Doch wie es oft so gehen mag

Wie ein fremdes Vöglein das Waldbrünnlein verführen wollte, der Tannenbaum es aber vor ihm warnte.


Doch wie es oft so gehen mag,
Da kam einmal vor'm frühsten Tag
Ein fremdes Vöglein hergeflogen
Mit schillerndem Flaum wie Schlangenhaut.
Und da's geheim den Bronnen umzogen,
Da sang's ihn wach so glockenhell,
Und that mit ihm gar schnell vertraut,
Und pries ihm seinen klaren Quell,
Und tauchte flatternd drein die Brust,
Und nippte draus in neckischem Spiele.
Das macht' dem Brünnlein viele Lust.
Doch wie das Vöglein geheim gewußt,
Daß es dem Bronnen so wohlgefiele,
Da ließ es schnell das Scherzen sein,
Und setzte müde sich zum Rain,
Ließ traurig hangen Flügel und Haupt,
Und sah den Quell so leidvoll an
Mit grauen Aeuglein, schlangengleich,
Daß der am Ende gar geglaubt,
Er hab' dem Vöglein ein Leid gethan,
Und ward sogleich das Herz ihm weich.
Das aber sprach mit lauerndem Blick:
„O Brünnlein, wie jammert mich dein Geschick,
Daß deine junge selige Zeit
Du so verdirbst in Einsamkeit,
In trüber, dumpfer Waldesnacht,
Drin kaum ein Strahl der Sonne lacht!
Und daß dein blutjung freies Leben
Für ewig willst gefangen geben
An diesen alten Tannenbaum,
Der dich ja doch nur darum liebt,
Weil ihm dein Wasser das Leben giebt!
Glaub' mir, sein Wort ist dunkler Traum,
Darin dein leuchtend Herz verdumpft,
Darin dein frischer Quell versumpft!
Du armes Herz! Wie dauerst du mich!
Ich flog zu dir her, ich rette dich.
O Brünnlein vertrau mir, und fürchte Nichts,
O komm mit mir fort in die Thale des Lichts,
Drin ewig leuchtet der Sonnenschein!
Dort erst wirst recht du lebendig sein,
Und wie du nur willst, so frei, so frei!
O könnt' ich dir sagen, wie wonnig es sei,
Im Funkeln der Sonnen an stolzen Gestaden
Da drunten im Strome des Lebens zu baden!
Doch das kann nimmer mein Wort dir sagen,
Du mußt es selber fühlen und wagen;
O mach' dich frei noch zu dieser Stunde!
Komm mit! Sonst gehst du auf immer zu Grunde.“
So sang das Vöglein so heimlich leis,
Die Morgenluft sie hört' es kaum;
Und schnell verschwand's im Heckenreis.
Doch ach! Der alte Tannenbaum,
Er hatte Wort für Wort vernommen,
Und stand gar traurig und beklommen.
Ein Seufzen durch die Zweige ging,
Sein Haupt voll schwerer Tropfen hing:
So war ihm herbe Trauer kommen.
Doch alle Kraft er zusammen nahm,
Daß ja sein stummer Herzensgram
Dem Brünnlein noch verborgen bliebe,
Und mit verdoppelt sinnender Liebe
War für sein Kind er treu bedacht,
Und sorgt', wie auch sein Harm so tief,
Ihm noch für manches fromme Spiel;
Doch in der lautlos stillen Nacht,
Wenn Alles rings in Frieden schlief,
Manch' schwere Thräne niederfiel.


So ging es manchen Tag noch fort.
Doch ach! Des fremden Vögleins Wort,
Das hörte das Brünnlein immerdar.
Des Waldes friedensreicher Hort
Ihm halb zur Langeweile war.
Was ihm auch that der Tannenbaum,
Zerstob an ihm zu leichtem Schaum,
Und macht' es zuletzt verlegen gar.
Und wie es auch manch' stille Stund'
Sein Herz zum Tannenbaum gezogen;
Und wie es sich auch Zweifel gemacht,
Es hab' am Ende des Vögleins Mund
Ihm doch nur Etwas vorgelogen:
‘S war einmal um seine Ruh gebracht,
Und half ihm alles Denken Nichts.
Es träumte nur von den Thalen des Lichts;
Dort wollt' es frei und sonnig fließen,
Und hätt' Nichts Lieberes haben wollen,
Als wenn, statt all' der Lieb', mit Grollen
Die Tanne selbst es von sich gewiesen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Märchen