Die Erneuerung des Judentums

Wenn ich von Erneuerung spreche, bin ich mir bewusst, dass dies ein kühnes, ja schier verwegenes Wort ist, das der unserer Zeit geläufigen Welt- und Lebensanschauung widerspricht und von ihr nicht anerkannt werden kann. Die typischen Menschen dieser Zeit werden in ihrem Tun von dem Begriff der Evolution beherrscht, das ist von dem Begriff der allmählichen, aus dem Zusammenwirken vieler kleiner Ursachen hervorgehenden Veränderung — oder, wie man wohl auch zu sagen pflegt, Verbesserung. Dieser Begriff, der — man beginnt es zu erkennen — auch auf dem Gebiete des Naturgeschehens nur eine relative Geltung beanspruchen kann, der allerdings die Naturwissenschaften in reichem Maße angeregt und gefördert hat, hat in dem Bereiche des Geistes und des Willens höchst verderblich gewirkt. Mit nicht geringerer Wucht als einst durch den Calvinismus das Gefühl der unentrinnbaren Prädestination wurde nun das Gefühl der unentrinnbaren Evolution auf die Seelen der Menschen gelegt. Es ist zu einem nicht geringen Teil diesem Gefühl zuzuschreiben, wenn das heroische Leben, das unbedingte Leben in unserer Zeit abgestorben ist. Einst war der große Täter gewärtig, mit seiner Tat das Angesicht der Erde zu ändern und seinen Sinn dem Werden aufzuprägen; er fühlte sich den Bedingungen der Welt nicht unterworfen, weil er in der Unbedingtheit des Gottes stand, dessen Wort er in seinen Entschlüssen spürte wie das Blut in seinen Adern. Diese übermenschliche Zuversicht ist zersetzt worden; das Bewusstsein Gottes und der Tat wurde einem schon in der Wiege abgeschnürt; man durfte nur noch hoffen, der Exponent eines kleinen ,,Fortschritts“ zu werden; und wer das Unmögliche nicht mehr zu begehren vermag, kann nur noch das Allzumögliche vollbringen. So trat an die Stelle der Seelengewalt die Betriebsamkeit und an die Stelle der Opfermacht die Vertragskunst. Und sogar die Sehnsucht nach einem neuen heroischen Leben wurde von dieser Tendenz der Zeit verdorben; das tragischste Beispiel ist wohl das des Menschen, in dem diese Sehnsucht stark war wie in keinem und der dennoch sich dem Evolutionsdogma nicht zu entziehen vermochte: Friedrich Nietzsches.

Ich bin mir also bewusst, dass ich, wenn ich von Erneuerung spreche, den Boden dieser Zeit verlasse und den einer neuen, kommenden Zeit betrete. Denn ich meine mit Erneuerung durchaus nichts Allmähliches und aus kleinen Veränderungen Summiertes, sondern etwas Plötzliches und Ungeheures, durchaus nicht Fortsetzung und Verbesserung, sondern Umkehr und Umwandlung. Ja, gerade so, wie ich für das Leben des einzelnen Menschen daran glaube, dass es darin einen Moment des elementaren Umschwungs geben kann, eine Krisis und Erschütterung und ein Neuwerden von der Wurzel bis in alle Verzweigungen des Daseins, gerade so glaube ich für das Leben des Judentums daran.


Der letzte Jesaias lässt den Herrn sprechen: „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen“, und der Autor der Apokalypse bekennt: „Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“. Das ist keine Metapher, sondern unmittelbares Erlebnis. Es ist das Erlebnis des Menschen, dem sein Wesen und damit das Wesen der Welt neu geworden ist. Er ist derselbe geistbegabte Körper, der er war, und keine Kraft ist in ihn getreten, die nicht schon in ihm gewesen ist; aber seine Kräfte sind in der großen Erschütterung zur Einheit zusammengeschossen, und es gibt keine Gewalt, die der Urgewalt der Einheit gliche. Dieses eben ist es, woran ich für das Judentum glaube: nicht lediglich eine Verjüngung oder Neubelebung, sondern eine wahrhafte und vollkommene Erneuerung.

Wenn auch die Idee der Erneuerung in diesem absoluten Sinn den um den Fortbestand des Judentums besorgten Geistern in unserer Zeit zumeist fremd geblieben ist, so haben sie doch erkannt, dass wir in einem Augenblick der höchsten Spannung und der endgültigen Entscheidung stehen, in einem Augenblick mit doppeltem Antlitz, das eine nach dem Tode, das andere nach dem Leben blickend, und dass das Judentum nicht mehr durch bloße Fortsetzung erhalten werden kann, sondern dass es einzugreifen und umzubilden, zu heilen und zu lösen gilt. Sie halten aber, dem Geist der Zeit getreu, eine relative, das heißt allmähliche und teilweise Erneuerung für das Notwendige und für das Mögliche. Ich kann den Sinn, den das Wort Erneuerung für mich hat, nicht besser darlegen, als wenn ich erörtere, was von diesen Männern und von den durch sie repräsentierten geistigen Strömungen darunter verstanden wird.

Es sind dies im wesentlichen zwei Grundauffassungen; und sie sehen das Wesen der Erneuerung in verschiedener Weise an, weil sie das Wesen des Judentums in verschiedener Weise ansehen: die erste betrachtet das Judentum als eine konfessionelle, die andere als eine nationale Gemeinschaft. Ich will beide nicht nach den Anschauungen ihrer durchschnittlichen, sondern nach denen ihrer höchsten und führenden Vertreter erörtern. Für die erste ist dies nichts Leichtes, da ich unter ihren Bekennern keinen eigentlich selbständigen und überragenden Geist gefunden habe; ich will einen der besten, Moritz Lazarus, wählen. Hingegen bietet sich für die zweite die repräsentative Persönlichkeit dar; es ist die des neuhebräischen Denkers Achad Haam.

Lazarus, ein kluger und liebenswürdiger Popularphilosoph, kommt für uns hier schon deshalb besonders in Betracht, weil kürzlich aus seinem Nachlass eine kleine Schrift herausgegeben worden ist, welche „Die Erneuerung des Judentums“ betitelt ist. Mit einem seltsamen Gefühl der Erwartung habe ich auf dem Titelblatt diese Worte gelesen, die seit manchem Jahr als ein dunkles und noch unerschlossenes Heiligtum in meinen Gedanken ruhten. Und meine Erwartung schien zunächst nicht enttäuscht werden zu sollen. Auf einer der ersten Seiten stand ein Wort, das mich ins Herz traf. Da hieß es, das Ziel sei „die Wiederbelebung, die wirkliche Einführung des prophetischen Judentums“. Ich erschauerte vor der Größe dieses Ziels. „Die wirkliche Einführung des prophetischen Judentums!“ Was war denn das prophetische Judentum anderes als die Forderung, in unbedingter Weise zu leben? Nicht im Bekenntnis Gott und im Tun den Nutzzwecken des kleinen Lebens dienstbar sein, nicht im Denken zu Ende gehen und im Handeln auf halbem Wege stehen bleiben, sondern ganz sein zu allen Stunden und in allen Dingen, und sein Gottgefühl allezeit verwirklichen, auf dass, wie Amos spricht, die Gerechtigkeit sich offenbare wie ein starker Strom! Niemals in der Geschichte der Menschheit ist die Losung „Alles oder Nichts“ mit so gewaltiger Stimme ausgegeben worden. Und das sollte nun erfüllt werden! Wir sollten endlich Juden sein, wie die Propheten sie forderten, das heißt: unbedingte Menschen! Wir sollten uns frei machen von dem Zweckgetriebe der modernen Gesellschaft und anheben, eine Wahrheit aus unserem Leben zu machen! Mochten die Halben, die Trägen, die Gierigen sich immerhin weiter Juden nennen, die allein würden es sein, die mit der Einführung des prophetischen Judentums Ernst machen! Ja, das musste zur Erneuerung des Judentums führen — und zur Erneuerung des Menschentums! — Aber ich las weiter, und mein Traum zerrann. Ach, das was hier des weitern gepredigt wurde, war etwas ganz, ganz anderes. Diese „Wiederbelebung des prophetischen Judentums“ war im Grunde nur eine jüdische Variante dessen, was Luther mit der Wiederbelebung des evangelischen Christentums meinte. Rationalisierung des Glaubens, Vereinfachung des Dogmas, Milderung des Zeremonialgesetzes — das war alles. Negation, nichts als Negation! Nein, es war unrecht, Luthers Namen zum Vergleich heranzuziehen — Luthers Konzeption eines evangelischen Lebens war unendlich schöpferischer gewesen. Dies hier war nicht Reformation, es war nur Reform — nicht Umbildung, nur Erleichterung — nicht Erneuerung des Judentums, sondern dessen Fortsetzung in einer leichteren, eleganteren, europäischeren, salonfähigeren Form. Wahrlich, tausendfach lieber sind mir die Dumpfen und Schwerfälligen, die in der Einfalt ihres Herzens Tag für Tag all das unverkürzt vollziehen, was sie als das Gebot ihres Gottes, des Gottes ihrer Väter empfinden! Wie durfte dieses schwächliche Programm eine Wiederbelebung des prophetischen Judentums genannt werden? Gewiss, die Propheten sprachen von der Nichtigkeit aller Zeremonien, aber nicht um das religiöse Leben zu erleichtern, sondern um es zu erschweren, um es wahrhaft und ganz zu machen, um die Heiligkeit der Tat zu proklamieren. Fordern wir etwas anderes als diese sogenannte „geläuterte Religion“, fordern wir die Tat in ihrer reinen Unbedingtheit, dann nur dürfen wir uns auf die Propheten Israels berufen!

Eine ganz andere, unvergleichlich tiefere und echtere Welt eröffnen uns die Gedanken Achad Haams. Hier ist wirklich etwas von dem Geiste des prophetischen Judentums, freilich nicht in seiner ursprünglichen Glut und ekstatischen Gewalt, sondern in talmudische Problematik und maimonideische Abstraktheit getaucht, aber in der Wahrhaftigkeit des inneren Blickes und der Rücksichtslosigkeit der Forderung an das Erbe des Prophetentums gemahnend. Dennoch ist auch hier die Idee einer absoluten Erneuerung des Judentums nicht zu finden. Achad Haam erhofft die Erneuerung von der Bildung eines geistigen Zentrums des Judentums in Palästina. Es ist viel darüber gesprochen worden, dass ein solches Zentrum nicht ohne die Grundlage einer wirtschaftlichen Siedlung ins Leben treten könnte, und in der Tat, man kann eine Kolonie irgend einer Art nur auf die natürlichen Daseinsbedingungen aufbauen, sonst bleibt sie ein künstliches Gebilde, das auf die Dauer dem ununterbrochenen Ansturm der zweckbestimmten Umwelt keinen Widerstand zu leisten vermöchte. Aber nicht dies ist hier das Wesentliche. Wie immer sie sich auch gestalten mag, zweifellos würde eine zentrale jüdische Siedlung in Palästina etwas Großes, etwas in der Geschichte fast Beispielloses bedeuten: die Möglichkeit, dass sich ein gesundes jüdisches Kernvolk bilde, das sicherlich im Laufe der Generationen auch kulturelle Werte erzeugen würde. Wahrscheinlich würde sie auch auf die jüdische Diaspora einen stärkenden und zusammenhaltenden Einfluss ausüben. Aber eine Erneuerung des Judentums im absoluten Sinne könnte sie nicht verbürgen; und das Zentrum des jüdischen Volkes wird nur dann auch das Zentrum des Judentums werden, wenn es nicht um der Erneuerung willen, sondern aus der Erneuerung und durch sie geschaffen wird. Ein geistiges Zentrum kann wissenschaftliche Arbeit fördern, es kann sogar Ideen — wenn auch nicht schaffen, so doch verbreiten und propagieren, ja es könnte vielleicht auch ein soziales Vorbild werden; aber das, wovon ich einzig das Absolute erwarte, die Umkehr und Umwandlung, den Umschwung aller Elemente, wird es nicht bewirken können. Ja, es will mir scheinen, dass für die Erschütterung von Grund aus, die ihm vorangehen muss, die ungeheure Zerrissenheit, die schrankenlose Verzweiflung, die unendliche Sehnsucht, das pathetische Chaos vieler heutigen Juden ein günstigerer Boden sind als das normale und zuversichtliche Dasein des Siedlers im eigenen Lande.

Um aber zu begreifen, was den Umschwung, von dem ich spreche, allein bewirken könnte, tut es Not, sich darauf zu besinnen, was das Judentum ist, nach dessen Erneuerung wir Verlangen tragen. Man berührt nur die gröbste Tatsächlichkeit der Organisationsform, wenn man es als Konfession betrachtet; man hat eine tiefere Wirklichkeit erreicht, wenn man es als Volkstum anspricht; aber man muss noch tiefer schauen, um sein innerstes Wesen zu erfahren. Das Judentum ist ein geistiger Prozess, der sich in der inneren Geschichte des Judenvolkes und in den Werken der großen Juden dokumentiert hat. Man hat einen zu kleinen Begriff von ihm, wenn man es, wie es, jeder in seiner Sprache, sowohl Lazarus als auch Achad Haam tun, mit der jüdischen Einheitslehre und mit dem Prophetismus identifiziert. Die jüdische Einheitslehre ist nur ein Element und der Prophetismus nur ein Stadium des großen geistigen Prozesses, der Judentum heißt. Nur wer diesen in seiner ganzen Größe fasst, in der Fülle seiner Elemente und in den vielfältigen Wandlungen seiner geschichtlichen Offenbarung, kann die Bedeutung dessen verstehen, was hier von mir Erneuerung genannt wird.

Der geistige Prozess des Judentums vollzieht sich in der Geschichte als das Streben nach einer immer vollkommeneren Verwirklichung dreier untereinander zusammenhängender Ideen: der Idee der Einheit, der Idee der Tat und der Idee der Zukunft. Wenn ich von Ideen spreche, meine ich selbstverständlich nicht abstrakte Begriffe, sondern natürliche Tendenzen des Volkscharakters, die sich mit so großer Kraft und mit so großer Dauer äußern, dass sie einen Komplex von geistigen Werken und Werten erzeugen, welcher als das absolute Leben des Volkes angesprochen werden darf. Jedes Volk von starken spezifischen Gaben hat solche ihm eigentümliche Tendenzen und eine solche, von diesen geschaffene Welt ihm eigentümlicher Werke und Werte, so dass es gleichsam zweimal lebt, das eine Mal flüchtig und relativ in der Folge der Erdentage, der kommenden und schwindenden Geschlechter, das zweite Mal — gleichzeitig — bleibend und absolut in der Welt des wandernden und suchenden Menschengeistes. Wenn in dem einen, dem relativen Leben, alles zufällig und oft beängstigend sinnlos scheint, zeigen sich in dem andern, dem absoluten, Schritt für Schritt die großen, leuchtenden Linien des Sinnes und der Notwendigkeit. Das relative Leben bleibt der Besitz des Volksbewusstseins, das absolute geht unmittelbar oder mittelbar in das Bewusstsein der Menschheit ein. Unter den Völkern gibt es aber keines, bei dem diese konstante Erzeugung eines absoluten Lebens, dieser geistige Prozess des Volkstums, so sichtbar und deutlich wäre wie bei dem jüdischen. In dem relativen Leben des jüdischen Volkes, sowohl in dem, was man gewöhnlich seine Geschichte nennt, als in dem Alltag seiner Gegenwart, wimmelt es von Zwecken, von Hast, von Sucht, von Pein; aber aus alle dem lösen sich strahlend und riesengroß die Ziele und schreiben ihre unzerstörbaren Zeichen an den Himmel der Ewigkeit. Und dem Blick, der das relative Leben durchdringt und in das absolute schaut, offenbart es sich, dass all das Gewimmel in jenem nur dazu da war, dass dieses daraus erstehe, und dass im Grunde dieses die Wirklichkeit ist und jenes nur der bunte, vielfältige, vorüberhuschende Schein. Das zeigt sich am Judentum so klar und eindeutig wie nirgendwo anders, und deshalb durfte ich gerade das Judentum einen geistigen Prozess nennen.

Dieser Prozess vollzieht sich, wie ich schon sagte, als das Streben nach der Verwirklichung dreier Ideen oder Tendenzen, die untereinander zusammenhängen, ja die im Volkscharakter ein Einheitliches sind und nur der Darstellung wegen voneinander gesondert werden müssen, weil in der Geschichte einmal die eine, ein andermal eine andere vorherrscht. Das Streben nach ihrer Verwirklichung ist keineswegs ein steter und gleichmäßiger Strom, sondern immer wieder durch Abläufe geschwächt, von Dürre heimgesucht, bald in der breiten hindernislosen Ebene verflachend, bald in der Enge der Felsenwildnis sich windend und an tausend Hemmungen zersprühend. Der geistige Prozess des Judentums vollzieht sich in der Form eines Geisteskampfes, eines ewig erneuten inneren Kampfes um die reine Erfüllung der Volkstendenzen. Dieser Kampf erklärt sich daraus, dass, wie im Leben des einzelnen Menschen die entscheidenden Tugenden nichts anderes sind als die geformten, umgelenkten, zur Idealität erhobenen Leidenschaften, gerade so im Leben des Volkes die entscheidenden Ideen nichts anderes sind als die ins Geistige und Schöpferische gehobenen Volkstriebe. Und wie im Leben des einzelnen Menschen die Leidenschaften der Formung und Umlenkung widerstreben, in den Bezirk der Tugend einbrechen und ihre reine Erfüllung stören, so widerstreben die Volkstriebe der Vergeistigung und trüben die Reinheit ihrer Erfüllung, das ist ihre Erhebung in das absolute Leben des Volkes. So kämpfen die Ideen recht eigentlich um sich selber, um ihre Befreiung aus der Enge der Volkstriebe, um ihre Verselbständigung und Erfüllung. Ich will dies an den drei Ideen des Judentums — Einheit, Tat, Zukunft — andeutungsweise darzulegen versuchen, wobei ich aber von den Stadien des Geisteskampfes nur einzelne besonders denkwürdige herausgreifen kann.

Die Idee und Tendenz der Einheit ist im Volkscharakter darin begründet, dass der Jude von je mehr den Zusammenhang der Erscheinungen als die einzelnen Erscheinungen selbst wahrnimmt. Er sieht den Wald wahrhafter als die Bäume, das Meer wahrhafter als die Welle, die Gemeinde wahrhafter als den Menschen. Darum hat er mehr Stimmungen als Bilder, und darum auch treibt es ihn, die Fülle der Dinge, ehe sie noch ganz durchlebt wurde, im Begriff zu binden. Aber er bleibt nicht beim Begriff stehen; es verlangt ihn, zu höheren Einheiten fortzuschreiten, zu einer höchsten, die alle Begriffe trägt und krönt, gründet und überwölbt, als der Begriff der Begriffe, sie in eins bindend, wie in ihnen die Erscheinungen in eins gebunden wurden. Aber es gibt eine zweite, tiefere Quelle der Einheitstendenz im Juden: es ist die, von der ich schon einmal gesprochen habe: seine Sehnsucht, sich aus seiner inneren Entzweiung in eine absolute Einheit zu retten und zu erheben. Beide Quellen strömen in der Gottesidee der Propheten zusammen. Es entsteht die Idee der transzendenten Einheit: des weltschaffenden, weltbeherrschenden, weltliebenden Gottes. Das ganze Pathos der Propheten, das gewaltigste Pathos der Menschheitsgeschichte, dient dieser Idee.

Aber dies ist ein Gipfel des geistigen Prozesses. Die äußere Quelle wird stärker als die innere, die Begriffsbindung stärker als die Sehnsuchtsbindung. Die Idee verdünnt, entfärbt sich, bis aus dem lebendigen Gott ein unlebendiges Schema geworden ist, welches die Herrschaft des späten Priestertums und die des beginnenden Rabbinismus charakterisiert. Aber die Einheitstendenz lässt sich nicht niederziehen. Der Kampf zwischen dem Schema und der Sehnsucht wogt unaufhörlich; er findet eine vorübergehende Ausgleichung in der Anschauung Philos, entzündet sich von neuem zwischen den Meistern des Talmuds, durchzieht die Bewegung des Urchristentums, füllt die Exkurse der Midraschim, ist die Seele der Kabbala. Aber im Kampfe wandelt sich das Wesen der Einheitsidee selber. Der Gott neigt sich zur Welt herab; die Scharen seiner Emanationen, der Sephirot, kommen, ihn mit ihr zu verbinden; seine Glorie, die Schechina, steigt zur Welt nieder, um bei ihr zu wohnen; in die Seele des Menschen fallen Funken des Göttlichen. Aus der transzendenten Einheit wird eine immanente: die des weltdurchdringenden, weltbelebenden, weltseienden Gottes: deus sive natura. Es ist der Gott Baruch Spinozas. Wieder ist ein Gipfel des geistigen Prozesses erreicht, eine Synthese der Begriffsbindung und der Sehnsuchtsbindung gefunden. Aber wieder beginnt ein Niedergang, wieder wogt der Kampf. Für einen Augenblick erhebt sich die lebendige Einheitstendenz noch einmal im Chassidismus, dann erlahmt die Bewegung, erlahmt der Kampf; die unfruchtbare Zeit hebt an, unsere Zeit hebt an. Wo sind die Kräfte geblieben, die den Kampf getragen haben? Wo ist die ringende Idee geblieben? Wüstensand ist um unsere Füße; wie das Geschlecht der Wüste wandern wir und wissen nicht wohin. Aber unsere Sehnsucht ist nicht tot. Sie hebt das Haupt und ruft in die Wüste hinaus, wonach sie begehrt, ruft wie einst der Jude Jochanan in einer Zeit wie die unsere in der Wüste rief: nach der Erneuerung.

Die zweite Idee des Judentums ist die der Tat. Sie ist im Volkscharakter darin begründet, dass der Jude mehr motorisch als sensorisch veranlagt ist: sein Bewegungssystem arbeitet intensiver als sein Sinnensystem, er hat im Handeln mehr Substanz und mehr Persönlichkeit als im Wahrnehmen, und seinem Leben ist wichtiger, was er zustande bringt, als was ihm widerfährt. Darum hat z. B. alle Kunst des Juden so viel Gebärde, darum ist sie im Ausdruck selbständiger als im Sinn. Und darum auch ist ihm am Menschen die Tat wesentlicher als das Erlebnis. So stand schon in uralter Zeit im Mittelpunkt der jüdischen Religiosität nicht der Glaube, sondern die Tat. Dies darf ja wohl überhaupt als ein fundamentaler Unterschied zwischen Orient und Okzident angesehen werden: für den Orientalen ist die Tat, für den Okzidentalen der Glaube die entscheidende Verbindung zwischen Mensch und Gott. Dieser Unterschied hat sich beim Juden besonders nachdrücklich ausgeprägt. In allen Büchern der Bibel ist vom Glauben recht wenig, vom Handeln um so mehr die Rede. Man denke aber nicht, dass damit seelenlose Werkheiligkeit oder sinnfremde Zeremonien gemeint seien; vielmehr war jede Tat, auch die geringste und scheinbar gleichgültigste, irgendwie auf das Göttliche bezogen, und das spätere Wort „All dein Tun sei um Gottes willen“ gilt schon hier in einem besonders prägnanten Sinne. In der Zeit des naivsten Verhältnisses zu Gott meinten die anbefohlenen Handlungen eine geheimnisvolle, magische Verbindung mit ihm; so war das Tieropfer ein symbolischer Ersatz der Hinopferung des eigenen Lebens, die Flamme des Altars wurde als ein Bote der Seele zum Himmel empfunden. Aber die Handlungen verlieren ihren Sinn, und doch heischt das Gebot die sinnlos gewordenen weiter, weil, wie Jochanan ben Sakkai erklärt, Gott eine Satzung eingesetzt, eine Entscheidung getroffen hat. So entsteht aus der Religiosität der Tat das Zeremonialgesetz. Gegen diese Erstarrung empört sich die Tattendenz, sie sondert sich ab und schafft jene Lebensgemeinschaften, die an Stelle des leergewordenen Gesetzes wieder die lebendige, mit Gott verbindende Tat zu üben begehrten. Die erste uns bekannte waren wohl jene im Buch Jeremias erwähnten Rechabiten, deren Ideen und Organisation die gesetzestreuen Redaktoren des Kanons, wohl nicht ohne Absicht, missdeutet zu haben scheinen. Von ihnen führte wahrscheinlich eine ununterbrochene Tradition bis zu den Essäern, deren uralte Überlieferungen die Historiker bezeugen. Auf diesem Wege ist die Tattendenz gewachsen, die Idee der Tat ist immer reiner, die Anschauung einer Verbindung mit Gott immer größer und heiliger geworden. Aber zur gleichen Zeit wurde das Zeremonialgesetz immer starrer und lebensfremder. Da geschah es, dass die Bewegung aus den sich absondernden Lebensgemeinschaften mitten ins Volk überschlug und hier jene Geistesrevolution entflammte, die heute, irriger und irreführender Weise, Urchristentum genannt wird; sie könnte viel eher, freilich in einem andern Sinne als dem historischen, Ur-Judentum heißen, denn sie hat mit dem Judentum weit mehr als mit dem zu schaffen, was man heute als Christentum bezeichnet. Es ist eine eigentümliche Erscheinung der Galuthpsychologie, dass wir, bloß deshalb, weil sich an diese Bewegung rein äußerlich, ohne ihr Wesen mit zu übernehmen, vielmehr sie mit fremden Elementen so durchsetzend, dass von ihr selbst nicht viel mehr übrig blieb, der christliche Synkretismus anschloss, dass wir, sage ich, bloß deshalb geduldet, ja selber aufs heftigste dazu beigetragen haben, dass dieser bedeutende Abschnitt unserer Geistesgeschichte aus ihr herausgerissen wurde. Was an den Anfängen des Christentums nicht eklektisch, was daran schöpferisch war, das war ganz und gar nichts anderes als Judentum. Es war jüdisches Land, in dem diese Geistesrevolution entbrannte; es waren uralte jüdische Lebensgemeinschaften, aus deren Schöße sie erwacht war; es waren jüdische Männer, die sie ins Land trugen; die, zu denen sie sprachen, waren — wie immer wieder verkündet wird — das jüdische Volk und kein anderes; und was sie verkündeten, war nichts anderes als die Erneuerung der Religiosität der Tat im Judentum. Erst im synkretistischen Christentum des Abendlandes ist der dem Okzidentalen vertraute Glaube zur Hauptsache geworden; im Mittelpunkt des Urchristentums steht die Tat. Was aber der Inhalt des Tatstrebens war, das ist in dem sicherlich ursprünglichsten Stücke der Evangelien, das am zweifellosesten auf eine schöpferische Personalität hinweist, in Matth. 5, dem ersten Kapitel der Bergpredigt, aufs deutlichste bezeugt. „Ihr sollt nicht wähnen dass ich kommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht kommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“; und was damit gemeint ist, geht aus den darauffolgenden Vergleichen der alten und der neuen Lehre hervor: dass die neue gar nicht neu, sondern die alte, im absoluten Sinn gefasst, sein will; dass sie der Tat die ihr ursprünglich zugedachte Freiheit und Weihe, die durch die karge Herrschaft des Zeremonialgesetzes geschmälert und verdunkelt worden ist, wiedergeben, die Tat aus der Enge der sinnlos gewordenen Bestimmungen zur Heiligkeit der tätigen Gottverbindung, zur Religiosität der Tat befreien und erheben will. Damit aber alles Missverstehen zunichte gemacht werde, heißt es in Matth. 5 weiter: „Denn ich sage euch wahrlich: bis dass Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch eine Tüttel vom Gesetze, bis dass es alles geschehe“; das heißt: bis die Lehre der Unbedingtheit in aller Reinheit, mit aller Seelenmacht erfüllt wird, bis die Welt durch die absolute Tat geheiligt, vergöttlicht ist. Das Urchristentum lehrt, was die Propheten lehrten: die Unbedingtheit der Tat. Denn es war niemals einer großen Religiosität daran gelegen, was getan wird, sondern einzig daran, ob es in menschlicher Bedingtheit oder in göttlicher Unbedingtheit getan wird. Und dieses Kapitel, die Ur-Bergpredigt, schließt mit den Worten, die in bedeutsamer Weise an ein Wort des III. Buches Mosis variieren: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Sind alle diese Worte, ist vor allen dieses Wort Gleichwie nicht ein jüdisches Bekenntnis im allerinnersten Sinne? Und können wir nicht denen, die uns neuerdings eine „Fühlungnahme“ mit dem Christentum anempfehlen, antworten: Was am Christentum schöpferisch ist, ist nicht Christentum, sondern Judentum, und damit brauchen wir nicht Fühlung zu nehmen, brauchen es nur in uns zu erkennen und in Besitz zu nehmen, denn wir tragen es unverlierbar in uns; was aber am Christentum nicht Judentum ist, das ist unschöpferisch, aus tausend Riten und Dogmen gemischt, — und damit — das sagen wir als Juden und als Menschen — wollen wir nicht Fühlung nehmen. Freilich dürfen wir dies nur antworten, wenn wir den abergläubischen Schrecken, den wir vor der nazarenischen Bewegung hegen, überwinden und sie dahin einstellen, wohin sie gehört: in die Geistesgeschichte des Judentums.

Allerdings ist diese Bewegung, die im absoluten Leben des jüdischen Volkes so Großes bedeutet, in dessen relativem Leben eine Episode geblieben, die die fortschreitende Erstarrung des Gesetzes nicht aufzuhalten vermochte. Aber der Kampf um die Tatidee ließ nicht nach; in ewig neuen Formen füllte er die Jahrtausende; er war dialektisch und innig, öffentlich und verborgen; er redete in den Lehrhäusern die Sprache des Pilpuls und in den Wohnungen die Sprache der Frauen; er war groß in den verstoßenen Ketzern, klein in den kleinen Kühnheiten des Ghettos; und so spielte und brannte er um den gekrönten Leichnam des Gesetzes herum, bis wieder eine große Bewegung kam, die ins Innerste der Wahrheit griff und des Volkes Innerstes bewegte: der Chassidismus. Man kann den ursprünglichen Chassidismus — der mit dem heutigen fast so wenig gemein hat wie das Urchristentum mit der Kirche — nur dann verstehen, wenn man dessen inne wird, dass er eine Erneuerung der Tatidee ist. In der Tat offenbart sich ihm der wahre Sinn des Lebens. Es kommt hier in noch deutlicherer und tieferer Weise als im Urchristentum nicht darauf an, was getan wird, sondern jede Handlung, die in Weihe, das heißt: in der Intention auf das Göttliche geschieht, ist der Weg zum Herzen der Welt. Es gibt nichts an sich Böses; jede Leidenschaft kann zur Tugend, jeder Trieb „ein Wagen für Gott“ werden. Nicht die Materie der Handlung, nur ihre Weihung entscheidet. Jede Handlung ist heilig, wenn sie auf das Heil gerichtet ist. Die Seele des Täters allein bestimmt das Wesen seiner Tat. Damit erst ist die Tat in Wahrheit zum Lebenszentrum der Religiosität geworden. Und zugleich wird das Schicksal der Welt in die Hand des Täters gelegt. Durch die in ihrer Intention geheiligte Handlung werden die gefallenen göttlichen Funken, die in den Dingen und Wesen verstreuten, irrenden Seelen befreit, und indem er dies tut, wirkt der Handelnde an der Erlösung der Welt. Ja, er wirkt an der Erlösung Gottes selber, da er durch die höchste Sammlung und Spannung der Tat die verbannte Gottesherrlichkeit für die Gnadenzeit eines unmessbaren Augenblicks ihrem Quell nähern, in ihn eintreten lassen kann. So ist der Tat hier eine Machtfülle und Erhabenheit gegeben, derengleichen, freilich in ganz anderer Art, sie nur noch in der altindischen Religiosität besitzt, wo der in der Intention Gesammelte die Götterwelt, die Brahmawelt, erzittern macht. Nun kann die freie Tat dem Gesetz gegenübertreten als das, um ein Wort des „Urchristentums“ zu gebrauchen, vollkommene Gesetz der Freiheit. Darum ist für den Chassidismus der letzte Zweck des Menschen dieser: selbst ein Gesetz, eine Thora zu werden. So wollte, wie das Urchristentum, auch der Chassidismus das Gesetz nicht aufheben, sondern erfüllen, das heißt es zugleich aus dem Bedingten ins Unbedingte heben und aus der Starrheit der Formel ins flutend Unmittelbare wandeln. Er hat es nicht vermocht, da er aus Ursachen, die hier nicht zu erörtern sind, schon in seiner Frühzeit zersetzt wurde und der Entartung verfiel.

In dem absoluten Leben des jüdischen Volkes bedeutet er den bisher höchsten Triumph der Tatidee; in dessen relativem Leben ist auch er eine Episode geblieben. Auf ihn folgte ein Niedergang, in dem der Kampf zwischen Gesetz und Tat seinen tiefsten Stand erreichte; ich meine das ideen- und geistlose Geplänkel zwischen Orthodoxen und Reformern. Es ist wohl die bitterste Ironie unseres Schicksals, dass die Reformer in diesem Zeitalter als die Vorkämpfer der Tatidee und des prophetischen Judentums auftreten dürfen. Wir müssen, wenn wir wieder ein großes Judentum haben wollen, dem Kampf um die Tatidee seine Größe wiedergeben. Wenn es heute wieder Menschen gibt, die den ganzen Stolz und die ganze Herrlichkeit des Judentums in ihrer Seele erleben, müssen sie danach Verlangen tragen, dass das Streben des Volksgeistes nach der Tat sich erneuere und dass ihm eine neue Gestalt nach unserem eigenen neuen Weltgefühl gegeben werde. Die dritte Tendenz des Judentums ist die Idee der Zukunft. Sie ist im Volks-Charakter darin begründet, dass der Zeitsinn des Juden weit stärker entwickelt ist als sein Raumsinn: die malenden Epitheta der; Bibelsprechen — im Gegensatz z. B. zu den homerischen — nicht von Form und Farbe, sondern von Schall und Bewegung, die adäquateste künstlerische Ausdrucksform der Juden ist die spezifische Zeitkunst, die Musik, und der Zusammenhang der Generationen ist ihm ein stärkeres Lebensprinzip als der Genuss der Gegenwart. Sein Volksund sein Gottesbewusstsein ziehen ihre wesentliche Nahrung aus dem historischen Gedächtnis und der historischen Hoffnung, wobei die Hoffnung das eigentlich positive und aufbauende Element ist. Wie nun jede der drei Tendenzen ihre vulgäre und ihre erhabene Seite hat, wie die Einheitstendenz die kleinliche Begriffsspielerei des Rabbinismus und die große Gottessehnsucht der Propheten erzeugt hat, wie die Tattendenz zum seelenleeren Panritualismus und zum heiligen Unbedingtheitswillen geführt hat, so ist es auch mit der Zukunftstendenz: sie jagt den Juden einerseits in ein Getriebe von Zwecken hinein und stachelt seinen Erwerbsdrang, der freilich nicht auf das eigene Behagen, sondern auf das Glück der kommenden Generation gerichtet ist, der kommenden Generation, der hinwieder, ehe sie noch zum Bewusstsein ihrer selbst gekommen ist, schon die Aufgabe gestellt wird, für eine weitere zu sorgen, so dass alle Realität des Daseins sich in der Zukunftsfürsorge auflöst; anderseits aber erweckt diese Tendenz im Juden den Messianismus, die Idee der absoluten Zukunft, die aller Realität der Vergangenheit und Gegenwart gegenübersteht als das wahre und vollkommene Leben. Der Messianismus ist die am tiefsten originale Idee des Judentums. Man bedenke: in der Zukunft, in der ewig urfernen, ewig urnahen Sphäre, fliehend und bleibend wie der Horizont, in dem Reich der Zukunft, in das sich sonst nur spielende, schwankende, bestandlose Träume wagen, hat der. Jude sich ersonnen, ein Haus für die Menschheit zu bauen, das Haus des wahren Lebens. Was sonst alles in den Völkern an Sehnsucht, an Hoffnung, an Wunsch sich um das Gefühl der Zukunft rankte, war alles relativ: es konnte so kommen, in naher Zeit, in ferner Zeit, es konnte auch anders kommen — man wünschte, man träumte sein Kommen, aber wer wusste es, ob es kommen würde, wer konnte wagen daran zu glauben, wenn der kalte, klare Tag zum Fenster hereinschien? Hier aber war es etwas von Grund aus. anderes; hier konnte es nicht kommen, sondern es musste kommen, denn jeder Augenblick verbürgte es und das Blut verbürgte es und Gottes Herz verbürgte es; und das Kommen war nicht in naher Zeit, nicht in ferner Zeit, es war in der endgültigen Zeit, in der Fülle der Zeit, am Ende der Tage: in der absoluten Zukunft. Und das, was kommen sollte, das war wohl oft etwas Relatives, die Befreiung eines gepeinigten Volkes und seine Sammlung um Gottes Heiligtum, aber auf den Gipfeln war es das Absolute, die Erlösung des Menschengeistes und das Heil der Welt, und da war jenes Relative als das Mittel zu diesem Absoluten gefühlt. Hier war zum erstenmal in aller Macht das Absolute als das Ziel verkündet, als das in der Menschheit und durch sie zu verwirklichende Ziel. Und zugleich schuf der Messianismus für die beiden andern Tendenzen des Judentums, die Einheitsidee und die Tatidee, gleichsam den Boden ihrer endgültigen und vollkommenen Verwirklichung. Aber wie um jene, so ist auch um ihn ein unablässiger Kampf geführt worden; und wir finden oft in derselben Zeit die erhabenste Konzeption des messianischen Ideals neben den vulgärsten Vorstellungen des dereinstigen Wohlbehagens. So mischen sich in den messianischen Bewegungen das Heiligste und das Profanste, Zukunftswille und Zügellosigkeit, Gottesliebe und lüsterne Neugier. Auch hier widerstreben die Volkstriebe der Vergeistigung und trüben die Reinheit der Erfüllung. — Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch das Urchristentum von dem Gedanken der absoluten Zukunft, des ,,Endes der Tage“, der nicht geschehenen, sondern erst künftig geschehen sollenden Welterlösung bestimmt war; auch hier entbrannte ein Kampf, der Kampf zwischen dem messianischen Ideal und der Übertragung messianischer Vorstellungen auf die Person des Führers und Meisters. — Und noch ein bedeutsames Phänomen gibt es, das — ebenso wie in dem Bezirk der Einheitsidee die Philosophie Spinozas — zwar dem absoluten Leben des Judentums angehört, aber über dessen relatives Leben hinausragt und daher nicht in das Volksbewusstsein eingegangen ist, und das einen verweilenden Blick fordert. Ich meine den Sozialismus. Der moderne Sozialismus hat zwei psychologische Quellen: die eine ist die kritische Einsicht in die Wesenheit des Zusammenlebens von Menschen, in die Wesenheit der Gemeinschaft und Gesellschaft, die andere das Verlangen nach einem reineren, schöneren, wahrhafteren, nach einem reinen, schönen, wahrhaften Zusammenleben, nach einer auf Liebe, auf gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Hilfe aufgebauten Menschengemeinschaft. Die erste dieser Quellen hat, wenn auch vielleicht nicht ihren Ursprung, so doch ihre Stärke aus abendländischer Weisheit empfangen; Plato ist der Meister, dessen Bild über dem ersten Schwellen ihrer Wasser steht. Die zweite Quelle entspringt dem Judentum und hat vom Judentum immer neuen Zufluss erhalten. Die Propheten waren die ersten, die die Botschaft ausgerufen haben; die Essäer die erste Gemeinschaft, die sie in Unbedingtheit zu leben versuchte; zu einer Zeit offenbar, zu mancher andern verdunkelt, ist das Verlangen doch niemals erloschen. Und als die Juden aus dem Ghetto in das Leben der Völker eintraten, sammelten sich beide Quellen in ihnen zur Lehre und zum Apostolat des modernen Sozialismus. Dieser moderne Sozialismus ist eine Verkleinerung, Verengung, Verendlichung des messianischen Ideals, wenn auch von der gleichen Kraft, der Zukunftsidee, getragen und genährt. Die Zukunftsidee wird sich über ihn hinaus wieder in das Unendliche, in das Absolute heben. Wir können ihre künftige Gestalt nur ahnen, aber unsere Ahnung ist selber ein Zeichen, dass auch diese Idee des Judentums fortlebt, ein stummes, unterirdisches Leben, und auf ihren Tag wartet, auf den Tag der Erneuerung.

Nun erst können wir überschauen, was die Erneuerung des Judentums bedeutet. Der große geistige Prozess, dessen Grundlinien ich dargelegt habe, ist abgebrochen. Wenn das Judentum nicht weiter ein Scheinleben führen, wenn es zu einem wahren Leben auferstehen soll, muss sein Geist erneuert werden, muss sein Geistesprozess von neuem anheben. Das wahre Leben des Judentums, wie jedes schaffenden Volkes wahres Leben, ist das, welches ich das absolute genannt habe; dieses einzig ist fähig, ein nicht lediglich aggressives oder defensives, sondern ein positives Volksbewusstsein, das Bewusstsein von der unsterblichen Substanz des Volkes zu schaffen. In der Gegenwart kennt das jüdische Volk nur das relative Leben; es muss das absolute Leben, es muss das lebendige Judentum wiedergewinnen.

In einer chassidischen Legende wird erzählt, wie ein abgeschiedener Geist in der Ewigkeit von Tor zu Tor und von Heer zu Heer wandert. Plötzlich aber bleibt er stehen, er kann nicht weiter. Da sieht er einen alten Mann vor sich, der fragt ihn: „Warum stehst du hier?“ Er antwortet: „Ich kann nicht weiter.“ Darauf der Alte: „Nicht gut ist das Ding. Denn verweilst du dich hier und gehst nicht weiter und weiter, dann kannst du das Leben des Geistes verlieren und bleibst an diesem Ort wie ein stummer Stein.“ Dies ist die Gefahr, die dem jüdischen Volke droht: dass es das Leben des Geistes verliere. Man tröste sich nicht darüber hinweg mit einem Hinweis auf das Aufblühen eines neujüdischen Schrifttums und auf jene andern Werte, die wir, mit einem Worte der Hoffnung mehr denn der Erfahrung, als „jüdische Renaissance“ zu bezeichnen pflegen. Ich habe so oft auf diese Anfänge hingewiesen, dass ich nicht fürchte missverstanden zu werden, wenn ich sage, dass all dies noch keineswegs eine Erneuerung des Judentums bedeutet. Die muss in tieferen Schichten anheben, auf dem Grunde des Volksgeistes, da wo einst die großen Tendenzen des Judentums geboren wurden, wo rings um sie die Flammen des großen Geisteskampfes brannten, und wo aus der Glut die drei Gewaltigen, Jahwe, der Einheitsgott, Maschiach, der Träger der Zukunft, und Iisrael, der um seine Tat ringende Mensch, in reiner Kraft, weltumfangend hervortraten. Der Kampf um die Erfüllung muss von neuem beginnen.

Aber daran ist es nicht genug. Denn wir wissen nunmehr, was die innerste Krankheit, das abgründlichste Verhängnis des entwurzelten Judenvolkes ist: dass sein absolutes und sein relatives Leben auseinanderfallen, dass eben das, was für das absolute der Gipfel und das Ewige war, von dem relativen gar nicht oder fast gar nicht wahrgenommen wird oder ihm besten Falls eine bald vergessene Episode ist. Darum muss die Erneuerung auch dies bedeuten: dass der Kampf um die Erfüllung das ganze Volk erfasse, dass die Ideen die Wirklichkeit der Tage durchdringen, dass der Geist ins Leben komme! Dann erst, wenn das Judentum sich wieder ausreckt wie eine Hand und jeden Juden bei den Haaren seines Hauptes fasst und ihn im Sturme zwischen Himmel und Erde gen Jerusalem trägt, wie einst die Hand des Herrn den Jecheskiel ben Busi, den Priester, im Lande der Chaldäer fasste und trug, dann erst wird das jüdische Volk reif sein, sich ein neues Schicksal zu erbauen, wo einst das alte zerbrach. Die Bausteine mögen, ja müssen schon jetzt zusammengetragen werden, aber das Haus wird erst dann errichtet werden können wenn das Volk wieder zum Baumeister geworden ist.

Und auch daran ist es nicht genug, dass die einzelnen Ideen erneuert werden, die eine oder die andere, oder auch die eine neben der anderen. Denn kein Stückwerk kann das Judentum erneuern, sondern nur ein ganzes und geeintes Werk. Und da wir dieses wissen, die wir uns aufgemacht haben, den Sinn der Zeiten und den Sinn dieser Zeit zu erkennen, da wir dieses wissen, dürfen wir es aussprechen, was wir als den Inhalt der Erneuerung des Judentums ahnen und fühlen: eine schöpferische Synthese der drei Ideen des Judentums nach dem Weltgefühl des kommenden Menschen.

Ich habe schon gesagt, dass diese Ideen nicht etwas Abstraktes, Starres und Fertiges sind, dass sie vielmehr natürliche Tendenzen des Volksgeistes sind, die nach immer reinerer Erscheinung, nach immer zulänglicherer Form, nach immer vollkommenerer Erfüllung streben. Sie können und sie müssen eine neue Erscheinung, eine neue Form, eine neue Erfüllung finden, verschmelzend in einem neuen Weltgefühl.

In einem neuen Weltgefühl. Ich meine das Weltgefühl, das in uns Heutigen, in uns Vorangehenden, Vorübergehenden zu keimen beginnt und das in den Menschen eines kommenden Geschlechtes aufblühen wird. Unser, heute noch unaussprechliches, menschliches Weltgefühl. Die Gestaltung dieses Weltgefühls und die Erneuerung des Judentums sind zwei Seiten eines Vorgangs. „Denn das Heil kommt von den Juden“: die Grundtendenzen des Judentums sind die Elemente, aus denen immer wieder ein neues Weltenwort sich aufbaut. Und so meinen und wollen unserer Seele tiefstes Menschentum und unserer Seele tiefstes Judentum dasselbe.

Wie aber jene künftige Synthese beschaffen sein, wie sie geboren werden möchte, darüber kann kein Wort, kein Wort der Ahnung und kein Wort der Vermutung gewagt werden. Wir wissen, dass es kommen wird, wir wissen nicht, wie es kommen wird. Wir können nur bereit sein.

Aber bereit sein heißt nicht unbewegt warten. Bereit sein heißt sich und die andern zu dem großen Selbstbewusstsein des Judentums erziehen, zu dem Selbstbewusstsein, dem der Geistesprozess des Judentums in seiner ganzen Größe, in der Fülle seiner Elemente, in den vielfältigen Wandlungen seiner geschichtlichen Offenbarung und in dem namenlosen Geheimnis seiner latenten Gewalten sich kundtut. Bereit sein heißt noch mehr: es heißt die großen Tendenzen des Judentums in unserem persönlichen Leben verwirklichen: die Tendenz der Einheit, indem wir unsere Seele zu einer Einheit bilden, auf dass sie fähig werde, Einheit zu konzipieren; die Tendenz der Tat, indem wir unsere Seele mit Unbedingtheit erfüllen, auf dass sie fähig werde, die Tat zu bewähren; die Tendenz der Zukunft, indem wir unsere Seele aus dem Getriebe der Zwecke losbinden und sie hinwenden auf das Ziel, auf dass sie fähig werde, der Zukunft zu dienen.

Wir lesen in Jesaias: „Die Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet Jahwe seine Bahn!“ Bereit sein heißt: bereiten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Drei Reden über das Judentum