (1871); 20. „Joseph II.“ (1878); 21. „Zur Geschichte der Juden in Böhmen“ (1885); 22. „Aus der Zeit der Kaiserin Maria Theresia“ (1888); 23. „Zur Kulturgeschichte in Österreich-Ungarn vom Jahre 1848—1888“; 24. „Josefina“ (1890); 25. „Kleine historische Schriften“ (1892). Von seinen pädagogischen Schriften erlebte seine 1856 herausgegebene „Geschichte Israels für die israelitische Jugend“ die zehnte Auflage und hat Wolf nebst seiner Religions- und Sittenlehre für die israelitische Jugend verschiedene bei besonderen Anlässen an dieselbe gehaltenen Reden veröffentlicht. Im Jahr 1861 wurde auf seine Anregung ein Verein zur Unterstützung mittelloser israelitischer Studenten in Wien gegründet, dessen Blüte von seinem humanen Wirken Zeugnis gibt.

Aus: Allgemeine Deutsche Biographie. 1898. Brüll, Adolf (1846-1908) Religionslehrer in Frankfurt am Main und Redakteur, Mitarbeiter in der ADB
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ferdinand II. und die Juden