Das Judentum und die Menschheit

Bei einem Volke, das auf eigener Scholle ein sicheres, freies, vollständiges Leben führt, tut es gar nicht Not, dass der Einzelne sich auf seine Zugehörigkeit zum Volke besinne; denn ob er sich dessen bewusst wird oder nicht, er gehört seinem Volke von vornherein unverbrüchlich zu durch seine natürliche Teilnahme an dessen Tun und Denken, an dessen Sprache und Sitte. Anders bei einem Volke, das des freien und vollständigen Lebens entbehrt: da steht der Einzelne nicht von vornherein in der Gemeinschaft, sondern er muss sich erst in sie einstellen; sein Zugehörigkeitsbewusstsein erzieht ihn erst zur wahren Zugehörigkeit, zum Mitleben und zur Mitarbeit, und zwar um so stärker, je tiefer er zugleich in seine persönliche Besonderheit, in das Geheimnis seiner Einzigkeit eindringt und je wahrhafter er entdeckt, was er und kein anderer diesem Volke zu geben berufen ist. Ein Ähnliches ist von dem Verhältnis eines Volkes zur Menschheit zu sagen. Ein Volk, das im Bau der Menschheit seinen bestimmten, festen, sicheren Ort hat, das nach Land, Sprache und Lebensformen klar und deutlich bestimmt ist, braucht sich gar nicht auf seine Bedeutung für die Menschheit zu besinnen. Indem es seine eigenen Geschäfte besorgt, dient es der Menschheit auf seine Art, und es bedarf keines weiteren Nachweises seiner Daseinsberechtigung. Nicht so ein Volk wie das jüdische, das seinen natürlichen Ort seit Jahrtausenden verloren hat, keine einheitliche Sprach- und Lebensgemeinschaft mehr besitzt und dem immer wieder die Frage nach der Berechtigung seines Daseins und nach der Notwendigkeit seiner Erhaltung entgegengehalten wird, — entgegengehalten wird auch aus seiner eigenen Mitte. Hier tut es Not, sich auf das zu besinnen, was an diesem Volk einzig und ewig ist. Es tut Not, sich darauf zu besinnen, welches Urelement der Menschenseele, welche Grundform des Menschenlebens sich im Judentum reiner und stärker und wirksamer realisiert hat als in irgend einem anderen Volke und was dieses Urelement, diese Grundform der Menschheit bedeutet hat und bedeutet: wozu die Menschheit des Judentums bedurft hat, seiner bedarf und in aller Zukunft seiner bedürfen wird als der deutlichsten Verkörperung, als der vorbildlichen Darstellung eines der höchsten Elementartriebe des Geistes. Es geht hier um Größeres als das Schicksal eines Volkes und den Wert eines Volkstums; es geht um urmenschliche und allmenschliche Dinge.

Um uns darauf zu besinnen, müssen wir das Problem des Judentums in seiner Tiefe erfassen, müssen auf seinen Grund tauchen, dahin, wo sich aus dem Widerspruch das Ewige gebiert. Denn das ist die Natur und das Los des Judentums, dass sein Höchstes an sein Niederstes gebunden ist und sein Erlauchtes an sein Schändliches. Das Judentum ist nicht einfach und eindeutig, sondern vom Gegensatz erfüllt. Es ist ein polares Phänomen.


„Dies ist sicher: ein Schauspieler oder ein wahrer Mensch; der Schönheit fähig und doch hässlich; lüstern und asketisch, ein Scharlatan oder ein Würfelspieler, ein Fanatiker oder ein feiger Sklave, alles das ist der Jude.“ In diese Worte hat Jakob Wassermann einst das gefasst, was ich als das Grundproblem des Judentums, als den rätselhaften, furchtbaren und schöpferischen Widerspruch seines Daseins empfinde: seine Dualität. Man mag dieses Volk selbst betrachten, insonderheit da, wo es in geschlossener Gemeinschaft lebt; man mag sich sein Erleben wiederaufbauen, wie es sich in seiner Geschichte ausgesprochen hat; man mag sein Schrifttum durchforschen, in dem sein Wesen zum Werke wurde: immer wieder werden die Gegensätze starr und unvermittelt vor einen treten, Gegensätze, wie sie in keinem anderen Sozialgebilde je so ins Äußerste getrieben nebeneinander standen: die mutigste Wahrhaftigkeit neben der Verlogenheit des innersten Lebensgrundes: der letzte Opferwille neben der gierigsten Selbstsucht. Kein anderes Volk hat so niederträchtige Spieler und Verräter, kein anderes Volk so erhabene Propheten und Erlöser hervorgebracht. Und nicht etwa in verschiedenen Epochen, nicht etwa, dass das Hohe das Urjudentum und das Niedrige die Entartung wäre (wiewohl man das geschichtliche Element nicht verkennen darf); sondern in jeder Zeit stehen sie beieinander, ja es sind oft dieselben Menschen, in denen und um die das Ja mit dem Nein ringt und die durch seltsame Erschütterungen, Krisen, Entscheidungen den einen oder den anderen Pol erreichen. Ich sagte: Es sind oft dieselben Menschen. Ich hätte sagen sollen: In allen Juden lebt beides irgendwie. Keiner kann wie der Jude verstehen, was es heißt, durch sich selbst versucht zu werden; keiner hat solche Fülle der Anlage und solche Fülle der Hemmung wie der Jude. Die Lebensgeschichte eines Volkes ist ja im Grunde nichts anderes als die ins Große projizierte Lebensgeschichte eines Volksmitgliedes, und was uns die Historie des Judentums lehrt, das kann von jedem einzelnen Juden durch Selbstbetrachtung ergänzt und bestätigt werden, wenn er nur unerschrocken und klarsichtig und ehrlich genug ist. Und das gilt es zu sein: unerschrocken und klarsichtig und ehrlich; denn es geziemt uns nicht, der tiefen Wirklichkeit unseres Daseins auszuweichen, und es wird uns kein Heil werden, ehe wir ihr gegenübergetreten sind und ihr standgehalten haben.

Damit aber, dass die Frage, ohne die Sphäre des Volkslebens zu verlassen, in die Sphäre des Lebens des Einzelnen eintritt, wird es auch offenbar, dass sie im Grunde etwas Größeres als eine ethnische, dass sie eine menschheitliche Frage ist.

Es ist eine Grundtatsache der psychischen Dynamik, dass die Vielfältigkeit seiner Seele dem Menschen immer wieder als Zweiheit erscheint, ja man kann, da in der Welt des Bewusstseins Erscheinen und Sein dasselbe bedeuten, sagen, dass sie immer wieder die Form der Zweiheit annimmt. Der Mensch erlebt die Fülle seiner inneren Wirklichkeit und Möglichkeit als eine lebendige Substanz, die nach zwei Polen hinstrebt; er erlebt seinen inneren Weg als eine Wanderschaft von Kreuzweg zu Kreuzweg. Die beiden Gegensätze, zu denen es im Menschen hinstrebt, mögen noch so wechselnde Inhalte und Namen haben; die Wahl am Kreuzweg mag als persönliche Entscheidung oder als äußere Notwendigkeit oder gar als Zufall empfunden werden; die Grundform selbst bleibt unverändert, eines der wesentlichen, bestimmenden Urdinge des Menschenlebens, ja vielleicht das wesentliche unter allen, da sich darin das Mysterium der Urzweiheit und damit die Wurzel und der Sinn alles Geistes ausspricht. In keinem Menschen aber war und ist diese Grundform so stark, so beherrschend, so zentral, wie sie im Juden war und ist. Nirgends hat sie sich so rein und restlos verwirklicht, nirgends hat sie so bestimmend auf Art und Schicksal gewirkt. Nirgends hat sie etwas so Ungeheures, so Paradoxes, so Heroisches, so Wunderbares geschaffen wie dieses Wunderbare: das Streben des Juden nach Einheit. Das Streben des Juden nach Einheit ist es, was das Judentum zu einem Phänomen der Menschheit, die Judenfrage zu einer menschheitlichen Frage macht.

Es ist hier nicht der Ort und der Augenblick, die Ursachen und die Entwicklung des extremen Dualitätsbewusstseins im Judentum darzulegen, aber wer in der Geschichte zu lesen versteht, wird ihr von der Zeit der ersten Urkunden bis auf die Gegenwart wieder und wieder begegnen. Ihr stärkster Ausdruck in der Urzeit ist der in das Buch Genesis aufgenommene Mythos vom Sündenfall. Dieser Mythos, dessen Ursprünglichkeit auch die Babylonisten nicht in Frage gestellt haben, setzt die Elemente Gut und Böse, die deutlichsten und wirksamsten aller Inhalte der inneren Dualität, und er tut es mit einer unvergleichlichen Macht und Klarheit. Er stellt das, was dem Menschen aufgegeben ist, als eine Wahl, als eine Entscheidung dar, und er macht alle Zukunft von dieser Entscheidung abhängig. Er spricht die Erkenntnis des Menschen aus, der in der Zweiheit steht. Man vermeine nicht etwa, dies sei auch im altpersischen Dualismus geschehen. Der persische Dualismus bezieht sich nur auf das objektive Sein, nicht auf das subjektive. Es ist eine Weltdeutung, keine Selbstentdeckung. Die Zweiheit des Persers ist ein Stück der Wirklichkeit, keine Schuld. Der Mensch ist in seiner Auffassung aufgeteilt wie die Welt. Für den antiken Juden ist die Welt nicht aufgeteilt; auch der Mensch ist für ihn nicht aufgeteilt, sondern er ist geschieden, gefallen, unzulänglich geworden, gottungleich geworden. Das objektive Dasein ist für ihn einheitlich, Satan ein Diener Gottes. Gespalten ist das subjektive, die äußere Welt aber nur als dessen Symbol. — Man könnte auch versuchen, das Sündenbewusstsein der babylonischen Bußpsalmen als eine Erkenntnis der inneren Dualität darzustellen; aber hier handelt es sich nur um unerfüllte Riten und um sonstige äußere Unbotmäßigkeit; ein Wissen um Gut und Böse ist nirgends auch nur geahnt. Ich habe das klassische Beispiel des Sündenmythos herausgegriffen und kann hier nicht weitere geben. Aber man öffne die große Urkunde der jüdischen Antike, an welcher Stelle man will; man lese in den Geschichtsbüchern die Erzählungen vom Abfall von Jahwe, in den Büchern der Propheten die Anrufe zur Überwindung der Ungerechtigkeit, in den Psalmen den immer wiederkehrenden Aufschrei nach Reinigung durch Gott, im Buche Hiob die Worte der Einsicht in die Notwendigkeit der inneren Dualität, die der reine Wille nicht überwinden, der der um sich Kämpfende nicht entrinnen kann, aus der nur die Erlösung hinausführt: und man wird überall das Gefühl und die Erfahrung der Entzweiung finden, — und überall das Streben nach Einheit.

Das Streben nach Einheit. Nach Einheit im einzelnen Menschen. Nach Einheit zwischen den Teilen des Volkes, zwischen den Völkern, zwischen der Menschheit und allem Lebendigen. Nach Einheit zwischen Gott und der Welt.

Und dieser Gott selbst war aus dem Streben nach Einheit hervorgegangen, aus einem dunklen, leidenschaftlichen Streben nach Einheit. Er war nicht aus der Natur, sondern aus dem Subjekt erschlossen. Der gläubige Jude „fragte nicht nach Himmel und Erde, wenn er Ihn nur hatte“ (so übersetzte Luther die Psalmworte frei und herrlich getreu zugleich): weil er ihn nicht aus der Wirklichkeit, sondern aus der Sehnsucht geschöpft hatte, weil er ihn nicht im Himmel und Erde erschaut, sondern ihn sich als die Einheit über der eigenen Zweiheit, als das Heil über dem eigenen Leid erbaut hatte. Der gläubige Jude (und der gläubige Jude war der vollständige Jude) fand in seinem Gott seine Einheit; er rettete sich in ihm zu jener mythischen Zeit, zu jener kindheitlichen Zeit ursprünglichen, noch unzertrennten Daseins zurück, da, wie Hiob sagt, „Gottes Geheimnis über meiner Hütte war“; er rettete sich in ihm in jene künftige, messianische Zeit der Wiedervereinigung hinüber; er erlöste sich in ihm von aller Dualität.

Denn wie die Idee der inneren Zweiheit, so ist auch die Idee der Erlösung von ihr eine jüdische. Wohl steht ihr die indische Erlösungsidee als die reinere und unbedingtere gegenüber; aber sie bedeutet das Freiwerden nicht von der Dualität der Seele, sondern von ihrer Verstrickung in die Welt. Die indische Erlösung meint ein Erwachen, die jüdische eine Umwandlung; die indische ein Abstreifen des Scheines, die jüdische ein Ergreifen der Wahrheit; die indische ein Verneinen, die jüdische ein Bejahen; die indische begibt sich im Zeitlosen, die jüdische meint den Weg der Menschheit. Sie ist wie alle historische Anschauung die unwesenhaftere, aber die bewegtere. Sie allein kann wie Hiob sprechen: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ und wie der Psalmist „Erneue den Geist in mir“. In ihr wurzelt die Erlösungsidee des Juden Jesus. Aus ihr nahm das messianische Ideal des Judentums seine Menschlichkeit. Und als sich in der jüdischen Mystik der ursprüngliche Charakter der Gottesidee wandelte, als die Zweiheitsanschauung in die Vorstellung von Gott selbst hineingetragen wurde, da wuchs die jüdische Erlösungsidee zur Höhe der indischen empor: sie wurde zur Idee der Erlösung Gottes; zur Idee der Wiedervereinigung des Gotteswesens, das den Dingen entrückt ist, mit der Gottesglorie, die wandernd, irrend, verstreut bei den Dingen wohnt; zur Idee der Erlösung Gottes durch die Kreatur: dadurch, dass jede Seele aus ihrer Zweiheit zur Einheit kommt, dass jede Seele eins wird in sich, wird Gott eins in sich.

Das Streben nach Einheit ist es, was den Juden schöpferisch gemacht hat. Aus der Entzweiung des Ich nach Einheit strebend, schuf er die Idee des Einheitsgottes. Aus der Entzweiung der Menschengemeinschaft nach Einheit strebend, schuf er die Idee der All-Gerechtigkeit. Aus der Entzweiung alles Lebendigen nach Einheit strebend, schuf er die Idee der All-Liebe. Aus der Entzweiung der Welt nach Einheit strebend, schuf er das messianische Ideal, das eine spätere Zeit, auch wieder unter führender Mitwirkung des Juden, verkleinert, verendlicht und Sozialismus genannt hat.

Unmittelbare Einheit, unmittelbares naives ursprüngliches Erleben der Einheit im Ich und in der Natur war dem Juden versagt. Er ging nicht von der Einheit aus, er kam zu ihr. Als Spinoza den einheitlichsten Weltaufbau des Menschengedankens schuf, hatte auch er die Einheit nicht in der Natur, sondern in der Forderung erlebt, im schöpferischen Willen, im einsgewordenen Ich. Sein Ich war Einheit geworden: so konnte er Einheit in die Welt; setzen.

Denn das ist der Urprozess des Juden, der Urprozess, den die großen Juden, in denen das tiefste Judentum lebendig wurde, an ihrem persönlichen Leben mit der ganzen Gewalt asiatischer Genialität zur Erscheinung gebracht haben: das Einswerden der Seele. Das große Asien lebte sich in ihnen dem Okzident vor, das Asien der Schrankenlosigkeit und der heiligen Einheit, das Asien Laotses und Buddhas, welches das Asien des Moses und der Jesaiasse, des Johannes, des Jesus und des Paulus ist.

Am Streben nach Einheit entzünden sich im Juden die schöpferischen Kräfte; im Einswerden der Seele wurzelt seine schöpferische Tat. „Nur wenn du ungeteilt bist, hast du Teil an Jahwe deinem Gott“ heißt es im Midrasch. Die schöpferischen Juden sind die Siege über die Dualität, ihre positiven Überwindungen, das Ja über dem Nein, das Schaffen über der Verzweiflung, der Triumph der Sehnsucht. Sie sind das „Es werde Licht“ des Judentums. In ihrem Leben, in ihrem Werk erlöste sich das Volk. Wir können, wenn wir dies ganz erfasst haben, von hier aus in den innersten Sinn dessen blicken, was wir „Galuth“, d. i. Exil nennen. Auf die große schöpferische Epoche folgte das lange Zeitalter, das man in Wahrheit das Zeitalter des Exils nennen kann, denn es hat uns aus unserem Urwesen verbannt: die Epoche der unproduktiven Geistigkeit, jener Geistigkeit, die fernab vom Leben und vom lebendigen Streben nach Einheit sich von Bücherworten, von Deutungen der Deutungen nährte und in der Luft der ideenlosen Abstraktion ein armseliges, verzerrtes, krankes Dasein fristete. Die natürliche Einheit des Landes und der bodenständigen Gemeinschaft, die nährende Einheit der Erde hatte einst gehindert, dass die innere Entzweiung in Zerrissenheit und Haltlosigkeit ausarte, und sie hatte immer wieder die Kräfte gezeugt, die nach Einheit strebten und Einheit schufen. Nun war sie verloren. Der fruchtbare Kampf innerhalb der Gemeinschaft, der weckende aufrufende Kampf derer, die die Einheit gefunden hatten, gegen die, die sich von ihren auseinanderstrebenden Trieben tragen ließen, der schöpferische Kampf der Propheten und Erlöser gegen die Gottlosen und Selbstzufriedenen war erloschen. Es begann der in seinem Wesen notwendige, aber in seiner Wirklichkeit unfruchtbare Kampf gegen den Einfluss der Welt, der Kampf um die Wahrung der Art. Er war unschöpferisch, ja er richtete sich mehr und mehr gegen das Schöpferische selbst, gegen alles Freie, Neue und Bewegende; denn alles Freie, Neue und Bewegende schien den letzten Bestand des entwurzelten Judentums erschüttern zu wollen. Dieser Kampf entstammte einem Grundtrieb gesunder Selbstbehauptung; aber er artete in blinde Selbstzerstörung aus. In diesem grausamen, verketzernden, einsichtslosen, besinnungslosen Kampf des offiziellen gegen das unterirdische Judentum verflachten die großen Einheitsideen zu einer immer geistesleerer werdenden Tradition; und wo das Streben nach Einheit zu neuen Ideen, zu neuen Formen rang, wurde es gewaltsam niedergedrückt. Dazu kam die namenlose Pein des äußeren Lebens, das längste und das schmerzensreichste Martyrium, das je ein Volk auf Erden erlitten hat. In dieser ewigen Qual, in diesem Widerstreit von innen und von außen erlahmte das Streben nach Einheit. Das Volk blieb unerlöst. Die großen Stunden der Stille und der Kraft,, in denen einst jüdische Menschen den ewigen Zwiespalt erlebt und sich ihm entschwungen hatten, wurden immer seltener. Außer der Ideenwelt eines großen Denkers lebten sie nur fort in der glühenden Innerlichkeit der jüdischen Ketzer und Mystiker. Da schufen sie ein Werk ehabenen Geheimnisses, da wirkten sie an einer unterirdischen Kontinuität, sie gaben die Fackel von Hand zu Hand weiter und hielten die Seele des Judentums bereit für den Augenblick der Befreiung.

Ist dieser Augenblick gekommen? Gibt es einen solchen Augenblick?

Das Judentum ist nicht bloß in seiner Geschichte, nicht bloß im gegenwärtigen Leben des Volkes, es ist auch, es ist vor allem in uns selbst. Solange wir in uns das alte Judentum fühlen, solange wir in uns die Urzweiheit finden und das Streben nach Einheit, können wir nicht glauben, der Urprozess sei beendet und das Judentum habe seinen Sinn erfüllt. Solange die Elemente gegeben sind, ist die unendliche Aufgabe gegeben. Und sie wird in jedem von uns zur persönlichen Aufgabe, zum Ethos des Einzelnen, das sich in Stille und Reinheit vollziehen soll. An dem großen Prozess des Judentums wirkt jeder mit, der die Einheit seiner Seele gewinnt, der sich in sich für das Reine und gegen das Unreine, für das Freie und gegen das Unfreie, für das Fruchtbare und gegen das Unfruchtbare entscheidet, jeder, der die Schacherer aus seinem Tempel jagt. Und wie in uns selbst, so müssen wir im Volke entscheiden und den Negativen, den Schauspielern, den Lüsternen, den Würfelspielern, den feigen Sklaven die Gemeinschaft absagen. Denn die Ausstoßung des Negativen ist wie im Einzelnen so auch im Volke der Weg zum Einswerden. Es gilt hier nicht die Sache zwischen Nationalisten und Nichtnationalisten oder dergleichen; das ist alles Oberfläche und unwesentlich; es gilt hier die Sache zwischen Wählenden und Geschehenlassenden, zwischen Zielmenschen und Zweckmenschen, zwischen Schaffenden und Zersetzenden, zwischen Urjuden und Galuthjuden. Urjude aber nenne ich den, der in sich der großen Kräfte des Urjudentums bewusst wird und sich für sie, für ihre Aktivierung, für ihr Werkwerden entscheidet.

Knüpfen wir also an das innerste Leben des Urjudentums an, streben wir zur Einheit in unserer Seele, reinigen wir das Volk, und wir haben an seiner Befreiung mitgewirkt. Daran, das Judentum wieder frei zu machen für seine Tat in der Menschheit. Dieses ist, wie wir gesehen haben, immer die Bedeutung des Judentums für die Menschheit gewesen und wird es bleiben: dass es an sie immer wieder die Forderung der Einheit heranbringt; die Forderung, die aus der eigenen Entzweiung und der Erlösung von ihr geboren wird. Das Judentum kann nicht, wie andere Völker, der Menschheit neue Gegenstände, neue Inhalte geben, dazu ist das Verhältnis des Juden zum gegenständlichen Dasein, zu den Dingen nicht stark genug; es kann ihr vielmehr nur immer neue Einheit für ihre Inhalte geben, immer neue Möglichkeiten der Synthese. Es war religiöse Synthese in den Zeiten der Propheten und des Urchristentums, es war gedankliche Synthese in der Zeit Spinozas, es war gesellschaftliche Synthese in der Zeit des Sozialismus. Zu welcher Synthese bereitet sich heute der Geist des Judentums? Vielleicht zu einer, die eine Synthese all jener Synthesen sein wird.

Aber welches Angesicht immer sie haben wird, eines wissen wir von ihr: dass sie wieder dem tausendfältigen, zerklüfteten, widerstreitenden Getriebe der Menschheit gegenüber die Forderung der Einheit erheben wird, dass sie wieder zur Menschheit sagen wird: „All das, was ihr sucht und übt, wonach ihr strebt und hastet, all eure Taten und all eure Werke, all eure Opfer und all eure Genüsse, all das ist sinnlos, wesenlos ohne die Einheit.“ Ein Jude hat einst das Wort gesprochen: Eins tut not. Damit sprach er die innerste Seele des Judentums aus, die weiß, dass alle Inhalte nichtig sind, wenn sie nicht zur Einheit zusammenwachsen, und dass es in allem Leben auf eins ankommt: die Einheit zu besitzen. Nicht immer stand die Seele des Judentums auf der Höhe dieser Anschauung; aber die Zeiten, in denen sie sich rein und stark zu ihr bekannte, waren die großen, die ewigen Momente der jüdischen Geschichte. In diesen Momenten war das Judentum der Apostel des Orients vor der Menschheit; es war der Apostel des Orients, weil es aus seiner Erfahrung der inneren Entzweiung und der Erlösung von ihr die Macht und die Leidenschaft schöpfte, die Menschenwelt das eine zu lehren, das not tut. Das Judentum hat einst das große Sinnbild der inneren Entzweiung aufgestellt, die Scheidung von Gut und Böse, die Sünde; aber es hat auch immer wieder die Überwindung dieser Scheidung gelehrt: in Gott, bei dem, wie es im Psalm heißt, die Gnade und die Erlösung ist; im Leben des heiligen Menschen, der die Sünde, die Scheidung von Gut und Böse, nicht mehr kennt, der „rein von Sünde“ ist; und in der messianischen Welt, in der, wie es im Buche Henoch heißt, die Sünde für ewig vernichtet wird. So ist und bleibt dies die Grundbedeutung des Judentums für die Menschheit, dass es, der Urzweiheit im innersten Wesen wie kein andres bewusst, wie kein andres sie kennend und sie darstellend, eine Welt verkündet, in der sie aufgehoben ist: eine Gotteswelt, die im Leben des Einzelnen und im Leben der Gesamtheit verwirklicht werden will: die Welt der Einheit.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Drei Reden über das Judentum