Und wieder es einmal Abend war

Wie ein fremdes Vöglein das Waldbrünnlein verführen wollte, der Tannenbaum es aber vor ihm warnte.


Und wieder es einmal Abend war,
Die Luft war duftig, der Himmel klar,
Und grad' zum Märchenerzählen die Zeit.
Da sah der Tannenbaum gar lang
Das Brünnlein an mit verstohlnem Leid,
Und sprach zu ihm: „Hast du mich noch lieb?“ –
Da ward dem Brünnlein aber so bang,
Daß ihm das Herz fast stocken blieb;
Sein Spiegel zitterte verstört,
Und es that, als hab' es Nichts gehört.
Der Tannenbaum doch weiter fuhr:
„O Brünnlein sieh', was verstellst du dich nur?
Ich seh' dir ja doch in's Herz hinein,
Weiß jedes Wort vom Vögelein.
Ich weiß auch dein geheim Versprechen,
Du wollest noch heut' in nächtlicher Stunde
In listigem Plan den Schacht durchbrechen,
Und ach, darüber gehst du zu Grunde!
Ich halt' dich nicht auf, o bange nicht!
Wenn dir's an Lieb' zu mir gebricht,
Denn nur der eignen Liebe Gewalten
Vermögen dich bei mir aufzuhalten.
Du brauchst auch darum nicht zu bangen,
Als wollt' ich Dank von dir verlangen!
Ich hab' dir Alles aus Lieb' gethan,
Und rechne keine Schuld dir an.
Nur Eins sollst du dafür mir geben,
Eh' dich das Vöglein wird bethören,
Eh' du verscherzen wirst dein Leben,
Ach Nichts, als noch mich anzuhören! –
„Sieh' Brünnlein, du willst mir nun entfliehn,
Und mit dem fremden Vöglein ziehn,
Und glaubst sogleich ihm jedes Wort,
Und kennst es einen Tag doch kaum!
Da schiebst du deinen Tannenbaum,
Der doch so lang als Liebeshort
Dir tausendmal bewährt die Treu,
Als einen Lügner gleich bei Seit'!
Das Vöglein ist dir eben neu,
Und mich kennst du so lange Zeit,
Da muß ich's freilich gern verschmerzen,
Daß ich dir jetzt verleidet bin:
Es geben all die jungen Herzen
Das Alte gern um Neues hin.
Und sieh', du meinest heute noch:
Wenn ich ihn auch nun werd' verlassen,
Wo ich auch sei, – ich lieb' ihn doch.
Und morgen schon wirst du mich hassen!
Du machst von meiner Lieb' dich frei,
Und werden tausend glatte Wellen
Umgarnen dich als feilen Gesellen
In schmeichlerischer Tyrannei,
Bis du geholfen, wonach sie trachten,
Und dann dich schelten und verachten!
Und sieh', du meinest weiter noch! –
O Brünnlein sag', du hörst mich doch?“ –
Das aber schwieg und seufzte laut.
Und weiter sprach er mitleidstraut:
„O sieh', du meinst, ‘s wär' Nacht bei mir,
Doch draußen, da wär' Sonnenlicht,
Da flössest du in stolzer Pracht; –
Ich aber wahrlich sage dir:
Das Licht, das dir das Vöglein verspricht,
Wird dir verdunkeln über Nacht.
Von Stolz berauschet und bethört
Wirst du die falsche Straße fließen!
Wo segnend du sollst die Flur durchgießen,
Zum Fluche nur dein Quell zerstört.
Und wenn du deinen Weg vollbracht,
Wirst elend du im Sumpf verschmachten!
Kein einzig Ohr dein Jammern hört,
Kein Stern wird sein in deiner Nacht.
Du wirst dich selber noch verachten!
Dahin, dahin dein wüster Traum!
Das Vöglein teuflisch dich verlacht!
Und zum Erbarmen wirst du flehn,
Dir mög' der alte Tannenbaum
Nur einmal noch zu Häupten stehn!“
Und wieder hielt sein Rauschen inne.
Er sah zum Brünnlein lang hinein,
Als ob er trauernd drüber sinne.
Doch wie er sah, wie noch so rein
Deß Spiegel glänzt' im dunkeln Stein,
Da mußt' er auch sein Schweigen brechen
Vor Wehmuth und Barmherzigkeit,
Und rief mit tiefbewegtem Ton:
„O Brünnlein, muß ich so zu dir sprechen!
Ich ließ' dir ja gerne freien Lauf,
Wär' nur gekommen schon die Zeit.
Ich liebe dich nicht um eiteln Lohn,
Ach halt' auch du aus Lieb' dich auf!
Noch hast du des Wassers Fülle nicht,
Mit segnendem Strahl in die Welt zu gehn;
Noch hat nicht genug mein Angesicht
In deinem Spiegel sich besehn;
Noch hast du nicht der Tage genug,
Mein Rauschen gänzlich zu verstehn,
Das dich die Wahrheit lehrt und den Trug.
Ich gönn' dir ja der Freiheit Freuden,
Wie dir's nicht gönnt ein Herz auf Erden;
Nur soll dein reiner, göttlicher Bronnen
An gift'ge Fluthen sich nicht vergeuden;
Nur soll zum verheerenden Fluch nicht werden,
Was nur zum Segen an's Licht geronnen:
Drum harre nur noch kurze Zeit,
Bis du des Wassers Fülle gewonnen,
Dann sollst als freier Gottesbronnen
Du fließen über'n Fels hinaus!
Und alle Wellen, nah und weit,
Sie strömen aus dem Mutterhaus;
Von mir durchrauscht, von mir besehn,
Aus mir sie all' zum Meere gehn.
Und ach, welch' selige lichte Bahnen
Werd' ich zum Ocean dir weisen!
O du mein Kind, laß mich dich mahnen!
Laß dir die falsche Sehnsucht stillen,
Laß von der Mutter dich nicht reißen,
Nicht meinethalb, nur deinetwillen!“
Und wie der Tannenbaum nun schwieg,
Aus seinem Reis mit süßem Hauch
Zum Fels ein Lüftchen niederstieg,
Und weckte den Wachholderstrauch,
Und lispelt' ihm geheim in's Ohr.
Der bog sich über'n Felsenschacht
Vertraulich zu dem Brünnlein vor,
Und flüstert' in die stumme Nacht:


„Erst wirst durch traulich Waldesthal
Du zwischen jungen Erlen fließen,
Und mit erquickend frischem Strahl
Der Wiesen durst'gen Halm begießen.
Da werden Veilchen still und fromm
Sich trinkend zu dir niederbiegen,
Und nicken lieblichen Willkomm.
Und wo ein Vöglein dich hört rauschen,
Da wird es grüßend niederfliegen,
Und gern sein Nest mit dir vertauschen,
Und baden in dir den seidnen Flaum.
Wo du nur ziehst an Strauch und Baum,
Wird niederwehn ein duft'ger Regen
Als Frühlingsdank für deinen Segen.
Und mußt durch Fels und rauhen Dorn
Du auch dich mühsam manchmal streiten,
Wird um so klarer nur dein Born
In junger Kraft hinuntergleiten;
Denn drunten im Grund voll grüner Kühle,
Da harrt auf dich das Rad der Mühle.
Von jungem Streitermuthe trunken
Greifst du es an gar stark und kühn,
Daß deine Wellen wie Siegesfunken
Versilbert in der Sonne sprühn;
Doch drüben am Hollunderflieder
Klärt ruhig sich dein Bronnen wieder.
Und rührig wird's im stillen Haus,
Es schafft und sammelt jede Hand;
Nur feiernd an dem Fensterrand
Sieht Müllers Töchterlein heraus,
Und sinnt in dir voll frommer Ruh,
Und wirft dir traut ein Röslein zu.
Und mit dem Röslein auf der Welle,
Im Herzen des Mägdleins Angesicht,
Ziehst weiter du im Abendlicht.
Da betet auf der Bergkapelle
Des Glöckleins Mund den Engelsgruß;
Da hältst du auf den flücht'gen Fuß,
Und betest flüsternd mit dem Ried!
Zur Mühle noch dein Auge sieht,
Darin am Fenster das Mägdlein kniet;
Doch sie verschwimmt im Nebelflor.
Es singt in Schlummer dich das Rohr.
Du siehst noch selig dein Röslein an,
Und hat dein Aug' sich zugethan.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Märchen