8. November 1902. - Brenner - Schienenwege - Eisenbahncoupé - Gefangenentransport - Gefängnisordnung, Eisenbahnreglement - Artigkeitsfloskeln - Portmonnaieleistung - Privatzelle - Reisen ist Freiheit - Sportnuance des Automobilismus - Sterzing -

Es ist gewiß eine gewaltige Sache, daß man die großen Schwellen zwischen den Stationen, deren schönste wohl der Brenner ist, gewissermaßen geebnet hat, indem man Schienenwege über sie weg und durch sie hindurch legte; das Eisen, das sonst im Verkehr der Völker vornehmlich die Aufgabe hatte, zu trennen oder zu unterwerfen, erfuhr damit die schönere Anwendung, zu verbinden, freundschaftlich nahe zu bringen. Aber die Kunst der Ingenieure, die dies Erstaunliche leistete, nahm doch auch, indem sie gab. Sie gab Schnelligkeit und nahm Schönheit. Ehe sie ihre Wunder schuf, kroch man langsam über die Berge, aber man fand Zeit dabei, ihre Schönheit zu genießen: von dem Augenblicke an, wo ihr bewundernswertes Werk fertig war, brauste man wie im Sturm über die Berge weg und jagte durch ihr Inneres, aber man sah meistens entweder nichts oder nur vorüberhuschende Bilder. Und dies wenige sah man als Gefangener. Denn auch die Freiheit wurde der Schnelligkeit geopfert. Das Eisenbahnbillett wurde nicht nur mit Geld, sondern auch mit der Aufgabe des Selbstbestimmungsrechtes für eine gewisse Zeit bezahlt. Wer sich in ein Eisenbahncoupé begibt, begibt sich auf eine Weile seiner Freiheit. Jede Fahrt auf der Eisenbahn ist ein Gefangenentransport; die Wärter nennt man Schaffner, was sie aber nicht immer veranlaßt, höflich zu sein; die Gefängnisordnung nennt sich Eisenbahnreglement, ist aber darum nicht weniger in einem Stil verfaßt, der seine Imperative ohne alle Artigkeitsfloskeln vorbringt; da das Einzellensystem zu kostspielig ist, werden die Gefangenen, wenn sie nicht sehr reich sind und sich eine Privatzelle leisten können, in mehr oder minder großen Mengen zusammen transportiert, wobei allerdings auf die Portemonnaieleistung einige Rücksicht genommen wird, und eine reinliche Scheidung zwischen Tabakkonsumenten und solchen Leuten statthat, die, wenn sie sich schon darein finden müssen, eine Luft voll Kohlenruß und Polsterstaub einzuatmen, doch Wert darauf legen, daß diese nicht gleichzeitig mit Tabakrauch der verschiedensten Gestanksgrade versetzt ist. Ach, welche Lust gewährt dies Reisen?! Aber nein, man soll dieses Wort auch nicht ironisch auf eine Sache anwenden, die so gut wie nichts mehr damit gemein hat. Reisen ist freie Bewegung, Genuß des Freiseins, Befreiung aus der Enge – Reisen ist Freiheit. Also läßt sich das Wort nicht auf eine Sache anwenden, die alle Merkmale der Unfreiheit an sich hat. Die Eisenbahn ist ein ausgezeichnetes Transportmittel, aber das Reisen hat mit ihrer allgemeinen Einführung so gut wie aufgehört. Mit der Möglichkeit, sich schnell von Ort zu Ort befördern zu lassen, stellte sich der Wunsch, ja die nervöse Begierde darnach ein – selbst in den Fällen, wo Schnelligkeit gar nicht der Hauptzweck ist. „Schnell weit weg“ wurde die Devise auch für Vergnügungsreisen.

Aber die Technik stand nicht still und holte mit dem Automobil nach, was sie bei der Eisenbahn versäumt hatte, und sie schuf damit den idealen Reisewagen, die Voraussetzung zu einer neuen Kunst des Reisens. Der Laufwagen, der zu seiner Bewegung weder Zugtiere noch festgelegte Geleise braucht, vereinigt in sich alle Vorzüge des altmodischen Reisewagens und der Eisenbahn, ohne ihre Nachteile zu haben. Er gibt Schnelligkeit, Freiheit, Schönheit in einem. Wer nur einmal eine Reise in ihm gemacht hat, zweifelt nicht mehr daran, daß er der Reisewagen der Zukunft ist. Man denkt, hört man das Wort Automobil, freilich weniger an Reise- als an Rennwagen, und dieser Gedanke löst die Assoziation an wahnsinnige und lebensgefährliche Geschwindigkeiten aus – achtzig, hundert und hundertundzwanzig Kilometer in der Stunde, überfahrene Tiere und Menschen, Sturz in den Abgrund oder Ankunft in halbtotem Zustande. Diese abenteuerlichen Vergnügungen von Millionären, die sich die Situation der Lebensgefahr als besonderen Reiz leisten können, sind aber nur die Sportnuance des Automobilismus. Sie war, so lange fast nur Rennwagen gebaut wurden, eine Hauptsache, aber sie wird immer mehr Nebensache werden, seitdem große Fabriken in richtiger Erkenntnis der eigentlichen und bedeutsamen Perspektive der Sache, sich fast ausschließlich darauf beschränken, Reisewagen zu bauen, zu deren Erwerbung auch Leute von mittlerem Vermögen imstande sind. Ein derartiger Wagen ist keiner phantastischen Geschwindigkeiten fähig; mein Wagen „macht“ zum Beispiel nur 35 Kilometer in der Stunde, aber nach mehr gelüstet mich auch nicht, denn, würde ich schneller fahren, würde ich weniger sehen. Und ich will so viel und so gut sehen, als nur möglich. Ich habe von Innsbruck bis Sterzing, wo wir Mittagspause machten, zwei und eine halbe Stunde gebraucht, aber diese Zeit hatte keine leere Minute, umschloß eine ununterbrochene Reihe wirklich geschauter, genossener Bilder. Wo es besonders schön war, hemmten wir den Lauf und bummelten, und als wir bei Franzensfeste in die südlichere Landschaft einfuhren, hielten wir wohl auch manchmal still und labten uns in aller Ruhe und Behaglichkeit an der üppigen Schönheit dieses südlichen Herbstes. Denn die höchste Schönheit will andächtig genossen sein.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine kleine Herbstreise im Automobil