Und auf schoß eine Schlange vom Grunde

Wie das Waldbächlein bei einer Ueberschwemmung helfen mußte.


Und auf schoß eine Schlange vom Grunde,
Die hatte vom Vöglein das Aug' und die Stimme,
Und bäumte das Haupt in zischendem Grimme,
Und hetzte die Wasser mit giftigem Munde:
„Hieher, und stürzt mir den Tempel ein!
Er will sich, der Erste, gegen euch stemmen.
Reißt nieder das finstre Modergestein,
Sonst könnt ihr die Welt nicht überschwemmen,
Um brausende Herren der Erde zu sein!“
Und dreimal geführt von der hetzenden Hyder
Erklommen die Wogen in jubelndem Sturm
Den Tempel bis hoch zum schwindelnden Thurm,
Und dreimal prallten sie machtlos nieder,
Daß sie zerschellt am Felsen verspritzten.
Doch schnell ermannte die Schlange sich wieder, Und hob das zerschlagene Haupt aus der Fluth, Das neue Gedanken der Hölle durchblitzten,
Und schürte des Stromes verschäumenden Muth: „Und könnt ihr den Tempel nicht niederreißen,
So kommt, ich will euch ein Pförtlein weisen!
Da schleichet hinein, und stürzt in die Hallen,
Und reißt vom Altare die Rose drinnen,
Und machet die sieben Bronnen verrinnen!
Dann wird der Tempel von selber zerfallen.“


Da bäumten die Wasser zum Sturme sich wieder;
Doch hielt sie die Schlange beschwichtigend nieder,
Und unter ihrem list'gem Geleit
Sie durch ein verborgnes Pförtlein rollten,
So leis, als ob sie beten wollten;
Und drinnen, da machten sie brausend sich weit.
Schon hatten die Ersten die Stufen erklommen,
Schon waren der Rose sie nah' gekommen,
Schon spritzt' um sie der giftige Schaum. –
Da rückten auch zu gleicher Zeit
Die Hallen und die Säulen weit,
So weit, als wie der Erdenraum.
Und sieh', es wuchs der Thurm empor,
Bis ringsum mit des Himmels Saum
Zu einer Wölbung er verschwamm;
Und an dem offnen Himmelsthor
Erfaßt' sein Kreuz ein leuchtend Lamm
Mit weißem Vließe voll Rubinen,
Die, lichter als der Sternenchor,
Verklärend durch das Weltall schienen.
Und von des Altars Heiligthume,
Da hatte sich zugleich die Blume
So riesig blühend aufgethan,
Und dehnte sich von Land zu Land,
Bis sie durch Berg und Ocean,
Durch Gletschereis und Wüstensand
Die ganze, weite Welt umfangen;
Und aus dem heil'gen Blätterdach
Wie Regenbogen siebenfach
Von Pol zu Pol die Bronnen sprangen.

Da lag denn wie ein Tropfen blos
Im unabsehbar weiten Dom
Der prahlerische winz'ge Strom,
Der sich gedünkt so riesengroß.
Und stumm in einen Ring geballt
Lag drin der Schlange grause Gestalt,
Vor Zorn und Schauer schier vernichtet,
Da mit so ewiger Gewalt
Der Herr des Tempels sie gerichtet.

Doch wieder hob das Haupt sie auf:
„Ihr Wellen auf, und nicht gezagt!
Auf, auf, zu neuem Sturmeslauf!
Die Zeit ist gut, drum frisch gewagt!
Und ließ das Größte sich nicht zwingen,
‘S ist ja damit nicht abgethan:
So fangen wir mit dem Kleinen an,
Dann muß das Größte doch gelingen.“
Und mählig hatten mit neuer Kraft
Die Wasser sich wieder aufgerafft.
Sie schüttelten die Schrecken los,
Und fühlten mächtig sich und groß,
Und wälzten sich in's Land hinaus.

Da trafen sie ein Königshaus.
Und von dem stolzen Bau gedeckt
Stand manch ein prunkender Pallast,
Drin üpp'ge Freude saß zu Gast,
Und Haus und Hof, darin versteckt
Die Seele, die hohe Königin,
Den Schacher trieb um Goldgewinn,
Und an der Selbstsucht Sclavenring
Des Lebens heilig Räthsel hing.

Wie das die Schlange von fern erspähte,
Das gift'ge Haupt sie wieder blähte,
Und gellend rief sie zu den Wellen:
„Seht ihr die stolzen Marmorhallen?
Macht euch bereit! Sie müssen fallen,
Und ihres Königs Haupt zerschellen.
Auch er mit ehrnem Wall euch hemmt,
Daß ihr die Welt nicht überschwemmt.
Und ist euch dieses nur gelungen,
Dann sind die Andern schnell bezwungen.
‘S ist ein Gelichter, feig und blind,
Das erst euch merkt, und Dämme baut,
Und Hilfe schreit, wenn brausend laut
Die Fluthen längst im Hause sind.“

Und mit verhaltenem Gebraus
Schlich sich der Strom zum Königshaus;
Dann hastig über die Marmortreppe
Erstürmten die Ersten den hohen Pallast.
Der König sprang aus dem Saal erblaßt,
Schon faßten sie ihm die Purpurschleppe,
Schon ließ er verwirrt das Scepter fallen,
Das kreiselnd tanzt' auf den schäumenden Wogen –
Da ward er durch die wankenden Hallen
Von seinem Weib, das Kind an der Hand,
Beschwörend hinauf zur Zinne gezogen.
Und drunten am Markt, in gaffendem Säumen,
Im Herrenkleid und Werkelgewand,
Die Schaar des Volkes behaglich stand,
Und pries der Wasser Sprudeln und Schäumen
Und spürte von Freiheit hohe Gedanken.
Doch plötzlich kamen die wildesten Wogen
Im Sturm quer über den Markt gezogen;
Hei! Wie sie da in die Kniee sanken,
Wie stürzten sie keuchend nach Hof und Haus,
Und tappten wie Blinde, zu dämmen, nach Steinen!
Doch hinter ihnen mit hellem Gebraus
Da stürzten die Fluthen nach ihren Thoren.
Da ward es ein Toben, und Jammern und Weinen!
Und ward der Herrgott im Himmel beschworen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Märchen