Sonntag, den 2. November 1902. - Cléo de Merode - Blumensäle - Biedermeierhäuschen mit Säulenportikus - Kasperl Larifari - Papa Schmidt Marionettentheater - Zaubermärchen - Fortunatus oder die Ohren der Prinzessin von Marokko - Madam Meerkatze - Knuzzimuzzi - Prinzessin Zoraide - Quod erat demonstrandum - Simplizissimus - Aristophanerie.

Um Cléo de Merode zu sehen, beschlossen wir in die Blumensäle zu gehen, aber es war natürlich kein Platz mehr zu haben, denn sämtliche Münchener Künstler hatten vor uns das gleiche beschlossen. Recht ärgerlich verließen wir den Ort der Enttäuschung, aber siehe: unsere Blicke fielen auf ein kleines Biedermeierhäuschen mit Säulenportikus, und wir riefen aus: Es ist Ersatz gefunden! Denn im Giebelfelde dieses Häuschens ist, von zwei niedlichen Mädchen flankiert, Herr Kasperl Larifari zu sehen, der Letzte seines Stammes, aber nicht der Schlechteste, und das Häuschen ist Papa Schmidt Marionettentheater, ihm von der Stadt München erbaut und von Münchener Künstlern ausgeschmückt. Es war nachmittags um 1 Uhr, aber schon standen die kleinen Kunstenthusiasten, die nur den Preis des dritten Platzes, zwanzig Pfennige, erschwingen konnten, und harrten der Eröffnung, die um 3 Uhr stattfanden sollte. „Gibt’s noch Billetten?“ fragte ich einen der kleinen Burschen. „Ja,“ erwiderte er, (offenbar ein Habitué), „wenn’s Taferl „Ausverkauft“ noch nicht bei der Abortfrau ihrem Fenster außihängt, gibt’s schon noch eine.“ Das Taferl hing noch nicht außi, und so gingen wir zur Abortfrau. Aber, natürlich, wenn der Mensch schon einmal Pech gehabt hat, hat er’ s auch gleich ein zweites Mal: gerade wie wir eintraten, wurde die letzte Karte verkauft. „Alles weg?“ „Freili. Am Sonntag!“ – „Aber ich bin ein Rezensent und reise morgen weiter. Fragen Sie doch den Papa Schmid, ob wir nicht noch zwei Plätze haben können.“ – „Schreiben tun’s?“ – „Ja, für die „Zeit“ in Wien.“ – „Für a Wiener Blatt? Na, i frag halt. Warten’s a weng.“ Und wir warteten im Vorzimmer der ersten Klasse mit Waschbecken und Extrahandtuch. Nicht umsonst, denn es wurde uns die angenehme Botschaft, daß wir zwei Extrastühle eingeschoben erhalten würden auf dem ersten Platz à 80 Pfennige. Wir freuten uns nicht weniger darüber, als wenn wir noch ein paar Plätze für die schöngescheitelte Cléo erhalten hätten, und waren punkt 3 Uhr zur Stelle, um das komische Zaubermärchen in drei Akten und sieben Bildern: „Fortunatus oder die Ohren der Prinzessin von Marokko“ zu sehen. – Welch ein munteres Leben, welch laute und stille Erwartung in dem hübschen, kleinen Amphitheater! Ach, daß uns ein solches Premièrenpublikum irgendwo einmal beschieden wäre! Alle diese frischen Augen und Lippen lachten: Theater! Theater! wie schön wird das sein! – Plötzlich wird der Vorhang erleuchtet: erstes Ah! der Genugtuung. Ein Klavier (unsichtbares Orchester) spielt eine Polka: schon klatschen einige. Und nun das Klingelzeichen, – und eine Welle von entzückten Lauten geht durch das Publikum. Aber eine Stimme gebietet: „Ruhe!“ und es wird gleich mäuschenstill. – So bleibt es während aller sieben Bilder, nur, daß hie und da ein ganz Kleiner, eine ganz Kleine ruft: „Mama, ich möchte mal ‘naus!“ Pfst! Pfst! rufen die Größeren entrüstet, die, erfahrene Genießer, alles Nötige vorher abgemacht haben. – Wie schön, wie lustig war das aber auch alles. Welche Kostüme! Prinz Fortunatus zuletzt gar in einer goldenen Rüstung, und Kasperl Larifari kann alle Glieder bewegen und spricht münchnerisch! Gorilla, der Kaiser der Wildnis, tritt auf und mit ihm seine Frau, die Madam Meerkatze, nebst den „Kindern beider“, greulich ungezogenen Affen, die bloß pfauchen und Purzelbäume schlagen können. Knuzzimuzzi, der Leibsklave des Sultans von Marokko, ist ein richtiger Mohr, der sich voll Grazie auf den Bauch legen kann, wenn er seinen Gebieter begrüßt, aber die Prinzessin Zoraide ist, trotz ihrer goldenen Pumphosen, eine schlechte Person, der es ganz recht geschieht, daß sie Eselsohren kriegt. Uebrigens geht alles gut aus, und Prinz Fortunatus sieht ein, daß Weisheit besser ist als Reichtum. Quod erat demonstrandum – Wird auch das Publikum das einsehen? Werden Maxl und Linerl ihre Schulaufgaben nun mit größerem Eifer machen? Wer weiß! Doch eins ist sicher: in ihren Augen bleibt das schöne Bild, wie Fortunatus Gold regnen läßt, wie er, ritterlich in Gold geschient, reumütig und schön vor seinen lieben Eltern erscheint, wie Prinzessin Zoraide vor ihm niedersinkt und bekennt, daß ein gütiges Herz mehr wert ist als Schöntun und Falschsein. Und dann der lustige Kasperl, den man bloß anzusehen braucht, um zu lachen! Das Linerl wird noch als Frau Lina lächeln, wenn sie an den denkt und seine komische Lebensweisheit. – Ist das nicht viel? Ich wünsche jeder großen Stadt einen Papa Schmid.

Soll ich auch jeder großen Stadt die „Elf Scharfrichter“ wünschen? Es kostet nichts, wenn ich es tue, aber es hilft auch nichts. Denn sie sind bloß in München möglich. In Berlin ist das Ueberbrettl als ein Witz entstanden und zugrunde gegangen, wie der Witz abgestanden war. Jeder Versuch, die ihm zugrundeliegende gute Idee eines lyrischen Theaters mit Varietécharakter ernsthaft auszuführen, mußte dort fehlschlagen, weil der Begriff des höheren literarischen Ulkes allzu eng mit ihr verknüpft war. In München fand sie ihre Verwirklichung durch Künstler, die von vornherein den gröberen sowohl wie den feineren Ulk, das Zugmittel für die Massen und Uebersatten, ablehnten und aufs Eigentliche des Gedankens eines Künstlerbrettls gingen. So war ihrem Unternehmen Dauer und reeller Erfolg beschieden in dem Augenblick, wo zu den guten künstlerischen Qualitäten eine ordentliche geschäftliche Leitung hinzukam. Freilich erfreuen sie sich dabei eines Vorteils, den in Deutschland nur München bietet: einer gar nicht engherzigen, vielmehr recht freien und gescheiten Zensur. Was hier Frank Wedekind singen darf, wäre in keiner anderen deutschen Stadt möglich. Aber mehr noch: Selbst wenn es zum Beispiel erlaubt würde – man würde es nicht mit anhören können angesichts eines Publikums, das derlei Freiheiten zu unerträglichen Frechheiten stempeln würde durch die Art der Aufnahme. Es würde als Zoten bewiehern, was in Wirklichkeit doch etwas beträchtlich Höheres ist und darum nicht als Unflätigkeit, sondern als Kunstwerk aufgenommen werden will. Es ist geradezu der Hauptvorteil der „Elf Scharfrichter“, daß ihr Zuschauerraum die Masse ausschließt. Sie spielen in einem Saal, der eigentlich nur ein Korridor ist und kaum mehr als 100 Zuschauer faßt. Damit ist auch die Intimität gewahrt, eine wesentliche Voraussetzung der richtigen Wirkung derartiger Proben literarischer Kleinkunst. Ein Kabinett – kein Theater. Daher auch der angenehme Mangel an Prätensionen. Alles primitiv, aber geschmackvoll. Kaum etwas, das als künstlerische „Leistung“ prunken will, aber auch fast nichts, das einer künstlerischen Note völlig entbehrte. In der Tat: Ein künstlerisches Varieté und, weil derlei tatsächlich so nur hier geboten werden kann, eine Spezialitätenbühne künstlerischen Gepräges. Da spielen sie zum Beispiel jetzt eine satirische Farce „Die Verschönerungskommission“ von Paul Schlesinger, ein köstlich ungeniertes Ding voll der offensichtlichsten Spitzen gegen die allerhöchste Person des Deutschen Reiches, das alles überbietet, was der Simplizissimus nur je gewagt hat, und ich möchte glauben, daß die allerhöchste Person selber vor Vergnügen klatschend auf den Schenkel schlagen würde, wenn die Reporter recht haben, die behaupten, daß sie auf diese Weise applaudiert. Eine glänzende Aristophanerie im kleinen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine kleine Herbstreise im Automobil