Teplitz in Böhmen, den 12. April 1902.

Wenn Sie glauben, daß ich Ihnen heute von Dresden erzählen werde, so irren Sie sich. Noch ist uns das Spielzeug zu neu, als daß wir es einen Tag ruhen lassen könnten. Wir sind, ohne das schöne Dresden eines Blickes zu würdigen, heute bereits weiter gefahren, doch haben wir uns ein hübsches Andenken mitgenommen, das wir überdies auf der Reise wohl brauchen können: ein meißner Tafelservice mit Biedermeier-Rosen. Wer, wie ich, als Alkoholabstinenter auf Tee angewiesen ist, will ihn auch hübsch serviert bekommen. Sofort nach unserer Ankunft, kaum, daß wir uns umgekleidet und gewaschen haben, dampft die Teemaschine; die sorgsam in Watte verpackten Kannen und Tassen werden mit unendlicher Bangigkeit („Du, hat es nicht eben geklirrt? Sicher ist etwas kaputt“) ausgewickelt, die chinesische Teebüchse giebt das nötige, wohlbemessene Quantum des göttlichen Krautes von Ceylon her, und ich habe das Vergnügen, wie zu Hause zu schreiben: die Schale mit dem goldbraunen Nasse neben mir.

Wie das duftet! Wie das belebt! Eure Räusche, Knechte der gegohrenen Getränke, sind grobe Peitschenhiebe, die Striemen hinterlassen, während der Rausch aus dem Tee das Streicheln einer feinen, weichen, schönen Hand ist, die auch noch in der Erinnerung wohltut.


Aber wie? kommt dieses mein freudige Lebensgefühl jetzt von diesem einen Schluck Tee? Kommt es nicht viel mehr vom – Automobil? – Ja, wenn es ein Rausch ist, der mich jetzt so heiter macht, so ist es der Bewegungsrausch.

Nun werden Sie in Ihrem schnöden Herzen freilich denken: Eine recht bequeme Art, sich zu bewegen, wenn man für ein paar Stunden auf dem Polster eines Wagens Platz nimmt.

Sie irren sich.

Eine Bewegung wie Radfahren, eine Art Turnen ist es freilich nicht. Es ist vielmehr so wie bei den ingeniösen Apparaten des Schweden Zander, durch die man, wenn Sie die Güte haben, mir ein Wort zu gestatten, das wie ein Witz von Ihnen aussieht, geturnt wird. Was diese Erschütterungsmaschinen zu Wege bringen: diese gewisse innere Massage, das besorgt das Automobil mit seinem fortwährenden leisen Vibrieren. Es ist durchaus kein Stoßen, Rütteln, Schütteln, sondern ein sanftes fast unmerkbares Zittern. Steht der Wagen, so ist es am stärksten; je schneller er läuft, um so schwächer wird es. Die Wirkung auf den Körper ist bei mir durchaus angenehmer Natur; ich fühle mich nach einer etwa vier- bis fünfstündigen Fahrt im Laufwagen angenehm erfrischt, etwa so, wie ich mich fühle, wenn ich mich in einer Höhe von etwas mehr als 1000 Meter über Meer befinde.

Die passive Bewegung durch das Laufwagenfahren ist es allerdings gewiß nicht allein, die diesen angenehmen Effekt hat, sondern es kommt der stundenlange Aufenthalt in frischer Luft, dieses Luftwellenbad hinzu, das wohl mehr als eine bloße Hautwirkung hat. Und schließlich darf auch die heilsame Entlastung des Gemütes nicht vergessen werden, dieses Reisegefühl der Freiheit und fortwährenden Befruchtung mit neuen Eindrücken. Gebe ich jedem dieser frei Faktoren ein Drittel des Verdienstes an dieser Steigerung des Gesundheitsgefühls, so bleibt doch bestehen, daß keiner der drei Faktoren fehlen dürfte, – und sie alle drei finden sich nur bei der Reise im Laufwagen in so glücklicher Dosierung vereint. Ganz junge oder besonders kraftvolle Leute, wie Sie, mein Freund und Meister in allen schönen Künsten des Leibes, können es ja billiger haben: auf Schusters Rappen oder dem Rade. Für uns andre aber, die mit Bäuchen gesegnet und auch sonst nicht ganz auf der Höhe physischer Leistungsfähigkeit sind, erfordert andauerndes Laufen und Radeln über weite Strecken zuviel Muskelenergie, und statt Erfrischung pflegen wir Abspannung oder Überreiztheit zu gewinnen. Für uns ist also das Laufwagenreisen das Wahre. Crede experto!

Ich glaube, daß nicht einmal unbedingt schönes Wetter dazu nötig ist, doch ist das eine Zugabe, für die den Göttern Dank gebührt. Heute war sie uns in reichstem Maße zugemessen. Ein frischer sonniger Tag –:

Kein Wölkchen, das am Himmel stund,
Sonne und Wind im schönsten Bund,
Das war ein Tag voll Güte.

Wir fuhren erst ¾1 Uhr von Dresden ab, als Führer vor uns Herrn Weber, den Besitzer des bekannten Hôtels, der es sich nicht nehmen ließ, uns den schönsten Weg (durch den prächtigen „Großen Garten“) zu zeigen, indem er uns auf dem Rade voranfuhr – woraus zu entnehmen ist, daß die berühmte sächsische Höflichkeit zuweilen mehr kann, als süße Worte machen. Herrn Weber verdankten wir es auch, daß wir den Weg durch das anmutige Müglitztal nahmen, über Dohna, Weesenstein, Glashütte, Altenburg. Unserem Motor wurde dadurch keine kleine Aufgabe gestellt, denn es geht unausgesetzt bis über 700 Meter bergan. Dafür fällt dann der Weg von dem ersten böhmischen Orte Zinnwald an recht scharf, und zwar durch einen richtigen, alten Märchenwald, in dem noch viel Schnee lag. Die Fahrt durch diese grün-weiße Einsamkeit werden wir nie vergessen. Sie versetzte uns in eine Welt, die sonst fast überall bereits dem Untergange geweiht ist. Nur Großgrundherren vom Reichtume der böhmischen können sich noch solche Wälder leisten, in denen, so möchte man meinen, ein Rübezahl als Förster herrscht, dem jeder Baum heilig und jede Axt ein Greuel ist. – Im stärksten Gegensatze dazu beginnt bald hinter diesem königlichen Urwalde das Gebiet der Teplitzer Kohlenbergwerke, in dem der Natur alle ihre Schönheit brutal genommen ist, und wo auch die Menschen, die dies vollbracht haben, wahrhaftig nicht die Schönheit siegreicher Eroberer zeigen, sondern das Notmal schmutziger Mühsal an sich tragen. Wir waren froh, als wir diese Kohlenstaubhügel hinter uns hatten, und gegen ½5 Uhr in das noch fremdenlose Teplitz einfuhren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil