Und in den Wächterthürmen am Wall

Wie das Waldbächlein bei einer Ueberschwemmung helfen mußte.


Und in den Wächterthürmen am Wall,
Da schliefen die Wächter in guter Ruh';
Der Wasser heimlich rauschender Schall
Sang ihnen das Wiegenlied dazu.
Doch endlich, von dem Jauchzen erwacht,
Erhob sich Einer in später Nacht,
Und rieb die Augen sich ärgerlich,
Und trug behäbig zum Fenster sich,
Und streckte die Glieder, und gähnte sich munter,
Und sah mit verschlafenen Augen hinunter.
Doch wie er ward der Fluthen gewahr,
Da lächelt' er klug: „Es hat nicht Gefahr.
Sie sollen nur toben und schäumen und steigen!
Wozu doch stände der Thurm am Strand?
Und werd' ich mich nur auf der Zinne zeigen,
Und winken nur mit drohender Hand,
Wie werden sie zitternd sich bücken und schweigen!
‘S ist drum nicht Noth, so eilig zu sein,
Und sich den besten Schlaf zu stehlen;
Und weckt mich wieder der Sonnenschein,
Dann kann ich noch immer schaun und befehlen.“
Und mit verächtlich lächelnder Miene
Schloß er getrost die Läden wieder,
Und legt' in der Kammer sich sorglos nieder,
Und zog zusammen die Gardine. –
Da weckte den Zweiten das schwellende Rauschen.
Wie fuhr der auf so bleich erschrocken!
Und zitternd stand er in zauderndem Lauschen, Zur Zinne schlich er auf leisen Socken,
Und traute sich kaum den Athem zu holen,
Und lugt' auf den Knie'n hinunter verstohlen,
Daß nicht die zornigen Fluthen ihn sähen:
„Was kann ich thun? Wenn sie mich erspähen, Wird sie mein Anblick nur reizen noch mehr: Dann werden sie mich am Ersten verschlingen. Und schaff' ich auch Felsen zum Dämmen her, Wer bürgt mir, ob es mir werde gelingen?
‘S ist drum am Klügsten, ich laure hier,
Und wenn die Fluthen den Damm bezwingen, Dann stoß' ich in's Horn, und stehle mich fort,
So rett' ich zugleich das Leben mir,
Und hüte nach meines Herren Wort.“ –
Und drauf aus seines Thurmes Thor
Trat keck der dritte Wächter hervor,
Und schielte lächelnd nach der Fluth,
Und rieb sich behaglich die Hände dazu,
Und lispelte heimlich: „Es ist nicht gut,
In solchen Zeiten Wächter zu sein.
Ich laß' am Besten die Wasser in Ruh',
Und sag' nicht Ja, und sag' nicht Nein,
Und laß' den Kampf sich erst entscheiden:
Und wer verliert, deß Recht war schlecht.
Denn was ist Wahrheit, was ist Recht?
Das Brot steht über allen Eiden.“


Und wie im frühsten Dämmerscheine
Der Wellen Werk nun fertig geworden,
Und locker sich neigten die Ufersteine,
Da rollte von des Abends Borden
Wie ferner Donner ein dumpfes Rauschen,
Daß alle die Fluthen in starrem Lauschen
An ihrer Arbeit stille standen.
Und näher und näher schlug's an ihr Ohr,
Wie rasender Wogen heulendes Branden,
Umschnaubt von der Winde wirbelndem Chor.
Da jauchzte der Strom im innersten Grunde
Ob der so heiß ersehnten Kunde.
Ha! war das eines Sturmes Dröhnen!
Doch war's kein Brausen irdischer Winde,
Es klang wie der Sterbenden letztes Stöhnen,
Wie eine Mutter schreit nach dem Kinde,
Und wie die Klagen der Bräute tönen.
Und sieh', da wälzte sich nahe schon
Quer über das Land mit betäubendem Ton
Der fremde Strom in schäumender Wuth.
Und weh! Drin rannen Bäche von Blut,
Und mitten auf der gethürmten Fluth,
Da trieb eine goldne, zerbrochne Kron',
Da schwankten wie todte Schwäne dahin
Zerfetzte Streifen von Hermelin.
Das Bächlein erbebte vor solchen Schrecken,
Und wollte sich am Ufer verstecken;
Die Andern aber, die waren wie trunken
Den fremden Fluthen in Arm gesunken,
Und weh! Ward das ein wildes Gesellen,
Und gegen den Damm ein donnerndes Prallen!
Da war er dröhnend zusammengefallen;
Da wälzten sich dumpf und wieder mit Gellen
Wie heulende Bestien in nächtlichem Streit
Die Wasser über den niedrigen Strand,
Und machten nach allen Winden sich breit,
Und stießen die Brandung von Land zu Land.
Da waren die Thürme wie Scherben zerflogen, Und der die Gardine zusammengezogen,
Und der so bleich auf der Zinne gekauert,
Und der mit Lächeln am Thore gelauert,
Die treuen Wächter, alle drei,
Sie fielen mit schneidendem Jammerschrei
Von der empörten Gewässer Streichen,
Und schossen dahin als blutige Leichen.

Und auch das Bächlein riß es fort
Hinaus in des Stromes verheerenden Lauf.
Der Tannenzweig stieg hastig auf,
Und mahnte mit flehendem, bebendem Wort:
„O Bächlein, komm', mit mir zu fliehn!
Und weißt du auch, wohin sie ziehn?
Das Heiligste wollen sie zerstören,
O bleib' zurück, laß dich beschwören!
Du gehst erbärmlich in das Gericht. –
Erfasse mich, und zaudre nicht!“
Das Bächlein aber stieß voll Hohn
Ihn von sich weg mit frecher Geberde:
„Hinweg von mir! Ich kenn' dich schon.
Willst in den Wald mich wieder bannen!
Wir aber werden die Herrn der Erde,
Ich will dich nicht, drum fahr' von dannen!“
Und von des Bächleins rauhem Stoß
Versank er wieder im Wellenschoos.
Da traf der entfesselte, dräuende Strom
Zuerst auf einen riesigen Dom.
Auf mächt'gem Felsen stand sein Bau,
Drauf reihten die Säulen sich himmelan
Nach unergründlich weisem Plan.
Vom Thurme stieg das Kreuz in's Blau,
Die ganze Erde sah es prangen.
Und tiefgeheim im Heiligthume
Blüht' eine dreimal heil'ge Blume,
Draus sieben goldne Bronnen sprangen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Märchen