Drei Reden über das Judentum

Autor: Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph, Erscheinungsjahr: 1920
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, jüdisches Leben, Religion, Tradition
Freunde, die diese Reden gehört haben, forderten mich auf, sie zu veröffentlichen. Ich habe lange damit gezögert, weil es mir sehr gegenwärtig blieb, wie sie entstanden waren: von einem Juden zu Juden gesprochen, vornehmlich an einen Kreis junger Menschen gerichtet, aus der Eingebung subjektivsten Mitlebens und in einer Sphäre unmittelbarster Wirkung. Ich wollte den Gegenstand nicht in dieser fast intimen Sprache, so fragmentarisch vorgetragen und ohne Belege vor die Augen von Lesern bringen, wollte die Vollendung eines Buches über das Judentum abwarten, die mir damals nahe schien. Es hat sich mir seither erwiesen, dass es noch eine gute Weile dauern wird, bis das Buch zu seinem Ende kommt, ja dass ich zunächst aus seinem Banne treten muss, um wieder Raum und Freiheit zu gewinnen. Da begann ich die Veröffentlichung dieser Reden als notwendig zu empfinden, wie um mich von einer Macht loszukaufen, die mich in Dienst hielt. Und so habe ich mich dazu entschlossen, obgleich meine Bedenken nicht stiller geworden sind. Wenn ich sie berücksichtigen will, kann ich nichts anderes tun als dies: auf ein Buch verweisen, das noch nicht da ist und von dem ich nicht zu sagen vermag, wann es da sein wird.

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Die Frage, die ich Ihnen und mir heute vorlege, ist die Frage nach dem Sinn des Judentums für die Juden.

Warum nennen wir uns Juden? Weil wir es sind? Was bedeutet das, dass wir es sind? Ich will zu Ihnen nicht von einer Abstraktion sprechen, sondern von Ihrem eigenen Leben, von unserem eigenen Leben. Und nicht von seinem äußeren Getriebe, sondern von dieses Lebens innerem Recht und Wesen.

Warum nennen wir uns Juden? Deshalb nur, weil es unsere Väter getan haben: aus Erbgewohnheit? Oder nennen wir uns Juden aus Wirklichkeit?

Aus Erbgewohnheit? Tradition ist edelste Freiheit dem Geschlechte, das sie hell und sinnvoll lebt, aber elendste Sklaverei den Erbgewohnten, die sie zäh und träge übernehmen. Welchen Sinn hat uns dieses Überlieferte, Name, Losung und Wegbefehl: Judentum? Welcher Art ist die Gemeinschaft, von der wir Zeugnis ablegen, wenn wir uns Juden nennen? Was meint diese unsere Fahrt durch den Abgrund — fallen wir durch den Nebelraum der Jahrtausende ins Vergessen, oder trägt uns der Mächte eine in die Erfüllung? Was bedeutet das, dass wir dauern wollen, nicht bloß als Menschen, Menschengeist und Menschensame, sondern, den Zeiten und der Zeit selber zum Trotz, als Juden?

In der großen Vorratskammer der Begrifflichkeit liegen allerlei stattliche und gefügige Antworten bereit für die Klugen, die sich das Lebensgeschäft nicht dadurch erschweren wollen, dass sie den Fragen allzu tief und allzu lang ins Auge sehen. Solche Antworten gibt es auch hier, ihrer zwei zur Wahl; sie heißen Religion und Nation. Aber die Antworten sind unserem Blick nichts anderes als vermummte Fragen.

Gibt es eine jüdische Religion?

Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph

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