Chortitza-Rosenthal, am 27. September 1919.

Heute ist der erste Tag, an dem die Anarchisten nicht mehr durch untere Straßen ziehen. Sechs Tage lang währte unsere Heimsuchung. Verängstigt und zaghaft kommen die Menschen aus ihren Häusern und treten in kleinen Gruppen zusammen. Jeder will sein Herz ausschütten, um sein Gemüt zu entlasten. Wie sieht es nun aus in diesen ehemals so tauberen und ordentlichen Hofdörfern! Selbst die Hausfrauen, die sonst keine Unordnung im Haute ertragen können - - auch sie lassen ermattet die Hände im Schoß liegen. Was haben diese Frauen ertragen mühen in diesen Tagen! Tag und Nacht haben sie den wüsten Rohlingen gedient. Man hat kaum Kraft, sich zu freuen darüber, dass die Anarchisten uns verlassen haben. Die Familienhäupter denken an die Zukunft. Die Wintersaat muss eingesät werden. Aber die Pferdeställe sind leer. Kadaver liegen an Straßen und Wegen, wo die tolle Fahrt der Machno-Bande vorüberging.

Warum? Und was nun? Das sind die Fragen, worauf die wenigsten eine Antwort finden.


Die Machno-Anarchisten wollen über uns deutsche Kolonisten hergefallen sein in der Annahme, wir hielten es mit Denikin. Es kann freilich nicht geleugnet werden, dass die Kolonisten, wie wohl sie neutral zu sein vorgeben, doch der Gegenpartei der russischen Bauern mehr Sympathie entgegenbringen. Während die ukrainische Bauernschaft sich auflehnte gegen die Wiederherstellung des alten Regimes, blieben die Kolonisten loyal. Sie ließen sich sogar anwerben; allerdings wurden sie betrogen; man sagte ihnen, dass sie ohnehin bald mobilisiert werden würden und versprach ihnen, sie als Selbstschutz in ihrem eigenen Gebiet zu organisieren. Was wussten unsere Hofsiedler von Politik! Viele junge Söhne, die infolge der deutschen Okkupation deutschnational und anti-russisch gesinnt waren, glaubten gar, dass der Tag der Rache für die Plünderung im vergangenen Sommer gekommen sei. Doch hatten sie bisher niemand ein Leid angetan. Wohl haben sie die Okkupationstruppen unterstützt und manchmal törichterweise Führer aus früheren Revolutionsphasen angegeben.

Die ukrainische Bauernbevölkerung versteht die hochgepriesene Freiheit im anarchischen Sinne. Sie halten Freiheit einer Zügellosigkeit gleich. Und da auch die Bolschewiki in das Chaos der Oktober- Revolution Ordnung hineinzubringen versuchten, ja sogar zum direkten Gegenteil der individuellen Freiheit, zur Diktatur, ihre Zuflucht genommen haben, so lehnen die ukrainischen Bauern auch die Bolschewiki ab, besonders da die Bauern außer der Landeinteilung keinen weiteren Kommunismus wünschen. Die Willkür aber hat Väterchen Machno aufs Panier geschrieben, darum schließen sie sich ihm an. Wie mühelos kann man da zu Kleidern und Besitz kommen! Es bedarf doch wahrlich keines Heldentums, mit der Waffe in der Hand den Wehrlosen auszurauben. Welcher Zukunft gehen wir entgegen?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes