Abschnitt. 2

Die Fahrt war lieblich und interessant zugleich: in selten unterbrochener Reihenfolge zogen sich die Land- und Sommerhäuser der alten Adelsfamilien am Ufer entlang und die Lapidarstil-Antworten unsres Bootsmanns waren ein historischer Vortrag trotz einem. Durch alle Buchstaben des Alphabets hindurch, von den Arundels an bis nieder zu den Sutherlands, begrüßten uns hier von rechts und links die stolzen Namen der englischen Geschichte und wie bunte Bilder zu diesem Adelsbuch spiegelten sich im Themsewasser vor uns alle Baustile des Mittelalters, vom Tudor-Giebel an bis aufwärts zum Normannenturm.

So kamen wir bis Teddington und die Schleuse passierend, die den äußersten Punkt angibt bis wohin die Meerflut vorzudringen pflegt, war es plötzlich, als ob die Landschaft noch landschaftlicher würde. Der Villen wurden weniger, bis daß sie ganz verschwanden; weidendes Vieh trat an die Stelle belebterer Plätze, und Mr. Owen, den es plötzlich berühren mochte als führe er in seinem heimischen Pembrokeshire den River Teifi hinauf, begann alsbald ein wallisisches Volkslied zu singen, das, trotz der Kapriolen, mit denen er es begleitete, niemand zu würdigen schien als er selbst. Alles war froh als Mr. Taylors Porter-Baß zu guter Stunde God save the Queen anzustimmen und alle Verlegenheit in den immer fahrbaren Kanal des alt-englischen Patriotismus abzuleiten begann. Eine Pause noch, dann hielten wir; vor uns lag Hampton-Court.


Miß Harper sprang ans Ufer. Während sie sprang, fiel ihr der leichte Strohhut in den Nacken und ihr blauer Schleier flatterte weit hinter ihr im Winde. Es war, als flöge sie. Mr. Taylor folgte und machte gravitätisch den Ritter der übrigen Damen; dann ging es in den Park, dessen geschorne Rasenflächen in jener Schönheit vor uns lagen, wie sie den englischen Gärten eigen ist. Ich erklärte das Schloß und seine berühmte Bildergalerie in Augenschein nehmen zu wollen, wozu man mir aufrichtigst gratulierte, aber auch allseitig hinzusetzte, daß man mich meinem Schicksal überlassen müsse, da sie samt und sonders die Sehenswürdigkeiten von Hampton-Court so genau kennten, wie die Nippsachen auf ihrem eigenen chinabord, und die Porträts ihrer Könige viel zu gut im Gedächtnis hätten, als daß es einer Galerieauffrischung bedürfe. Ich war herzlich damit einverstanden; denn wenn es eine Strapaze ist Bilderausstellungen zum hundertsten Male besuchen zu müssen, so ist das Los dessen um kein Haarbreit beneidenswerter, der bei dem höchsten Interesse für das, was er zu sehen gedenkt, solchen widerwilligen Führern in die Hände fällt und durch lange Säle und Korridore hindurchgejagt wird, ohne etwas anderes als die Erinnerung an ein Schattenspiel und das kaum mit nach Hause zu nehmen. Denn die Gelangweiltheit solcher Begleiter legt sich wie ein Schleier über unsere Augen und ihr wiederholtes Gähnen verschlingt unsere gehobene Stimmung bis auf den letzten Rest. Ich war von Herzen froh, dieser Gefahr überhoben zu sein und während meine Gefährten den Park durchstreiften, schritt ich dem Schlosse zu, dessen Bauart und Bilderschätze meine Erwartungen noch weit übertreffen sollten.

Schloß Hampton-Court zerfällt in zwei verschiedene Teile, die, wiewohl äußerlich miteinander verbunden, doch auf den ersten Blick ihre doppelte Abstammung verraten. Die ältere Hälfte präsentiert sich im Tudorstil und zeigt denselben in der ihm möglichsten Vollendung. Vier rechtwinkelig aufeinander gestellte Häuserfronten bilden einen Hof und während die beiden Seitenflügel nur aus langen ununterbrochenen Fensterreihen bestehen, stellen die eigentlichen Fronten in ihrer Mitte zwei breite gotische Torbauten zur Schau, deren Ecken durch abgestutzte, das eigentliche Portal nur wenig überragende Türme flankiert werden. Es ist derselbe von Bauverständigen belächelte Stil, in dem sich bis diese Stunde der Palast von St. James dem Beschauer darstellt, ein Stil, der, wenn auch an Schönheit zurückstehend, doch etwas Charakteristisches, ich möchte sagen Männliches hat, das mich um deshalb für ihn einzunehmen wußte, so oft ich ihm begegnete.

Der neuere Teil des Schlosses ist aus der Zeit Wilhelms III. und ein Werk Christoph Wrens, des berühmten Erbauers der Paulskirche. Das Ganze bildet wiederum ein geräumiges Viereck, dessen unterstes Geschoß (nach der Hofseite hin) auf ionischen Säulen die ganze Wucht des Hauses trägt. Vermutlich gilt dieser Neubau als der schönere Teil des Schlosses; mir gilt der alte mehr.

Beide Teile haben ihre besondere Sehenswürdigkeit, der neuere: die Bildergalerie – der ältere: die große Banketthalle aus den Tagen Heinrichs VIII. Diese betritt man zuerst. Sie ist auch in England, diesem Vaterlande der Hallen, ein Unikum, und übertrifft an Schönheit, wenn auch vielleicht nicht an Ausdehnung, die berühmte Westminster-Halle um ein bedeutendes. Ich sehe ab von jeder erschöpfenden Beschreibung, aber das eine heb’ ich hervor, daß dieser mächtige Bau, in den wir wie in das Mittelschiff einer gotischen Kirche treten, die Sonne der Anna Bulen aufgehen und die Huldigungen eines Hofes zu ihren Füßen sah. Noch jetzt gewahrt unser Auge die Buchstaben AH. (Anna und Heinrich) wie ein Bild ihres Einsseins an verschiedenen Stellen des Deckengetäfels; Buchstaben, eingeschnitten vielleicht, als schon die Schneide des Beils über dem Nacken der schönen Büßerin war. – Aus dem hohen gotischen Fenster blickt, in Glas gemalt, jenes Tyrannengesicht auf uns hernieder, dessen leisestes Stirnrunzeln ein Todesurteil war, und vom Kamin her, charakteristisch und wohlerhalten, trifft uns das Auge Wolseys, jenes stolzen Prälaten, dessen Klugheit die viehische Wildheit seines Königs wie einen Stier an den Hörnern hielt. Zwanzig Jahre lang! Dann kam die Stunde, die nicht ausbleibt und seinen Führer hoch in die Lüfte schleudernd, trat ihn das schäumende Tier mit Füßen.

Eine Tragödie ersten Ranges spielte sich innerhalb dieser Mauern und im Zeitraum weniger Jahre ab. Wolsey war auf seiner Höhe und wiegte sich in Sicherheit. Nicht die Dauer seines Glückes, nur die Dauer seines Lebens machte ihm Sorge und die klügsten Arzte nach allen Seiten hin aussendend, gebot er ihnen, den gesundesten Platz in der Nähe Londons ausfindig zu machen. – Sie fanden Hampton-Court. Da entstand jenes Schloß und jene Halle, die noch heut von der Macht und Prachtliebe ihres Erbauers Zeugnis geben und am 13. Juni des Jahres 1525 war es, daß König Heinrich von London hernieder kam und einzog in den Prachtbau seines ersten Dieners, der sein Herr war. Da stand hier ein Thronhimmel und ihm zunächst der Polsterstuhl des Kardinals, da mischte sich unter die Banner der Tudors, die von allen Pfeilern herabwehten, das zudringliche Wappen des Kardinals und der priesterliche Hofstaat, darunter alter Adel des Landes, überstrahlte an Gold und Glanz, die Schranzen des königlichen Hofes. Der König sah’s und ein Schatten zog über sein Antlitz; da verneigte sich der geschmeidige Kardinal und sprach: dies hab’ ich gebaut, daß es deiner würdig sei; Hampton-Court ist dein. – Das war ein königliches Geschenk; noch im Geben tat es der Diener dem Herrn zuvor.

Glänzendere Tage kamen, die Tage Anna Bulens und mit ihnen die Schicksalsstunde des Kardinals; zum ersten Male wagte er es, zwischen die königliche Leidenschaft und ihr Opfer zu treten und siehe da – er war das Opfer selbst. Über ihn hinwegging der Hochzeitszug der Anna Bulen.

Und wieder andere Tage folgten. Wolsey lag vergessen auf einem Kirchhof in Leicestershire, seine Siegerin aber, nun selbst besiegt, schrieb jene schönen Sterbeworte: „Sie machten mich zur Königin und da ich auf Erden nicht höher steigen kann, machen sie mich heut zu einer Heiligen.“

Dann fiel ihr Haupt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London