Abschnitt. 1

Die Pickwicks und die Picknicks kommen aus England; von jenen wußt’ ich es seit lange, von diesen – trotzdem sie von ungleich älterem Datum – sollt’ ich es erst erfahren.

Es war im August; der Londonstaub ward immer dichter und die Sehnsucht nach einem Zuge frischer Luft immer größer, so kamen wir denn überein, zu Nutz und Frommen unsrer Lungen eine Themsefahrt zu machen und auf den Wiesen von Hampton-Court eine Picknick-Mahlzeit einzunehmen. Wir waren unsrer sieben, drei Herren und vier Damen, und zum Teil in entgegengesetzten Quartieren der Stadt zu Haus, hatten wir uns schon Tags vorher geeinigt, am Quai von Richmond zusammenzutreffen. Punkt zehn Uhr waren wir da; ein schmucker Gondelfahrer begrüßte uns am Ufer; eine Wagenburg von Körben kam in die Mitte seines Boots, wir lachend drum herum – und den blauen Himmel über uns ging es mit kräftigem Ruderschlage stroman, während der Quai mit seinen Böten allgemach hinter uns verschwand.


Erlaube mir der Leser, ihm jenen Kreis von Personen vorzustellen, in deren Mitte er eine Viertelstunde lang wird zu verweilen haben. Ich mache bunte Reihe. Da war vorerst Mr. Owen, ein junger Walliser mit den steifsten Vatermördern und den höchsten Stiefelabsätzen, die mir je zu Gesicht gekommen waren. Sein Großvater saß für Pembrokeshire im Parlament, und wiewohl das Enkelchen ein jüngerer Sohn war und der Baronetschaft des Alten um kein Haarbreit näher stand als der Lotteriespieler dem großen Lose, so hatte er doch die wallisische Baronet-Elle nicht nur steif und unbiegsam im Rücken, sondern war auch die unbestrittne Sonne des Tags, von der alles übrige erst Licht und Weihe empfing. Er war natürlich ein leidenschaftlicher Kahnfahrer und unterhielt sich mit dem Bootsmann in so technischen Ausdrücken, daß ich diesem Hochflug, auch wenn ich gewollt, nicht hätte folgen können. Neben ihm saß Mrs. May, die Ehrendame der ganzen Partie, eine stattliche Frau mit grauen Locken und zwei Töchtern von ähnlicher Gesichtsfarbe, die den Mai ihres Lebens nur noch im Namen trugen. Sie waren munter wie gewöhnlich Mädchen jenseits dreißig und gaben sich alle erdenkliche Mühe, durch reiche Entfaltung einer schönen Seele ihr Defizit an Schönheit zu decken. Sie waren fromm und galten für fleißige Bibelleserinnen, aber am liebsten lasen sie doch die Stelle: Du sollst Vater und Mutter lassen und dem Manne folgen, der Dich erwählet hat. Ich war ihr Hausgenoß und kannte die Geschichte ihres Herzens wie meine eigene. Mitunter, in der Schummerstunde, wenn aus dem Nachbarsgarten eine Nachtigall herüber klagte, sah ich wie sie traurig wurden und immer wieder und wieder gedankenvoll den Tee aus ihrem Löffel träufeln liefen, als sollte er ihnen ein Bild ihrer rastlos verfließenden Tage sein; aber heute leuchteten ihre Augen wie das Auge dessen, der schon hoffnungslos noch einmal von der Hoffnung beschlichen wird, heut kicherten sie und ließen die Flut durch ihre Finger gleiten, heut schlugen sie die Augen nieder, wenn ein bezügliches Wort fiel, und verjüngten sich vor meinen sichtlichen Augen, denn Mr. Taylor, ein Advokat aus Chancery Lane, saß zwischen ihnen, behäbig, rotbäckig, ein Vierziger und ein Witwer dazu. Wenn Mr. Owen die Sonne dieses Kreises war, so war Mr. Taylor der Vollmond zu dem die Liebenden sehnsüchtig aufschauten, und daß ich’s nur gestehe, auch meine Huldigung trug ihm die Schleppe. Der Grund war folgender. Er war mir schon am Abend vorher als ein Mann genannt worden, der „geschaffen sei für eine Picknickfahrt“, eine Charakteristik, der ich begreiflicherweise wenig Bedeutung beigemessen hatte. Kaum aber daß ich heute am Quai von Richmond des Picknickkönigs und seines Flaschenkorbes, aus dem nebst manchem andren vier blanke Stanniolkuppen verräterisch hervorlugten, ansichtig geworden war, als ich auch schon die ganze Schwere jenes leichtgenommenen Wortes begriffen hatte und in meiner Anhänglichkeit noch aushielt, als mir im Lauf eines politischen Gesprächs kein Zweifel mehr darüber blieb, daß Mr. Taylor von der ganzen preußischen Geschichte nichts weiter kannte, als die Affäre von Jena.*)

Zürne mir der Leser um solches laxen Nationalgefühls willen nicht; aber ach, ich war so kosmopolitisch in jenen Augenblicken wie nie zuvor, denn neben dem behäbigen Advokaten saß Miß Harper, das lieblichste Gesicht, das zwischen Richmond und Hampton-Court sich jemals in Themsewasser spiegelte. Und doch glitt schon viel königliche Schönheit diese Wasserstraße hinan: Anna Bulen, wenn das dürstende Auge des englischen Königs Blaubart auf ihr ruhte; Elisabeth, wenn sie müde war der Herrschaft und ihrer Sorgen; auch Henriette Marie, Karl Stuarts Gemahlin, wenn sie London vergessen wollte und träumen von Frankreich ihrer schöneren Heimat. Aber wie stolze Schönheiten sie alle sein mochten – mein Wort und meine Kenntnis alter Holbeins und Van Dycks zum Pfande! – sie schauten nie lieblicher drein als Miß Francis Harper, und während ich sie so sitzen und in das Wasser niederlächeln sah, konnt’ ich nur zweierlei nicht fassen: die Freundschaft dieses Mädchens mit den beiden Misses May und die Unvorsichtigkeit der letztern, so viel fremdes Licht neben den eigenen Schatten zu stellen. Freilich war sie verlobt. Wie hätte sie’s nicht sein sollen!

So glitten wir denn dahin, zuerst am Fuß des schönen Richmondhügels und jenes herzoglichen Sommerhauses vorüber, das nach seinem jetzigen Besitzer den Namen „Buccleuch-Villa“ führt. Märchenhaft wuchern da die Rosen über Wände und Dach hinweg, märchenhaft klingen aus den halbgeöffneten Fenstern die Töne eines Flügels hernieder, und märchenhaft vor allem klingt die Sage vom Herzog Buccleuch selbst, der diese Villa wie ein immer offnes Gasthaus zu Nutz und Frommen seiner künstlerischen Freunde hält. Gedichtet und gesungen wird hier wie zu den Zeiten des Minstreltums und eine flüchtige Sehnsucht beschlich mich bei diesem Anblick in das alte romantische Land zurück. Aber die Ruder unsres Bootsmanns griffen wacker ein, Richmond und seine Villen dämmerten nur noch von fern, der Wind war frisch und Miß Harper so schön, und siehe da, die Sehnsucht ward nebelhaft wie jene Villen selbst und verschwand endlich ganz, als unter Mr. Taylors kunstgeübter Hand der erste Champagnerpfropfen knallend in die Luft flog und mich die große Frage zu beschäftigen begann: ob man zu Barbarossas Zeiten den fränkischen Brausewein gekannt habe oder nicht.



*) Schon Kaunitz äußerte sich mal: „Zu dem Unglaublichsten von der Welt gehört die Unsumme von Dingen, die ein Engländer nicht weiß,“ Mr. Taylor, ein gebildeter und vielgereister Mann, meinte, daß wir wohl begierig seien die Scharte von Jena auszuwetzen, und war sehr überrascht, als ich ihm versicherte, daß das durch zwanzig siegreiche Schlachten bereits geschehen sei.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London