So sprach der Tannenbaum

Wie das Waldbrünnlein nun aber doch den Tannenbaum verließ.


So sprach der Tannenbaum, und schwieg.
Des Mondes träumerisches Licht
Empor aus trüber Wolke stieg,
Und schien in sein vergrämt Gesicht.
Das Brünnlein aber rührte sich kaum,
Und hielt durchschauert den Odem an:
So war's vom alten Tannenbaum
Bis auf den Grund ihm angethan.
Doch wie verweht im Hauch der Nacht
Allmählig der Tanne Wort zerronnen,
Da stahl sich aus der lauernden Wacht
Das Vöglein durch die Dornenhecken,
Und huschte keck hervor zum Bronnen;
Und flatterte scherzend und anfangs stumm,
Als wüßt' es gar nicht des Brünnleins Schrecken Um seinen bebenden Spiegel herum.
Dann setzte sich's zum Rand, und leise
Hub's an, sich mit dem Brünnlein zu necken:
Ob's denn zu seiner versprochnen Reise
Schon angethan das Wanderkleid,
Ob's schon verschmerzt des Scheidens Leid,
Den Stab auch schon zur Hand genommen –
Und reizte das Brünnlein fort und fort,
Auf daß es durch sein loses Wort
Nicht könne zu ernsten Gedanken kommen. Dazwischen, wie verloren, ließ
Es hie und da ein Wörtchen fallen
Von sonnigem Strom durch's Paradies,
Von minnigen Rosen und Nachtigallen.
Doch schnell hört's immer wieder auf,
Und ließ dem alten Necken den Lauf.
Da ward das Brünnlein ärgerlich
Ob des Vögleins spitzem Zungenstich,
Und waren ihm alle Gedanken vergangen.
Und dennoch kam ihm ein heimlich Verlangen, Noch mehr von der sonnigen Fahrt zu hören,
Und ward ihm drüber so wohlig zu Muth.
Doch wie das Vöglein gar nicht geruht,
Ihm durch sein Necken die Ruh zu stören,
Da schwellt' ihm der Unmuth das junge Herz.
Wie dann das Vöglein in bitterm Scherz
Ein frommes Mutterkind es geheißen,
Und ihm gerathen, es solle zur Fahrt
Sich ja nicht vom Herzen der Mutter reißen;
Es sei noch zu jung, und zu kindisch und zart,
Es solle nur fein bei der Tanne bleiben,
Ein Weilchen Kinderspiel noch treiben:
Da trotzte das Brünnlein mit eitelm Grollen
Gar schwer beleidigt dem Vöglein auf,
Es könne längst, wenn's nur möcht' wollen,
Zum Thale wagen den freien Lauf.
Doch lachte das Vöglein verächtlich es aus:
„Und wolltest auch mit mir zur Stunde geschwind,
Die Mutter läßt dich ja nicht vom Haus,
Geh', bist ein verhätschelt Mutterkind!“
Da kräuselt' der Zorn des Brünnleins Welle,
Vor Aerger das Wort ihm stocken blieb.
Das merkte das Vöglein, und schmeichelte schnelle:
„Ich thu' dir Unrecht, o Brünnlein vergieb!
Ich seh', du bist kein Kindlein mehr,
Hältst was auf Freiheit und Mannesehr'.
Und nun, wie ist's, willst du's nun wagen?
Denn sieh', dein alter Tannenbaum,
Der merkt es nicht, er liegt im Traum.“
Das Brünnlein sah mit ängstlichem Zagen
Zum Tannenbaum; doch der stand stumm,
Und sah es an in schmerzlicher Trauer.
Die schlafenden Rosen am Felsen herum,
Die fuhren auf und bebten vor Schauer;
Die Vöglein flatterten aus den Betten.
Sie träumten gar schwer, es solle zur Stunde
Das Brünnlein heimlich verrathen werden:
Da wollten sie's warnen, wollten es retten;
Doch stockt' wie gebannet das Wort im Munde.
Da mühten die Blumen sich ab mit Geberden,
Daß doch das Brünnlein sich möge verwahren;
Die Vöglein schwankten drüber her,
Und wollten es warnen vor nahen Gefahren,
Und konnten vor Angst nur seufzen schwer.
Wohl sah das Brünnlein vom Uferhang
Die Rosen verzweifelnd die Hände ringen;
Wohl hört' es die Vöglein seufzen bang,
Und spürte die ängstlich flatternden Schwingen;
Und doch vor'm Vöglein wollt' es nicht wagen,
Auch nur ein einzig Wörtchen zu sagen;
Und drückte sich nieder in zauderndem Harren,
Und möchte vor Reue zu Eis erstarren.
Da ward dem Vögelein doch bang,
Ihm möcht' durch die warnenden, stummen Geberden
Doch noch das Spiel verdorben werden:
Und schnell erhob es hellen Gesang,
Und pries mit wunderbarem Schlag
Das Morgenroth und den sonnigen Tag,
Und schwang sich auf, mit klingender Kette
Die Erde zu binden an's Himmelsblau,
Als säng's mit der frommsten Lerche zur Wette. Dann sank es wieder zur Waldesau,
Und grüßte die Rosen als blühende Schwestern, Sie sollten fein schlafen an Brünnleins Herzen; Und lockte die Vöglein zu ihren Nestern,
Sie sollten von neuen Liedern noch träumen,
Es wolle dieweil mit dem Brünnlein scherzen,
Bis daß der Morgen rausch' in den Bäumen,
Und fröhlich sie wecke der Sonnenschein.
Da dachten sie all': Nun bangt uns nicht;
Das ist ein Vöglein vom Himmelslicht,
Das kann ihm nicht von Schaden sein –
Und fest und ruhig schliefen sie ein.


Da lugte das Vöglein aus dem Versteck,
Ob Alles auch fest entschlafen sei.
Dann aber flog es hastig herbei,
Und drängt' voll Ungeduld gar keck:
„Nun, Brünnlein, nun ist's hohe Zeit,
Jetzt oder nie wirst du befreit!
Ist frei dein Wille, so magst du's zeigen!
Wie du nun willst, was kümmert's mich?
Gieb dich der Nacht denn ewig eigen,
Es glänzt der Tag auch ohne dich.“
Und wieder sprach's in weicherm Ton:
„Sieh', liebes Brünnlein, ich glaub' es schon,
Daß dich der Abschied etwas quält.
Der Tannenbaum hat's gut gemeint,
Und dir manch hübsches Märchen erzählt.
Doch wie da draußen die Sonne scheint,
Das hat er nie verspürt im Leben:
Drum weiß er's nicht, und meinet eben,
Bei ihm nur sei das rechte Licht –
Verarg's ihm auch im Grunde nicht.
Doch daß du durch des Alten Wahn
Drum deine Freiheit sollst verscherzen,
Zeugt nicht gar gut von seinem Herzen.
Mich geht dein Leben zwar nichts an;
Nur thut mir's immer bitter weh,
Wenn ich Eins so im Irrthum seh:
Drum flog ich her, dich aufzuklären,
Und dir zu helfen, dich frei zu machen,
Denn deines Tannenbaumes Mären
Kann ich mit Mitleid nur belachen.
Der hält dich auf dein ganzes Leben,
Müßt' seines ja sonst zum Opfer geben.
Nun, wie du willst! Was hab' ich davon?
Ich nehm' nur Mißtraun in den Kauf,
Nur deine Freiheit ist mein Lohn.
Entschließ' dich nun! Die Zeit ist um.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Märchen