Chortitza-Rosenthal, am 1. Oktober 1919.

Machno soll über die Dnjeprbrücke hinweg ins Taurische Gouvernement gerückt sein, und die Richtung nach Berdjank eingeschlagen haben. Dann trifft er auf die 100 deutschen Hofdörfer in der reichen Molotschnaja-Gegend. Auch sie sind somit der zügellosen Willkür preisgegeben.

Bei uns geht die Anarchie weiter, wenn auch die Machno-Anarchisten fort lind. In den benachbarten ukrainischen Dörfern haben sich größere und kleinere Banden gebildet, die nach dem Muster der Vorgänger offen ihr Erpressungswesen weitertreiben. Sie legen Kontributionen auf, die wir nicht zahlen können und greifen zu Inquisitionsmitteln oder Erschießungen. Sie wollen nicht begreifen, dass bei uns gar nichts mehr zu holen ist, besonders auch schon deshalb nicht, weil die Mühlen- und Fabrikbesitzer, als sichere Todeskandidaten, sämtlich geflohen sind. Diele Hyänen des geräumten Schlachtfeldes sind aber fast noch grässlicher als die Machno-Anarchisten. Sie nehmen Geiseln mit und martern sie.


Heute stand meine Schülerin, eine 18jährige Seminaristin, vor mir und bestätigte mit stummem Nicken, was ich bereits gehört hatte, Ihr Vater, ein angesehener Bürger, der sich viele Verdienste um diese Ansiedelung erworben hat, wurde als Geisel mitgenommen, und nun liegt er tot jenseits der Dnjeprbrücke. Die Söhne wollten die Leiche herüberholen, um sie zu bestatten. Mit Schimpf wurden sie davongejagt. Wahrlich eine Sophokles-Tragödie! Gestern besuchte uns ein Sparkassenbeamter. Er zeigte uns seinen geschundenen Leib. Man gerät in Wut angesichts solcher Barbarei. Aber wir sind machtlos aller Willkür preisgegeben. Der leiseste Widerstand würde unsere Lage nur noch verschlimmern. Hin und wieder sind Männer unter uns, die ahnungslos nur durch ruhige Haltung, durch ein Wort zur rechten Zeit und einen zähmenden Blick hier und da ein Übel abwenden können. Viele beklagen ihre Toten, die erschlagen wurden, andere irren obdachlos von Ort zu Ort.

Auf der Insels haben die Banden eine richtige Bartholomäusnacht veranstaltet. Wer nicht umkam, musste fliehen. Kein Deutscher ist mehr in dem einst so rein deutschen Inseldorf.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes