Dresden, den 11. April 1902.

Heute sind wir à la Postkutsche gereist. Um zehn Uhr in Großenhain aufgebrochen und erst um fünf in Dresden angelangt – jeder Anfänger im Radfahren muß uns deshalb verachten.

Dafür haben wir aber recht viele schöne Dinge mit ruhigem Behagen betrachten können: die herrliche Albrechtsburg Meißens und das königliche Moritzburg mit seinen Wäldern, Wildschweinen und Hirschen.


Der Besuch der Albrechtsburg war die erste Prüfung unseres Adlerwagens auf seine Fähigkeit, größere Steigungen zu nehmen. Er hat sie glänzend bestanden. Wir fuhren durch steilen und engen Gassen Meißens bis vor das Tor des wundervollen alten Doms hinauf, nicht ohne einige Bänglichkeit unserseits, da wir uns vorstellten, in welchem Tempo es rückwärts hinunter gehen würde, wenn es dem Motor mitten in der Steigung einfallen sollte, zu versagen. Unser Führer, von dessen Tüchtigkeit wir schon jetzt vollkommen überzeugt sind, bemerkte unsere ungewissen Mienen und benutzte die Gelegenheit, uns alle die Sicherungsmittel auseinander zu setzen, die den Wagen sofort zum stehen zu bringen vermögen, wenn er bei Gefälle oder Steigung nach vorn oder hinten ins Rollen kommen sollte. Abgesehen davon, daß der Motor sofort abgestellt werden kann, kann auf dreifache Weise augenblicklich und scharf gebremst werden, und beim aufwärtsfahren werden außerdem zwei Rücklaufstreber unterhalb des Wagenkastens herabgelassen, die, zwei starke und spitze Eisen, sich in das Erdreich bohren, sobald der Wagen abwärts nach hinten ins Laufen kommt.
Wir kamen uns fast wie Eindringlinge aus einer anderen Welt vor, als wir in den Domhof einfuhren, der von ehrwürdig schönen alten Bauten gebildet ist und um so ergreifender wirkt, wenn man, wie wir, ziemlich unvermittelt in ihn gestellt wird. Doch konnte unser Automobil verwandte Erscheinungen seiner Art begrüßen in Gestalt elektrischer Bogenlampen, die, Wahrzeichen unserer Zeit, an den alten Bauwerken angebracht sind. Sehr schön nehmen sie sich in dieser Nachbarschaft nicht aus, und wir schämten uns hier, angesichts dieser alten großen Kunst, ein wenig der ästhetischen Verarmung, in die wir geraten sind, wir Leute mit den Bogenlampen. Doch wäre es undankbar, unserer Zeit zu schmähen, wenn man eben im Automobil zur Albrechtsburg hinaufgefahren ist, und wir dürfen uns zum Glück, wenn wir auch bekennen müssen, daß wir auf dem Felde der Schönheit wie die arm gewordenen Enkel großer Herren der Vergangenheit sind, der Zuversicht getrösten, daß die reichen Aufsätze zu einem neuen Leben, die sich im Bezirke des Schönen zeigen, sicher bald Blüte und Frucht tragen werden. Wir haben jetzt, so gern wir auch in diesen Dingen das Wort „modern“ gebrauchen, den Weg zu den großen Alten zurückgefunden, die wir nun aber nicht zu wiederholen, sondern von denen wir aufs neue auszugehen gedenken.

Ich mußte, aber ohne Spott, lächeln, als ich in einer Ecke des alten Domes das Linienwerk eines Türgeviertschmuckes bemerkte, das ganz wie ein in Stein übertragenes Büchertitelornament von unserem Peter Behrens aussieht. – Nach diesem Labsal an alter deutscher Kunst freuten wir uns der Meisterin aller Künste, die, unbesorgt um den Ruf der Originalität, sich immer wiederholt und dennoch immer auf neue wie eine Offenbarung wirkt, da sie in der Tat die ewig eine Offenbarung ist: der Natur.

Sie interessierte uns diesmal hauptsächlich in Gestalt des allerjüngsten Wildschweinnachwuchses von Moritzburg, allerliebster gescheckter Frischlinge, die gar nichts von der grimmigen Wüstheit ihrer borstigen Eltern haben. Diese könnten zum Fürchten sein (wie denn die alte deutsche Kunst dem Teufel gern einen Wildschweinskopf gab), wenn sie nicht wie hier, von dem ausschließlichen Interesse nach Atzung beseelt sind, und dies mit der Gewißheit, daß diesem Interesse zur bestimmten Stunde entgegengekommen wird. Sie übersahen uns durchaus und beschäftigten sich nur mit ihrer Mahlzeit, die aus rohen Kartoffeln mit Maiskörnern als Nachtisch bestand.

Den Wildschweinen des Königs von Sachsen geht nichts ab, und das macht sie so gemütlich und zahm, daß sie eigentlich gar keinen Anspruch mehr darauf haben, wilde Schweine zu heißen. Die großen schönen Hirsche, die um die gleiche Zeit gefüttert werden, ihr Traktement aber abseits und in Krippen, nicht auf dem bloßen Boden, erhalten, betrugen sich wie vornehme Pensionäre, die mit einem Air von Gelangweiltheit entgegennehmen, was ihnen von Rechts wegen durch die Organe des Staates serviert wird. Um uns kümmerten sie sich noch weniger, als die borstigen Grunzer. Trotzdem wären wir gern noch länger Zeugen dieses vergnügten Geschäfts sorgloser Ernährung gewesen, wenn nicht ein leiser Regen begonnen hätte. Wir schlugen die Wagendecke hoch, fanden, daß es sich auf diese Weise auch bei Regen angenehm im Laufwagen fahren läßt, und rollten bald über die Karolabrücke nach Dresden-Altstadt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil