Und wieder sah das Brünnlein hinauf

Wie das Waldbrünnlein nun aber doch den Tannenbaum verließ.


Und wieder sah das Brünnlein hinauf;
Die Tanne winkt' mit dem Finger stumm.
Das Vöglein drängte: „Doch nun geschwind!“
Die Tanne klagte: „Mein Kind! mein Kind!“
Das Brünnlein schwankte hin und wieder.
Das Vöglein höhnte: „Ich seh's nun ein,
Wohl möchtest du gern in der Freiheit sein,
Doch hält dein Tannenbaum dich nieder.“ –
Da kam's dem Brünnlein in den Sinn:
„Ich will ihm nur zeigen, daß frei ich bin;
Ich zieh' nur bis zum Waldessaum,
Dann kehr' ich zurück zum Tannenbaum.“
Drob lachte das Vöglein in heimlicher Lust:
„Ja komm nur mit, und denk' daran,
Du wollest rückwärts wieder die Bahn!
Reiß' ich dich nur von der Mutterbrust,
Dann hast zum Foppen du nimmer die Macht, Dann mußt du mit mir! – Ja zieh' nur fort!“
Und auf des Vögleins belehrend Wort
Grub unten, tief im Felsenschacht,
Das Brünnlein durch Gestein und Moos
Sich links den Weg, und macht' sich los;
Und mied den Weg zur rechten Hand,
Da noch sein Quell zu niedrig stand,
Und über'n Fels mit freiem Strahl.
Zu fließen in das Erlenthal.
Ringsum lag Alles noch im Schlummer.
Der Tannenbaum war wach allein,
Und winkte noch in stummem Kummer.
Doch dachte das Bächlein: „So mag's nun sein!
Mir macht sein Winken das Herz nicht schwer,
Er weiß ja nicht, daß ich wiederkehr'.“
So bracht' es gleich sein Herz zur Ruh,
Und zog voll Stolz und Neugier fort.
Das Vöglein sprach mit munterm Wort
Und arglos leichtem Scherz ihm zu.
Ihm winkten rechts und links vom Hang
So treubekannt noch Strauch und Baum,
Und grüßten traut im Morgenwind;
Da macht' ihm auch die Fahrt nicht bang.
Und also kam's zum Waldessaum,
Gleich wie ein harmlos spielend Kind,
Das Beeren sucht – und wußt' es kaum.
Auf einmal aber schreckt' es auf,
Und hielt zurück den spielenden Lauf,
Und ward ihm so wohl und wieder so bang.
Schon sah durch lichten Laubeshang
Es draußen fließen die blaue Luft;
Noch einen Schritt, und wieder einen –
Und unter ihm in sonnigem Duft,
Da sah's gar reizende Thale scheinen,
Da sah's wie funkelnden Diamant
Die Wasser weben ihr wallendes Band;
Da winkten zu ihm gar lockend herauf
Viel blendende Schlösser mit blitzendem Knauf,
Da grüßte verschleiert der Berge Wand
Mit Eisrubinen im schneeigen Haar;
Und wie's in die Weite den Blick mocht' senden,
Die ferneste Ferne war wunderbar,
Und wollte der Zauber sich nimmer enden.
Da schwanden dem Bächlein die Sinne ganz:
„Ach dürft' ich schaun nur eine Stunde
Hinunter in den himmlischen Glanz!“
So rief's aus seufzendem Herzensgrunde –
„Nur aus dem Wald noch will ich gehn,
Um frei, ganz frei hinabzusehn;
Dann will ich gern zur Tanne kehren.
Darf's ja wohl wagen – wer will mir's wehren?“
Und mit der Neugier hast'gem Drang
Trieb's fort bis nah zum Felsenhang.
Doch wie es nun wollt' stehen bleiben,
Um frei, ganz frei hinabzuschaun,
Da überlief's ein eisig Graun.
Es mußt', es mußte weiter treiben,
All' seine Kraft war ihm genommen,
Sein Aug', sein Sinnen war verschwommen.
Und ach! Der alte Tannenbaum,
Der kam ihm schon allmählig vor,
Wie ein vergeßner kindischer Traum,
Deß goldner Schimmer längst verglommen.
„Ha, war ich doch ein alberner Thor,
In Waldesnacht mich zu vergraben!
Da drunten, da drunten, da sprühen die Funken,
Das Licht und die Freiheit muß ich haben!“ –
So lallte das Bächlein von Schauer trunken,
Und seinen Geist umhüllte Nacht.
Da war's an der jähen Felsenwand,
Da spielt' es mit dem schwindelnden Rand,
Da stürzt' es hinunter mit brausender Macht.
Und über der Wellen verspritzendem Schaum
Sang gellend das Vöglein falschen Triumph.


Vom Walde klang ein Klagen dumpf –
Um's Bächlein rief der Tannenbaum.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Märchen