Im alten Polen

Im oberschlesischen Gleiwitz gibt es bessere Hotels als in Krakau, das bereits im Gouvernement liegt, aber in Krakau gibt es besseres Essen als in Gleiwitz. Auf unserer Fahrt von Berlin an die Ostfront haben wir deshalb in der einen Stadt geschlafen und sind dann am nächsten Morgen mit leerem Magen hinübergefahren in die Hauptstadt des Gouvernements.

Diese im Grunde genommen völlig belanglose Tatsache wirft ein bezeichnendes Licht auf die bevorzugte Behandlung, die das Reich, soweit es ihm möglich ist, den ehemaligen Feindgebieten angedeihen lässt, die heute direkt oder indirekt dem neuen Deutschland angegliedert sind. Diese Rücksichtnahme ist auch auf anderen Gebieten festzustellen. Die untersten Verwaltungsstellen zum Beispiel sind fast ausschließlich aus polnischen Elementen zusammengesetzt, so dass der einzelne Burger fast niemals direkt mit den deutschen Behörden in Berührung kommt. Wenn er auf irgendeiner Amtsstelle etwas will und es nicht erreicht, ist es stets ein Pole, der ihm die abschlägige Antwort erteilt, und wenn es gar zu einer unliebsamen Diskussion kommt, so ist es immer ein Landsmann, mit dem er sich streitet.


Den verantwortlichen Stellen des Reiches ist weiterhin sehr viel daran gelegen, das äußere, traditionsgebundene und historische Bild der Stadt zu wahren und dort, wo es möglich ist, werden weitgehende Renovierungsarbeiten durchgeführt, die ihr ursprüngliches Gepräge wiederherstellen. Am Haupt- und Marktplatz von Krakau zum Beispiel — er heißt heute Adolf-Hitler-Platz — fielen mir zwei große Gerüste auf, die, inmitten alter und stilvoll erbauter Häuser des späten Mittelalters, hoch über diese hinausragten. Hier wurden moderne Bauten, die seinerzeit ziemlich geschmacklos in der alten Stadt eine Eingliederung fanden, abgerissen und durch andere ersetzt, die dem einheitlichen Gepräge des Gesamtbildes wiederum gerecht werden.

Krakau hat auch sonst nicht viel von seinen bekannten Eigenheiten und Schönheiten verloren. Und obwohl die polnischen Straßennamen alle durch deutsche ersetzt oder zum mindesten ins Deutsche übersetzt wurden, sieht man vor der berühmten Sophienkirche immer noch die alten Pferdekutschen, deren Fahrer wie in vergangenen Zeiten den steifen Koks auf dem Haupte tragen, dieses Mittelding zwischen feierlichem schwarzem Hut und Zylinder, das eigentlich so gar nicht zu einem Kutscher passt. Dieses Mittelding uneingestandener Wurde, das wie ein Überbleibsel an die alte Zeit erinnert, in der Krakau noch zu den ehrwürdigen Städten der königlich-kaiserlichen österreichischen Monarchie gehörte. Und immer noch verkaufen die Bauern und Handwerker in der Markthalle ihre Stickereien und künstlerisch geschnitzten Holzfiguren, von denen sich, wie schon in alten Zeiten, jeder Besucher ein Andenken mit in seine Heimat zurücknimmt.

Freilich, eines hat sich sehr geändert: Im Gouvernement, in welchem neben den rund zwölf Millionen Einwohnern etwa 1,2 Millionen Israeliten lebten, hat das Judenproblem unter dem neuen Herrscher eine radikale Losung gefunden. Ursprünglich fristeten in Krakau mit nicht ganz einer halben Million Einwohner rund 70.000 Juden ihr Leben, und heute, nachdem der größte Teil von ihnen freiwillig, oder auf dringende Empfehlung höherer Stellen, in das ehemals polnische Gebiet auswanderte oder ausgewandert wurde, sind es immer noch 29.000.

Wie im Reich sind sie gekennzeichnet und tragen auf einer weißen Armbinde aufgenäht einen Davidstern in blauer Farbe. Um sie nach Möglichkeit ganz aus dem Stadtbild zu verdrängen, wurden sie in eigenen Wohnvierteln angesiedelt, wo sie über eine weitgehende Selbständigkeit verfügen. Ich habe das Wohnviertel der Juden in Krakau besucht, das genau wie alle übrigen in den größeren Städten des Gouvernements etwas vor der eigentlichen Stadt liegt und das wie in einem Ghetto — dieser Name wird im Übrigen von den deutschen Behörden vermieden — durch eine umfassende Mauer von den übrigen Siedelungen getrennt ist. Innerhalb ihres Wohnbezirkes haben die Juden ihre eigene „Regierung", einen sogenannten jüdischen „Ältestenrat". Sie haben eine eigene Verwaltung, eine eigene, uniformierte jüdische Polizei, ihre eigene Post und sogar ihre eigene Zeitung, die in hebräischer Sprache erscheint. Alle Namensschilder und alle Ladenanschriften sind ausschließlich in hebräischer Sprache gehalten. Es ist überflüssig, zu betonen, dass die Einwohner der Stadt Krakau zum jüdischen Wohnviertel keinen Zutritt erhalten. Die Juden selbst dürfen die eigentliche Stadt nur mit besonderen Genehmigungsscheinen betreten, die sie aber nur dann erhalten, wenn sie dort eine Beschäftigung nachweisen können.

Auf dem Weg nach Lemberg sehe ich gegenüber früheren Zeiten starke Veränderungen. Ich meine nicht nur die gutgeschotterte Straße und ich meine auch nicht die mit Sorgfalt gepflegten Felder. Ich meine die auffallend in die Augen springende Sauberkeit, welche der Gesamteindruck hinterlässt. Fast alle der in die Tausende gehenden Anzahl der Landhäuser, die links und rechts der Straße liegen, weisen durchwegs einen neuen Anstrich auf. Darüber hinaus sind die üblichen Strohdächer auf den Behausungen teilweise verschwunden — eines der typischen Zeichen des beginnenden Ostens — und in sehr vielen Fällen durch stabilere ersetzt worden. Leider hat sich an den Menschen, die dort wohnen, noch nicht viel geändert, und es werden grundsätzlich revolutionierende Erziehungsmethoden notwendig sein, um diese Leute auch in ihrer persönlichen Lebenshaltung den veränderten Behausungen anzugleichen.

Noch immer stehen die Bauern barfuß und schon mehr als nur schlecht gekleidet vor ihren Häusern und schauen erstaunt, als ob es so etwas nicht schon lange gäbe, unseren vorbeifahrenden Autos nach. Ganz abgesehen von typischen kleinen Kindern männlichen Geschlechts, die mit einer Beharrlichkeit, welche schon beinahe als traditionell angesprochen werden darf, die abgeschnittenen und verfransten Hosen des Herrn Papa oder des größeren Bruders bis knapp über die Knöchel der nackten Beine herabhängen haben.

Unsere Wagen, die an allen diesen Menschen vorbeifahren, erinnern sie wohl an den Krieg, der hier einmal wie ein Spuk vorüberhuschte. Aber heute merken sie nichts mehr davon, und auch wir können keine Anzeichen dieser harten Tage erkennen, wahrend denen Polen seine Freiheit verlor. Nur hin und wieder steht neben der Strafte eine mit Moos und wildem Gesträuch überwucherte Ruine, ein geschleifter Bunker, der aus alten Zeiten erzählt, und einmal nur, ein einziges Mai, neben einem Gemüsegarten ein polnisches Soldatengrab.

Das erste Städtchen, das wir auf unserer Fahrt nach Lemberg berühren, ist Tarnow. Diese größere Ortschaft, in der vor allem die vielen, mit der Armbinde gekennzeichneten Juden auffallen, ist nicht unsauber, aber sie scheint sehr arm zu sein. Die Straßen sind breit aber schlecht in Stand gehalten, und von den durchwegs niederen und einfach gebauten Häusern ist kaum eines jünger als 20 Jahre. Vor einem Laden stehen viele Frauen mit Tontöpfen, Blechkannen und sogar zinnernen Benzinkanistern. Ich glaube, sie warten auf Milch.

Wenige Minuten später begegnet uns das erste Symbol des Krieges im Osten: Ein Lazarettzug rollt vorbei. Durch die Fenster sehen wir die Verwundeten in ihren Betten liegen, und irgendwie beruhigt es, dass lange nicht alle Lager besetzt sind. Einen Augenblick halten wir an und schauen uns die vorbeirollenden Waggons an, ehe es wieder weiter geht. Auf einer schnurgeraden asphaltierten Straße. Autos und Lastwagen der Wehrmacht überholen uns oder kommen uns entgegen. Fast ausschließlich gehören sie dem Nachschub an. Alles rast mit einer Geschwindigkeit von 70 bis 100 Kilometern seinem Ziel entgegen. Das ist das Tempo des modernen Krieges.

Verschwommen liegen neben uns im blaugrauen Dunst die ersten Ausläufer der Karpaten.

Ihr Einfluss auf die Witterung dieser Gegend ist auffallend. Es regnet viel, auch jetzt, und weite Landstriche des sonst so fruchtbaren Bodens sind zu nass und können mit den zur Verfügung stehenden primitiven technischen Mitteln nicht urbar gemacht werden. Wie durch einen künstlich regulierten Ablauf läuft das Wasser inmitten der Ackerfurchen von Kartoffelfeldern und wie Silberfäden durchziehen schmale Bache den grünen Grund. Die Bewohner der Dörfer, die hier fast durchwegs nur über einen einzigen Dorfbrunnen verfügen, müssen nicht tief graben, um auf Wasser zu stoßen. Aber gerade deshalb muss man sich immer wieder die Frage vorlegen, weshalb im Interesse der Reinlichkeit und auch Bequemlichkeit nicht mehr von ihnen angelegt werden.

Über der Einfahrtsstraße zu dem Städtchen Reichshof (Rzesow) ist ein weites Transparent gespannt, auf dem geschrieben steht: „Das deutsche Schwert schützt die Welt vor dem Bolschewismus." Ein Text, der auch noch an anderen Orten zu lesen ist. Dazu sind fast überall in Polen die Wände der öffentlichen Gebäude und manchmal auch der privaten mit dem großen „V", dem Zeichen des deutschen Sieges, bemalt. In diesem Städtchen mit seinen sauberen Garten und Anlagen erblicke ich die ersten Zeichen des nahen Krieges. Ich sehe es an den von den Militärbehörden unterzeichneten Zetteln, die an den Häusern kleben und die Bevölkerung auffordern, das Leitungswasser vor dem Genuss zu kochen. Ich sehe es an den Häusern, die manchmal schon leicht östliche Bauart aufweisen, an den Männern und Frauen, — nicht zu reden von den Kindern — die vereinzelt immer noch barfuß durch die Straßen laufen, und nicht zuletzt an dem vielen Federvieh, das sich zwanglos, als Herrscher über die Gassen, längst nicht mehr in Hinterhöfen herumtummelt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Schweizer Journalist sieht Russland
Auslandsjournalisten

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Bauernhaus in der Ukraine

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Bauern auf dem Weg zur Kirche

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Bauernmädchen

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Bilder vom zerstörten Kischinewe und Kiew

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Kiew, Sophienkirche

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Kirchgang der Kinder

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Mit vereinten Kräften ziehen die Vertreter der Weltpresse ihren verfahrenen Wagen aus dem Schlamm

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Prozessionen und Kirchgänger in Kiew

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Waisen

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Wegweiser in die Heimat

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