Blackwall.

Sonntag ist’s und es treibt mich wieder hinaus. Aber zu oft schon zwang ich den Leser, mich stroman zu begleiten nach Kew und Richmond und Hampton-Court; fahren wir heute mit dem Strom und wählen wir Blackwall als Ziel. An der Londonbrücke besteigen wir den dichtbesetzten Steamer, der bereits prustet und schnaubt und von Zeit zu Zeit mit seinen Rädern schaufelt, wie ein Vogel, der seine Schwingen probt. Jetzt aber läutet’s zum dritten Mal, die Taue werden eingezogen, im Rumpf des Schiffes brummt und dröhnt es wie eine Baßgeige und unter dem Gezisch des Dampfs, der wie ein Tauregen auf uns niederfällt, beginnt die Fahrt. In gleicher Höhe mit Billingsgate kaufen wir uns die neueste Zeitung, und mit der Andacht eines loyalen Engländers vom letzten Hofball und dem Spitzenkleid der Königin lesend, blicken wir nur auf, um angesichts des Towers die grauen Türme zu grüßen, die wie steinerne Anachronismen in diese Kaufmannswelt hineinragen. Weiter geht’s; über den Tunnel hin fahren wir an bunten Barken und Fähnlein vorbei, und jetzt, nach mancher Stromeswindung die Höhe von Greenwich erreichend, dessen weltberühmtes Hospital stolz und prächtig wie ein Schloß herüberblickt, wendet sich der Steamer plötzlich nach Nordost, und die Themse im Nu durchschneidend, hält er am Quai von Blackwall.

Unmittelbar am Landungsplatz erhebt sich würfelförmig ein zweistöckiges Gebäude, auf dessen plattem Dach die Farben und Wappen Alt-Englands lustig im Winde wehn. Das ist die Taverne von Blackwall. Im obern Stockwerk an weit offenstehenden Fenstern sitzen behäbige Gentlemen und jeder Fensterrahmen umschließt ein niederländisches Bild. Zwischen den Ale- und Porterkrügen leuchtet das rote Philistergesicht mit den weißen Sonntags-Vatermördern, und die silbernen Deckel über dem Roastbeef blinken im Sonnenlicht, so oft sie der Kellner mit einem yet a bit, Sir? von seinen dampfenden Schüsseln nimmt. Aber doppeltes Leben tobt unten im Erdgeschoß. Da sind die Jacken zu Haus, alles blau von der Schulter bis zum Knöchel, und nur ein rotes Gesicht und ein gelber Strohhut darüber. Wie sich’s drängt am Schenktisch, man stößt zusammen mit den zinnernen Krügen, man grüßt sich mit einem Schlag auf die Schulter und schwört Freundschaft mit einem Fluch. Das ist altenglisches Vollblut, Matrosen, zäh wie Leder und hitzig wie Schießpulver, die Kinder des Ruhms und der – neungeschwänzten Katze.


Sie nehmen eben den Abschiedstrunk, denn siehe da, zur Rechten, auf jenem Schleusenkanal der aus den Schiffe-übersäten Docks in das Fahrwasser der Themse führt, schwimmt bereits ein turmhoher Ostindienfahrer, bestimmt über sein gewohntes Ziel hinauszugehn und an Kalkutta vorbei erst in Port Philipp oder Sidney Anker zu werfen. Es ist der „Marlborough“, ein Auswandrerschiff, und das holzgeschnitzte Bild des Helden von Blenheim trägt, am Bug des Schiffes, den Kopf mit seinen wallenden Locken so stolz und siegessicher, als sei der Ozean sein Feld wie die Ebene von Malplaquet.

Die Schiffsglocke lärmt; der Abschiedsmoment ist da. An den herniederhängenden Strickleitern klettern die Blaujacken wie Katzen in die Höh und auf dem schwankenden Brett, das vom Bord des Schiffs bis ans Ufer in schräger Linie herniederläuft, entsteht ein Drängen und eine Verwirrung ohnegleichen. Söhne, die von ihren Eltern Abschied genommen haben, werden im letzten Augenblick noch einmal von unbezwingbarer Sehnsucht erfaßt und möchten zu rück, nur einmal noch an das Herz ihrer Geliebten. Aber umsonst, die dem Schiff zudrängende Menschenwoge reißt sie mit fort und die Getrennten haben nur Tränen noch und Tücherwehn und Hüteschwenken.

Nicht alle weinen sie. Da sind andre, die lächelnd dastehn mit gekreuzten Armen und auf das Schauspiel niederblicken wie eben auf ein Schauspiel nur. Sie sind von den Stumpfen, denen es gleich gilt, wo sie die Hand zum Munde führen und wo das Kissen liegt, drauf sie die letzte Ruhe finden. Da sind noch andre wieder! jenen Stumpfen ähnlich in der Ruhe ihres Tuns und doch so verschieden von ihnen in der Tiefe ihres Herzens. Das sind die Gottergebenen, fromme Sektierer, Herrnhuter und Methodisten. Sie beten und arbeiten. Sie haben nur eine Heimat und sorgen nicht von welcher Stelle aus sie ihr Gebet zum Himmel senden. Sie stehn nicht mehr auf Deck und sehen müßig dem Treiben zu, sie sitzen bereits in ihrer Koje und rühren fleißig die Hände wie sie zeitlebens getan. Gestern noch stichelten sie am Fenster ihrer Citywohnung und sahen durch die Blätter eines Geraniumtopfs hindurch auf die Dächer ihrer Nachbarhäuser; heute steht derselbe Blumenscherben in der Fensterluke des Marlborough, und die Köpfe dahinter schauen nur eben jetzt, und unwillkürlich fast, von ihrer Arbeit auf. Denn siehe da, Leben und Bewegung ist plötzlich in den Riesen gekommen, und durch die sich öffnende Schleuse gleitet er jetzt unter lautem Geschrei der teilnahmlosen Menge und unter stillen Segenswünschen der zurückbleibenden Lieben majestätisch in die Themse hinein.

Ich seh dem Schiff und seinem Menschen-Ballast nach, und die Frage beschleicht mein Herz: was treibt sie hinaus? Torheit! sprechen die einen, jene lügnerische Hoffnung, die von Paradiesen träumt und nicht wissen will, daß Gottes Fluch die Menschen draus vertrieben hat. Krankheit! – sprechen sie weiter – jener dämonische Zug unsrer Zeit, dem die Pflicht der Arbeit schlimmer deucht als die Möglichkeit des Todes, und der drauf aus ist, die Ernte des Lebens an einem einzigen Tage zu halten. Weisheit! – sagen die andern – jener Rettungstrieb, der das Haus meidet, wenn es dem Einsturz nahe ist; Gesundheit! die vor der Nähe des Todes erschrickt und instinktmäßig eine Luft sucht, die über dem Kirchhof Europas nicht mehr weht.

Sie haben beide recht.

Sie aber denen Macht gegeben ist über die Völker, mögen eingedenk sein, daß es gegen alle Torheiten und Krankheit dieser Zeit nur eine Waffe gibt: die Waffe des Lichts, und die Frage mag laut an ihre Herzen klopfen: ob die überkommene Schablone Raum hat für die neuen Formen, nach denen die Welt in heißen Kämpfen ringt, und ob es ein untrügliches Gesetz ist: um so weniger zu geben, je mehr gefordert wird.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London