Montag, den 3. November 1902. - Kunststadt - Atelierbesuche - Geschmacksneveau - Protzentum - Ateliers Elvira, Veriatas, Franz Stuck - Augsburg, Drei Moren -

Um zu bemerken, daß München eine Kunststadt ist, hat man nicht nötig, Atelierbesuche zu machen. Es genügt, durch die Stadt zu spazieren. Da ist es denn erfreulich, zu sehen, wie stark sich hier der Zug zu einer modernen ästhetischen Kultur bereits durchgesetzt hat. Die Architektur verschmäht fast ausnahmslos das armselige Kopieren alter Stile, ohne daß sie doch in den üblen Fehler verfällt, um jeden Preis, das heißt auch um den Preis der Vernunft und ruhig bedachten Geschmacks, neu und noch einmal neu und immer wieder bloß neu sein zu wollen. – Ferner alles, was mit der Innendekoration zusammenhängt: Teppiche, Tapeten, Vorhangstoffe, Schmuckgegenstände, Möbel, – ein Blick in die Schaufenster genügt, um das angenehme Gefühl zu erwecken: es gibt wieder ein gutes Geschmacksniveau, und auch der minderbemittelte Mensch von Geschmack findet hier, was er braucht, wenn er sich zu Hause mit schönen Dingen des täglichen Gebrauches umgeben will. Der schwere und dabei schwindelhafte Geist des Protzentums ist ebenso überwunden wie das Gefühl der Resignation: willst du was Schönes suchen, mußt du zum Trödler mit Antiquitäten gehen. – Besonders auffällig ist die künstlerische Höhe, die hier die Photographie erreicht hat. Nicht bloß bekannte Anstalten wie die Ateliers Elvira, Veritas, sondern auch kleine Anfängerfirmen leisten Erstaunliches. Hat man früher gesagt: wenn man in München gut speisen will, muß man nach Augsburg in die Drei Mohren fahren, so könnte man heute sagen: willst du dich in Berlin gut photographieren lassen, mußt du nach München reisen.

Von Ateliers konnte ich nur das Franz Stucks besuchen, das, auch wenn es ganz leer wäre, ein Augenlabsal ist in seiner heiter wundervollen Pracht. Ich fand den immer gleich zielbewußten, stetig vorwärts schreitenden Meister über einer kleinen Leinwand, auf der die Skizze eines großen Gemäldes zu sehen war, mit dem er sich, nach seinen eigenen Worten, wieder einmal eine Aufgabe stellen will, bei der er Gelegenheit hätte, „Schwergewichte zu stemmen“. Er will die Pest darstellen. Das ist freilich kein Thema für Jongleure, sondern für künstlerische Meister der schweren Athletik. Da sein künstlerischer Bizeps seinem physischen entspricht, zweifle ich nicht daran, daß es ein Werk voll Kraft, aber auch voll Schönheit wird.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine kleine Herbstreise im Automobil