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Zwei Jahrzehnde sind bereits verflossen, seit der ehrwürdige Altmeister der vaterländischen Alterthumskunde, Jacob Grimm, den unumstößlichen Beweis geführt hat, daß die Herrschaft der aus der Edda bekannten nordischen Götter vor Einführung des Christenthums nicht auf Skandinavien beschränkt war, sondern sich auch über das gesammte germanische Festland erstreckte. Die Art aber, wie dieser Beweis geführt ward, verdient unsere höchste Bewunderung. Von heiliger Liebe zu seinem Volke und Vaterlande getragen, hat der große Mann mit unendlichem Fleiße in alten und neuen Büchern, aber zugleich in den Sagen und Mährchen der Hütten des armen Landvolkes und der Kinderstuben der Reichen geforscht, und jede, auch die leiseste Spur der längst aus dem Leben entflohenen Götter verfolgt, bis es ihm gelang, in das geheimnißvolle Dunkel ihres Heiligthums selbst einzudringen, wo seinem frommen, ahnungsvollen Geiste vergönnt ward, die hehren Gestalten zu schauen, die sich seit Jahrhunderten dem Blicke der Sterblichen entzogen hatten.

Seine „deutsche Mythologie“ ist gleichsam ein Tempel, den er den durch die Wissenschaft wieder erweckten heimischen Göttern erbauet hat. Seitdem haben sich auch andere deutsche Gelehrte mit größerem oder geringerem Erfolge bemüht, dies vaterländische Pantheon weiter auszubauen, zu reinigen und zu ergänzen *), und in der That scheint es fast eine Pflicht der Pietät zu sein, daß Niemand zurückhält, der auch nur einen einzigen kleinen Baustein zur Vollendung des großen Baues zu liefern im Stande ist. Von dieser Ansicht getrieben, habe auch ich seit Jahren eifrig geforscht, ob sich auch in unserer Heimath vielleicht noch Spuren jener alten untergegangenen Götterwelt finden mögten, und meine Mühe ist nicht ohne Belohnung geblieben. Zwar habe ich in meiner jetzigen Stellung während der letzten 10 Jahre fast nur aus abgeleiteten Quellen, d. h. aus Büchern, schöpfen können, während in unserem Volksleben selbst gewiß noch manche lebendige Quelle unbenutzt im Sande verrieselt; aber meine dringende Bitte um Unterstützung an alle in dieser Beziehung glücklicher gestellten Vereinsmitglieder **) ist leider ohne allen Erfolg geblieben, weshalb ich nicht länger säumen zu dürfen glaube, das, was ich selbst gesammelt habe, anspruchslos mitzutheilen. Vielleicht gelingt es mir durch diese Mittheilung dennoch, auch Andere anzuregen, in ihrer Umgebung die allenthalben noch zerstreut liegenden Schätze zu sammeln. Wer es noch nicht versteht, der kann es mit Grimm's Werken lernen, selbst aus dem dürren Sande des gemeinen Lebens Gold zu scheiden.





*) Für Norddeutschland ist hier besonders zu nennen: A. Kuhn und W. Schwartz, Norddeutsche Sagen, Mährchen und Gebräuche aus Meklenburg, Pommern, der Mark, Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Hannover, Oldenburg und Westfalen. Leipzig 1848. Ich habe dies Werk in der folgenden Abhandlung neben Grimm's deutscher Mythologie zur Vergleichung vielfach benutzt und citire dasselbe mit den Anfangsbuchstaben der Verfasser K. u. Sch., sowie den Grimm mit Gr., letzteren jedoch in der Regel nach der älteren Ausgabe, da mir die neuere bei der letzten Redaction nicht zur Hand war. Benutzt sind natürlich auch Müllenhoff's und andere norddeutschen Sagensammlungen, welche aber auch schon in den vorgenannten Werken berücksichtigt sind, weshalb ich in der Regel nur jene citire. Dagegen zeigten sich die einheimischen älteren und neueren Schriften, z. B. die vielen Rostocker Festprogramme, Schmidt' Fastelabends-Gebräuche, Fr. Studemund's poetische Bearbeitung sogenannter Meklenburgischer Sagen und andere fast durchaus unfruchtbar für meine Zwecke.

**) Vgl. Jahresbericht von 1851, S. 11 ff. - Wo ich im Folgenden keine Quelle angegeben, habe ich entweder unmittelbar aus dem Munde des Volks, besonders in Parchim und dessen Umgebung, geschöpft, oder aus dem Berichte meiner Söhne, von welchen der eine Landmann ist und der andere als Ingenieur gleichfalls vielfach mit dem Landvolke verkehrt.