Der Doppelgänger

Seitdem wir uns daran gewöhnt haben, politische Programme als Vorreiter bestimmter wirtschaftlicher Interessenkreise zu betrachten, sind wir gegen ihren Wortlaut und ihre Gefühlstaktik misstrauisch geworden und wehren uns gegen eine zu innige Beziehung zwischen Politik und Kunst, von der wir uns lieber unsere Gefühle als unser Einkommen vorrechnen lassen. Dieses Vorurteil — in dem ein Missverständnis über das Wesen politischer Instinkte mit einem Missverständnis über das Wesen der Kunst zu gleichen Teilen gemischt ist — müssen wir im Vorzimmer zurücklassen, wenn wir der russischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts gerecht werden wollen. Die Fähigkeit, sein eigenes Einzelschicksal und das seines Nächsten allgemeinen Zusammenhängen anzugliedern, die nicht nur metaphysischen, psychologischen oder biologischen Kategorien folgten, sondern der Sorge um ein staatliches Zusammenleben, also der spezifisch politischen Sorge entsprangen, war bei den einzelnen Persönlichkeiten jenes literarischen Kreises so ausgebildet, dass man wohl sagen kann, die Politik sei damals für die Literatur eine Lebensfrage gewesen. Wenn wir andererseits sehen, dass in Russland auch die größten und kleinsten Lebensäußerungen zur politischen Frage wurden, können wir in diesem Symptom den Ausdruck für die enge Beziehung zwischen Leben und Dichtung erblicken, aber der eigenartige Charakter der Vermittlung wird dadurch nicht verwischt. Wir möchten das Leben und die Dichtung beglückwünschen, dass sie sich auf einem so sachlichen Gebiet der Verständigung treffen konnten, wissen jedoch auch, dass die geistigen Methoden, die zum Durchpflügen dieses Gebietes verwendet werden, nicht immer mit den Gesetzen der künstlerischen Gestaltungskraft Hand in Hand gehen, wie sie auch keineswegs immer den Gesetzen des Lebens entsprechen. Der russische Dichter scheut vor diesen Methoden nicht zurück, ist gern bereit, allerhand Begriffe und Urteile in sein Bewusstsein aufzunehmen, seinem Seelenleben zu verflechten, ohne dadurch sein ästhetisches Sehvermögen zu vergröbern, und greift furchtlos selbst in die Geheimnisse der Parteienbildung hinein. Der ,,Nihilismus“ wird durch einen Roman Turgenjews festgelegt; literarische Neuigkeiten werden vom Gesichtspunkt aus beurteilt, ob sie eine politische Richtung empfehlen oder missbilligen. Für das Verständnis dieser intimen Ziel- und Gefühlsgemeinschaft, welche der Literatur ihr eigentümliches Gepräge verleiht, ist allerdings der Umstand wichtig, dass der Hauptton bei allen politischen Diskussionen vorwiegend auf ethischen, religiösen Motiven, sogar auf solchen ästhetischen Charakters lag. Welch gewaltige wirtschaftliche Strömungen hinter den Kämpfen der Intellektuellen lauerten, können wir heute besser als je übersehen. Jenen Westlern z. B., deren Ideal es war ,,Hegel zu verstehen und Goethe auswendig zu kennen“, wurde es jedoch nur selten bewusst, dass sie durch ihre geistige Haltung dem Industrialismus die Wege bahnten. Wenn sie daran dachten, so erschien er ihnen höchstens als ein Symptom eines idealen „Fortschritts“, dessen wesentliche Existenzberechtigung anderswo zu suchen sei, als in seinem ökonomischen Charakter, in einem allgemeinen Kulturgedanken, einer moralischen, seelischen Perspektive. Der Aktionsplan der verschiedenen Doktrinen entbehrte darum nicht einer sachlichen, aktuellen Spitze, da sie alle in die Verteidigung oder Verurteilung einer bestimmten Staatsform mündeten, in den Kampf für oder gegen den Zarismus, für oder gegen eine parlamentarische Verfassung. Nur profitierten sie alle, auch die Widersacher der kirchlichen Autorität, welche den Absolutismus stützte, von der Fähigkeit jedes religiösen Systems, die moralische Rechtfertigung von den ökonomischen, gesellschaftlichen Bedingungen zu emanzipieren, mit denen es womöglich bis ins kleinste verwachsen ist. Das Verbindungstor zwischen Seele und Politik war noch weit genug, damit ein Austausch der Säfte, ohne Reibungen und Verluste, stattfinden könne. Die Literatur trug nicht wenig dazu bei, dass der Politik die prinzipielle bona fides erhalten blieb, die ethische Dehnbarkeit und Wärme, und die Politik lieh der Dichtung die Sensation der aktuellen Wirksamkeit. Es tritt sogar der Fall ein, dass sich die Dichter viel eher der wirtschaftlichen Bedingungen, die an ihren sittlichen und sozialen Forderungen mitbeteiligt sind, bewusst werden, als die Theoretiker, da sie schon bei der richtigen Anwendung ihres Handwerksmittels, der Darstellung des Gegebenen, nicht übersehen können, wie stark die wirtschaftlichen Daseinsgrenzen die Erscheinungsformen des Lebens, die Denk- und Gefühlsweise der Menschen beeinflussen. Der Dichter weiß: so denkt und spricht ein Gutsbesitzer, ein Beamter, ein Bauer — der Politiker weiß es nicht immer. Es mag nicht der letzte Grund sein, dass dieser sich und den Partner im Poem ,,erkannte“. Sei es auch auf diesem Umwege, — die Dichter sind aufrichtigere und mutigere Sozialpolitiker als die Demagogen und ohne diesen letzten Pinselstrich, welchen das soziale Gewissen bei der Übertragung in die bildliche Anschauung findet, könnten wir uns manchmal versucht fühlen, die reale Bedeutung jener Renaissance politischer Instinkte zu unterschätzen. Nicht als ob eine soziale Zielsetzung, die auch andere als wirtschaftliche Pläne geltend macht, keine Beachtung verdiente, wohl aber weil jene, welche an wirtschaftlichen Verhältnissen vorbeiredet, unfruchtbar bleiben muss. Ganz besonders am Vorabend einer historischen Periode, welche die Abhängigkeit des Menschen von den materiellen Kräften des Daseins in den Mittelpunkt der Entwicklung stellen sollte. Für unseren Zweck — die Darstellung der Persönlichkeit Dostojewskis — ist diese allgemeine Charakterisierung der russischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts wichtig: dass sie für den Verkehr mit dem realen Leben reich ausgestattet war mit ethischen (metaphysischen), sozialen und ökonomischen Komplexen, die sich nicht in einer abstrakten Autonomie ausleben, sondern zu einem Knoten aktuellen Geschehens verknüpfen, das nicht anders als politisch genannt werden kann, weil es durch die Sorge um die Staatsform zusammengehalten wird, und das alle anderen Entwicklungen beherrscht. Um die Bedeutung dieser Eigenart und ihre Verwendbarkeit für die Annäherung an die vielseitige Persönlichkeit Dostojewskis auf den richtigen Ton abzustimmen, mögen wir uns daran erinnern, dass wir nicht immer geneigt waren, den Dichter des „Raskolnikoff“ und der „Karamasoff“ als einen ,,politischen Schriftsteller“ zu begrüßen. In seinen Werken sticht die Verführung zur politischen Diskussion keineswegs so stark hervor, wie wir es annehmen könnten, wenn wir unser Gefühl mehr oder minder reichlich mit der Kenntnis des einschlägigen Materials belastet haben. Ästhetische und psychologische, metaphysische und religiöse Begriffsbahnen könnten uns näher liegen und die Entdeckung, dass jener Held der Novelle („Bei nassem Schnee“), der eine Dirne, die ihn um Liebe anbettelt, unter die Schwelle ihrer möglichsten Erniedrigung hinabdrückt, indem er ihr seine eigene Niedrigkeit aufbürdet — dass dieser Mensch, der uns meilenweit entfernt scheint von jedem menschlichen Zusammenhang, mit der politischen Ideologie des Dichters eng verkettet ist, möchte für viele eine Überraschung enthalten, die für die Geschichte unserer Einstellung zu seinen Werken nicht gleichgültig ist und irgendwie in allen unseren Schlussfolgerungen berücksichtigt werden muss, wenn dieselben mit unserem unmittelbaren Eindruck organisch verknüpft sein sollen, da sie eine in uns wirksame Empfindlichkeit verrät. Wir ergaben uns lange der Wirkung seiner Kunst, ohne genau zu wissen, wohin er uns führen wollte, und wenn wir manchmal heutzutage sehr bestimmt zu wissen glauben, wie er es meinte, ist unsere Deutungswut nicht ganz frei von einem versteckten Revanchebedürfnis gegen diesen Geist, dem kein Verführungsmittel zu schlecht war, um unsere Vernunft zu bannen. Es überraschte uns, diese Persönlichkeit, welche durch ihren Gestaltungswillen hinlänglich in Anspruch genommen sein musste, von zentnerschweren Sorgen besonderer Art erfüllt zu sehen, die durch ihre Dimensionen, ihre Gewaltsamkeit und Fülle an Stoff und Bedeutung das Werk, die Mühe um das Werk zu überragen, zu erdrücken drohen; welche diese Seele, die bei ungenauer Betrachtung schmächtig und ungebunden, beinahe uninteressiert erscheint, weil sie von der Atmosphäre der dargestellten Welt ganz aufgesogen wird, in einen Quadernbau von Gedanken und Gefühlen, Stärken und Schwächen, Bewusstheiten und Verborgenheiten verwandelte. Und wenn uns andererseits der Einblick in dieses unter irdische Geschehen verlockt, die Ordnung, die wir darin finden, nach einem zu primitiven Schema auf das Werk des Künstlers zu übertragen, kann es uns leicht passieren, dass wir die Bedeutung des Werkes in der unerlaubtesten Weise vergröbern. Das Verhältnis zwischen der Weltanschauung Dostojewskis und seiner Kunst ist tatsächlich der heikelste Punkt bei unserem Verkehr mit diesem Dichter, dessen Behandlung die höchsten Anforderungen an unser kritisches Taktgefühl stellt, weil ein Fehltritt entscheidend werden kann für unsere Beziehung — seltsamerweise nicht nur zum Künstler, sondern auch zum Politiker.

Wenn wir uns schrittweise dem Problem nähern, begegnet uns als erstes die Gefahr, dass wir das Verhältnis zwischen dem Künstler und dem Politiker entweder als zu locker oder als zu eng auffassen. Sei es, dass wir sagen, für die Erkenntnis der Bedeutung, welche die Persönlichkeit Dostojewskis für uns und für die Welt haben mag, genüge die Interpretation seiner dichterischen Visionen; sei es, dass wir — vielleicht in der Annahme, ein Rezept zu befolgen, das der Dichter selbst aufgesetzt — sein soziales Bewusstsein und politisches Weitbild seiner Gestaltungskraft gleichsetzen, als ob wir ohne Korrektur jederzeit unser Urteil von der einen Seite auf die andere übertragen könnten. Nun wäre es wirklich möglich, die Mission Dostojewskis ausschließlich aus seinen Romanen abzuleiten und angesichts der verschiedenen Missdeutungen, die dem Dichter bei mancher Gelegenheit angehängt wurden, möchten wir im Interesse der Sache wünschen, es wäre nie ein anderer Weg beschritten worden. Wir glauben jedoch, dass diese Auffassung nur insofern richtig ist, als sie vom Gesichtspunkt ausgeht, Dostojewski als gestaltender Künstler stehe auf dem bedeutungsvollsten Kreuzungspunkt aller seiner organischen Bereitschaften, so dass wir aus seiner Tat einen Überblick über Anlage und Entwicklung aller seiner Fähigkeiten gewinnen können. Wenn uns auch einige, womöglich sehr interessante Phasen jenes inneren Prozesses, den er durchmachen musste, um sich auf diesen Punkt zu konzentrieren, weniger klar erscheinen mögen — gerade bei Dostojewski könnte uns ein gewissenhaftes Vorgehen vor Selbsttäuschungen schützen. Allerdings würde dabei das Schauspiel eines tragischen Ringens, in welches sein Menschentum noch mehr als sein Künstlertum verwickelt wurde, obwohl es notwendig war, damit sein Künstlertum frei werde, ein Schauspiel, dessen Aufbau und Durchführung einige für das Kunstleben unserer Zeit typische Faktoren beleuchtet, nur aus Verschleierungen auf uns wirken. Und wenn wir absichtlich sein volles Erleben der Diskussion unterbreiten, so geschieht es vor allem deshalb: um den spezifischen Wert seiner Mission mit voller Evidenz zu beleuchten. Es ist wichtig, dass hinter dieser Auffassung eine andere Voraussetzung liegt, als es diejenige ist, die man meistens macht, wenn man es ablehnt, eine Verantwortung für das politische Weltbild Dostojewskis zu übernehmen, und sich nur seinen Visionen zuwendet. Man macht dabei eine bequeme Unterscheidung zwischen dem ,,Dichter“ und dem ,,Denker“, die ungefähr besagt: wenn der Russe das eine Mal die Welt logisch, rational durchdringt, das andere Mal künstlerisch bewältigt, könnte letzteres noch immer eine Tat darstellen, die unsere Achtung, Anerkennung, Bewunderung verdient, die wir miterleben, von der wir lernen können, wenn wir auch die Arbeit der Logik missbilligen. Zwischen ,,Erkenntnis“ und ,,Kraft“, — um mit Hebbel zu sprechen — würde sich demnach ein Phänomen einschieben, das unabhängig von der Erkenntnis gewertet werden muss, einzig und allein im Hinblick auf seine Wirkung auf die Kraft. Eine Art creatio ex nihilo des künstlerischen Objekts, die ihre Bedeutung durch alle Empirie und Logik durchsetzt. Die politischen und menschlichen Regungen des Künstlers kämen dann nur in dem Maße in Betracht, als sie ihm Hilfsmittel zur Materialbewältigung, zur Überwindung des Widerstandes des Stofflichen boten, die notwendig war, damit die Fülle in jene Sphäre gehoben werden könne, wo sie den Anschluss an ästhetische Gesetze findet. Dass er sich dabei mit Seele und Leib kompromittierte, wären Begleitumstände, die für unser Urteil über seine Persönlichkeit nebensächlich sind, da wir dieselbe nur nach dem Hic Rhodus, hic salta jener kritischen Situation erfassen sollen, für welche etwa Kant die Forderung der Wirkung ohne Reiz und Rührung, des Urteils ohne Begriff und Interesse geltend machte. Alle übrigen Äußerungen wären nur ein Produkt des seelischen Müßigganges, einer Beschäftigungslosigkeit und Langeweile der zerebralen und affektiven Kräfte, die nur im Visionären ihre Bestimmung haben, ein Zeitvertreib, selbst wenn wir ihre Entwicklung nicht nur im Individuum, sondern auch in seiner geistigen Hereditätsreihe ebensoweit verfolgen können, wie seine ästhetischen Attribute. Folgerichtig müsste sich der Gedankengang auch so formulieren lassen: Dostojewski verurteilt z. B. den Nihilismus; wir sind „anderer Meinung“ und nehmen den Nihilismus in uns auf, leben in ihm (der Vergleich ist wohl nur möglich, wenn wir die gleiche Teilnahme von beiden Seiten voraussetzen, beim Dichter und beim Gegenpart); trotzdem können wir die Lebendigkeit und Anschaulichkeit auf uns wirken lassen, die Dostojewski dem einzelnen Nihilisten mitgibt, den er zeichnet; das erzeugt kein Präjudiz gegen unsere theoretische Ansicht, die unangetastet bleibt. Denn inzwischen ist jenes geheimnisvolle Etwas in die Erscheinung getreten, das uns auf die Knie zwingt, in welcher Umgebung wir es auch antreffen mögen. Der Weg ist offen, um — wenn es gerade unseren Bedürfnissen entspricht — den Dichter als Europäer, den Politiker als Asiaten zu stigmatisieren. Da bei solchen Gelegenheiten nur Klarheit hilft, führen wir auch ein recht naturalistisches Argument an, das mehr oder minder deutlich ausgesprochen den Gedankengang begleitet: dass Dostojevski Parteigenossen hatte, welche nicht weniger gesinnungsstark waren als er, darum aber für uns nicht annähernd jene Bedeutung haben, die wir ihm zusprechen, weil er Dichter war.


Wir glauben, die Frage ist falsch gestellt. Sie ist übrigens auch in der Motivierung nicht richtig, da wir vom Verkehr mit Dostojewskis Parteigenossen oft eine Ergriffenheit mitnehmen, die vieles von unserer Teilnahme an seinem Werke enthält. Aber es ist der Mühe wert, den Hintergrund der Frage etwas näher zu beleuchten, weil sich in ihm Vorgänge verbergen, welche das Kunstleben der Gegenwart, die Einstellung der Kritik, des Publikums, der Künstler selbst in einer verhängnisvollen Weise beeinflussen, und Dostojewski andererseits ein überaus dankbares Material für die Behandlung des Problems liefert. Er ist nicht ein Ausnahmefall, dem gegenüber diese Apperzeptionsweise nur aus besonderen Gründen ihre Unzulänglichkeit verrät, indem sie so viel Unverdautes ablagern muss, sondern es geht um eine Unzulänglichkeit, die in irgendeiner Form jedem Kunstwerk gegenüber auftritt. Die Polemik mit Kant würde weit führen — sie liegt auf einem ganz anderen Gebiet: das Verhältnis reiner Ideen zu den psychologischen und biologischen Voraussetzungen ihrer praktischen Realität — aber die Krise des hier gestellten Problems lässt sich aufs Datum genau bestimmen, auf ein Datum, das nicht sehr weit zurückliegt. Es stammt aus der Zeit des Naturalismus, der Tendenzstücke, der Armeleutedichtung, als die Künstler es aufgaben, gefällige Formen zu bosseln und wie zum Widerspruch einen Ersatz in den Abgründen des Lebens zu suchen begannen, wobei sie in die Nähe von gewissen politischen Bekenntnissen gerieten, zu deren Fach dieselben Gebiete gehörten. Die materielle Einschränkung des Interessekreises verriet eine Schwäche, die sich auch rächte, obwohl der Lebenswille, der sich darin aussprach, nicht zu verachten war. Als sie schon eine Bresche in das öffentliche Kunstbewusstsein gesprengt hatten, schlugen die Künstler ins Gegenteil um und wandten sich wieder einem formalen Prinzip zu. Seitdem fürchtet der Kunstjünger und Enthusiast jede politische und moralische Gesinnung wie die Katze den heißen Brei und der Esel das Eis. Das Bekenntnis schwebt in der Luft: dass jede menschliche Verantwortung den schaffenden Geist belaste. Der ganze Verlauf der Entwicklung ist mit Widersprüchen vollgepfropft; nur das Resultat drängt sich mit Prätention auf: eine Ratlosigkeit, die jede Verständigung verhindert, weil sie jeden verwendbaren Begriff pulverisiert. Die Kunst ging nicht zu den armen Leuten und zu den Zweideutigkeiten des Lebens, weil sie politisch wurde — sondern sie tat es aus derselben Ursache, die das politische Gewissen zu den armen Leuten trieb, deren Quelle aber weder hier noch dort, sondern im Menschen steckt, dort, wo er weder Politiker noch Künstler ist. Sie kam nicht davon ab, weil ein politisches Bekenntnis unfruchtbar macht und ästhetische Unzulänglichkeiten erzeugt, ebenso wenig als sie früher durch die Soziologie fruchtbar geworden war, ebenso wenig als sie ohne dieselbe besser wurde. Wir sehen hingegen, dass seitdem manche verheißungsvollen Kräfte in ihr erlahmten, die sich damals ankündigten, und unwillkürlich stellt sich in unserem Geiste eine Beziehung her zwischen dem heißeren Atem, der sie belebte, und diesem Glauben, der angeblich ihr Mangel war. Die Leichtfertigkeit, mit welcher man Wirkung und Ursache, Ursache und Wirkung verwechselt, verstellt den Ausblick und fördert den tristen Erfolg, der vorläufig darin zu bestehen scheint, dass sich eine Konvention der gefälligen Form eingebürgert hat, die um nicht viel besser ist als die frühere Mittelmäßigkeit — es fehlen nicht einmal die philologisch-scholastischen Dogmen — eine formale Gesinnung, welche die Abrundung mit freieren Mitteln anzustreben glaubt, jedoch nichts anderes ist als die Ausbildung derselben Vorurteile, durch welche uns ältere Gebilde ungenießbar wurden. Und das soziale Bekenntnis, das sie enthält, ist womöglich noch viel aufdringlicher als das des Naturalismus, allerdings nur für denjenigen, der es zu lesen weiß, der es nicht teilt und darum nicht wie eine legitime Selbstverständlichkeit übersieht. Ob ihr vor allem Geschehen graut, oder nur vor einem bestimmten Gebiet der Natur — ebenso wie sie früher nur ein bestimmtes Gebiet lieben zu können glaubte? Die Behandlung dieses letzten Kapitels unserer Kunstgeschichte würde schon deswegen unsere Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, weil sie mit der Frage zusammenfällt: ist künstlerische Begabung eine Kraft, die sich, gleichgültig wo und wie, durchsetzt, infolgedessen dem Individuum keine Verantwortung aufbürdet, oder ist sie ein empfindliches, krankhaft eindrucksfähiges Vermögen, das durch ein Weniges gehemmt werden kann, durch ein Weniges gesteigert — durch die Überschreitung einer Grenzlinie, die schicksalsentscheidend wirkt ? ist das, was wir beklagen — und es ist nicht wenig — ein gehemmtes Vermögen, das sich im Sesam versprochen hat, oder ist es ein totes Vermögen?

Es handelt sich um eine Wiedererweckung des uralten Begriffes der „Inspiration“, der „dichterischen Begeisterung“, des ,,Lieblings der Musen“, jener romantischen Vorstellungen, durch welche Künstler und Dichter ihr schwieriges Handwerk vor profanen Eingriffen zu schützen verstanden. Vielleicht, weil sich immer jemand gefunden hätte, der ihnen das Handwerk gelegt hätte. Nur ist die Ausdrucksweise modern geworden und anstatt mit olympischen Götterbildern mit einem metaphysischen Apparat ausgestattet. Wenn wir mit Dostojewskis Künstlertum fertig werden, so müssen wir auch sein Menschentum verarbeiten können, denn jenes ist ohne dieses nicht denkbar. Und eine Anschauungsweise, die uns auffordern möchte, neun Zehntel seiner Erlebnisse glatt zu übersehen und unserem Seelenbilde zu entfremden, mögen sie auch in die Katorga führen oder in die Puschkinrede münden, ist uns verdächtig, auch wenn sie den „Dämonen“ und dem ,,Idioten“ gerecht zu werden versucht, weil wir zweifeln dürfen, ob sie den Gegenwert für die Katorga und das „Beuge dich, stolzer Mensch, arbeite, müßiger Mensch m den Werken zu empfinden vermag und uns ihr Urteil daher, mag es wie immer ausfallen, wertlos scheint. Schädlicher als die begriffliche Fassung, welche mit einer Fiktion arbeitet, die als Arbeitshypothese manchmal Gutes geschaffen hat, ist die Attitüde der Angst, die hinter ihr lauert und durch sie gezüchtet wird und die sich gern als Angst vor der ,,Tendenz“ empfiehlt. Sie spielt mit einer Vorstellung, welche dem Kunstwerk seine Verankerung in der Seele des Schaffenden nimmt und jedes Schaffen als eine psychologische Unmöglichkeit hinstellt. Denn der Widerstand des Stoffes ist kein materielles oder mystisches Phänomen, sondern nichts als psychische Hemmung. Was wir als Tendenz ablehnen, ist nur eine besondere Art der Wirkungsabsicht, von der wir wissen, dass sie mit unverbrauchten Resten arbeitet. Andererseits können wir jedoch sagen, dass ein Werk um so mächtiger und freier auf uns wirkt, je schärfer und deutlicher jene reinere Absicht herausgearbeitet ist, welcher die Konzeption als seelisches Phänomen ihre Existenzberechtigung im seelischen Getriebe des Schaffenden verdankt. Und der Unterschied zwischen der belastenden Tendenz und der befreienden Absicht dürfte vor allem darin bestehen: dass jene zu mir als zu einer Masse spricht, diese zu meinem Einzelschicksal; dass der Schaffende im ersten Fall nicht nur die Beantwortung der Lebensfrage sucht, die in ihrer dringendsten Form stets ein subjektives Vorzeichen trägt, sondern außerdem eine Entlastung durch Abwälzung auf ein praktisches Geschehen; während er im zweiten Falle ganz auf seine subjektive Bestimmung zurückgeht. Damit aus einem Metaphysiker ein Künstler werde, ist es notwendig, dass die Fähigkeit, sein Einzelschicksal in den allgemeinen Rahmen zu transponieren, sich in die Fähigkeit verwandle, aus der großen Erkenntnis die persönliche Nutzanwendung zu ziehen. Ebenso wie der Kliniker am nackten Menschen den Beruf abliest, teilt uns jedoch die geistige Haltung der Vision, der Hintergedanke in ihr, der den Lebensfunken aus dem toten Gestein schlug, eine Erkenntnis mit, die entscheidend ist für alle Schichten des Erlebens, die sie durchzieht. Es ist nur eine Frage der Kapazität, wie weit ich sie verfolgen mag — verfolgen muss. Es ist dasselbe Problem: Einer, der als Kleinstädter durch die Welt geht und als solcher die Welt darstellt, wird dem. Anderen, der seine Seele schon über großstädtische Forderungen gespannt hat, nicht ein ,,schlechter Kleinstädter“, sondern ein ,,schlechter Künstler“ sein; und doch hätte es ihm eine formale Ästhetik niemals gezeigt.

Das Beispiel des Nihilisten löst sich wahrscheinlich so auf: wenn ich jener Nihilist bin, den der Dichter meinte, so hat er nicht für mich geschaffen; es ist Hundert gegen Eins zu wetten, dass sein Wort nicht zu mir dringt, oder dass ich es abstoße und dass er mir ein schlechter, ein überflüssiger Dichter ist. Weil meine ganze Perspektive hermetisch gegen die lebendigen Kräfte abgesperrt ist, die sein Werk tragen. Es geht weder um die Behauptung, dass eine politische Ideologie eine selbsttätige künstlerische Substanz enthält, noch dass es bei dieser bestimmten der Fall war. Dem Problem geht die rein individuelle Unterscheidung voraus, dass Dostojewski von vornherein auf die dichterische Tat eingestellt war, dass in ihm diese Not und Fähigkeit war, sein kosmisches Erleben aus dem persönlichen Winkel wiederzugeben. Aber die Frage ist wichtig, ob das Zusammentreffen politischer Instinkte und dieser überragenden schöpferischen Kraft ein zufälliges oder notwendiges war; ob — da uns dieses Zusammenspiel als Tatsache gegeben ist — jedes rationale Programm dieselben Dienste geleistet hätte, wie dieses besondere; welche Macht in demselben schlummert, die es zum einzig zweckmäßigen Äquivalent für Dostojewskis Kunst prädestinierte. Die Frage wird für uns sofort und nur dann aktuell, wenn wir nicht an die Parthenogenese des Kunstwerks glauben — was wir schon deswegen tun dürfen, well wir sie nirgends, im ganzen Verlauf der Kunstgeschichte beobachten können — und der Inpiration nur dies zutrauen: dass sie eine lebendige Fülle in die günstigste Situation der Aussprache emporhebt, welche jedoch nicht Imstande ist, diese Fülle irgendwie in ihrer Bedeutung zu verändern, nur befähigt, ihr eine neue Erscheinungsform zu geben. Wenn wir dadurch unser Urteil auf das Werk und seine Vorbereitungsaktion verteilen, so erwächst uns daraus nicht nur eine neue Verpflichtung, sondern auch eine neue Hilfe, um uns in unserer Haltung zu dieser Persönlichkeit zu orientieren.

Dostojewski hat sich nach beiden Richtungen hin ausgelebt und es lässt sich ohne genauere Untersuchung nicht einmal unterscheiden, nach welcher mit größerer Intensität. Nach seinen eigenen Worten zu schließen, wonach eine journalistische, den Zwecken des Tages gewidmete Tätigkeit höher zu werten sei als das höchste Kunstvermögen, sollte man eigentlich den Politiker in den Vordergrund stellen. Es ist ein charakteristischer Zug seines Wesens, dem er viel Zeit und Kräfte opferte: die Prophetenrolle, die Pose des politischen Agitators, Propagandisten, und es ist nur der wunderbaren, unfehlbaren Ökonomie, die ihm angeboren war, zuzuschreiben, wenn die Kraftverschwendung schließlich seiner schöpferischen Anspannung zugute kam. Wenn man Goethes Reisen und Abenteuer mit der Entwicklung und Aufeinanderfolge seiner ästhetischen Perioden verknüpft, der „Iphigenie“, dem „Tasso“, dem ,,Faust“ beinahe die Entschlussfähigkeit praktischer Erwägungen zuschreibt, sind alle Irrfahrten des Dichters des „Raskolnikoff“ und der „Dämonen“ von Faktoren politischer Art beeinflusst. Sie greifen entscheidend in sein Leben ein und überwuchern schon durch ihre praktischen Folgen alle anderen Motive in einem so ausgiebigen Maße, dass sich die dichterische Tätigkeit nur daneben zu entwickeln scheint, von kurzen Augenblicken des Atemholens ein unordentliches Dasein fristend. Die politischen Unterströmungen üben einen so konkreten Zwang aus, wie die materiellen Verhältnisse, die Geldsorgen, mit denen sich der Dichter herumschlagen muss und die in der Vorgeschichte seiner Werke immer eine große Rolle spielen. Aus solcher Nähe wäre man geneigt, die verschiedensten Erregungsmomente seinem ästhetischen Erleben voranzustellen. Es kommt hinzu, dass zwischen den objektiven Werten, welche den Dichter beschäftigen und der Anlage des Werkes stets deutliche, sichtbare Spuren laufen, dass man dieselbe Verteilung von Spiel und Gegenspiel, dieselbe Abstufung der Massen herausfühlt. Es ist wahr: von der Idee „Mensch“ bis zum einzelnen Menschen kann unter Umständen die Distanz um so größer sein, je größer der Eigenwert der Idee ist, und ein abstraktes System (Nihilismus, Orthodoxie) ist imstande, den Weg zur Erscheinung vollkommen zu versperren; besonders dann, wenn noch eine praktische Zielsetzung hinzukommt, um die Gefahr der Fälschung, die in jeder Verallgemeinerung liegt, zu verstärken. Bei Dostojewski haben wir jedoch oft genug die Empfindung, dass er ohne die Abstraktion die Erscheinung nicht gefunden hätte und dass er es nicht zuletzt dem Kampf des Alltags zu verdanken hat, dass ihn die Idee nie befriedigte, dass sie sich niemals wie ein unüberwindlicher Damm jenem Lebensstrom entgegenstellte, der Form und Fülle seiner Werke nährt, sondern ihm bald wie ein Sammelbecken diente, bald wie eine Klippe, welche die träge Woge in Strudel und Wirbel teilt, in tönendes Rauschen, in Schaum und Gischt verwandelt; dass er die Idee nie in einer unpersönlichen Sphäre erlebte, sondern stets in Verbindung mit seiner Gestaltungskraft, die von seiner persönlichen Not den federnden Schwung erhielt.

Wenn schon die großen affektiven Komplexe, die jeder der damals wirksamen Begriffe aus dem Organismus des Dichters und dem Organismus der Welt, auf die er wirken wollte, herausreißt und hinter sich herschleift, ihre hohe Bedeutung und das Verantwortungs- und Verpflichtungsgefühl, das Dostojewski in sie hineinlegt, unsere Aufmerksamkeit alarmieren, so müssen wir doch vor der Aufstellung einer zu engen Beziehung warnen, welche jede Phase seines sozialen Gewissens als eine legitime Brücke zum Werke betrachten möchte. Dass Dostojewski die Überzeugung hegte, durch seine Romane die Stichhaltigkeit seiner Anschauungen zu beweisen und etwa Programm und Werk als Mittel und Zweck abstufte, lässt sich schon nicht ohne Widerspruch behaupten. Der Vergleich ist nur möglich, wenn wir die Frage: ,,wie stelle ich mich zu dieser Welt?“ als die Voraussetzung jener anderen betrachten: ,,wie wirke ich auf diese Welt?“ Werk und Gesinnung dienen vor allem jenem ersten Ziel, unterscheiden sich aber darin, dass in jenem die Richtung nach innen, in dieser die Richtung nach außen stärker betont wird. Deshalb könnte nur unter besonders glücklichen Umständen die Wirkung auf uns dieselbe bleiben; treffen diese nicht zu, so erwächst uns zuerst die Aufgabe, zu untersuchen, welche Phase hüben und drüben der Brücke als Pfeiler dienen können, selbst wenn wir wissen, dass der Dichter selbst gelegentlich die widerspruchslose Abhängigkeit konstruieren wollte und gegen Ende seines Lebens immer öfter darauf zurückkam. Auch dass sein Publikum das Zweckhafte auffing, braucht uns kein Beleg zu sein. Denn wir können um so leichter mit einem Missverständnis der Umgebung rechnen, als wir sehen, dass die historische Entwicklung jener Zwecke oft Dostojewski übersprang, gleichsam auf seine Mithilfe verzichtete und nur ziemlich spät auf ihn zurückgriff. Da das allgemeine Geschehen durch ihren Drang und Willen beherrscht wurde, hatte es ihr schlechtes Gedächtnis zur Folge, dass der Dichter eine ziemlich lange Periode hindurch in seiner Heimat weniger verehrt wurde, als man es erwarten würde, und einige ehrliche Leute behaupten, sie hätten, wie so vieles andere, auch Dostojewski vom Westen bekommen — zurückbekommen. Die Feststellung, ob er es glaubte, ist weniger wichtig, als die Untersuchung, ob es den Tatsachen entspricht, ob wir in seinen Werken den unmittelbaren Ausfluss seiner politischen Anschauungen antreffen, so dass wir eventuell diese durch jene ohne Korrektur ergänzen, erklären, ausbauen könnten, oder umgekehrt: die symbolische Bedeutung einer Gestalt, einer Situation durch den Vergleich mit dem politischen Schema aufdecken, ob die bewusste Ökonomie, welche der Dichter in das Weltgeschehen proiziert, überall mit jener übereinstimmt, die uns seine Vision offenbart. Ob die Übereinstimmung nur so weit geht, dass nur die Disposition von Spiel und Gegenspiel beibehalten werden kann, oder noch weiter? ob das System von Licht und Schatten direkt aus dem metaphysischen Weltbild ins Werk übergeht, oder Stationen passiere, die ihm eine Bedeutung nehmen, um ihm eine andere mitzugeben, welche die Strahlenschwingungen um einen oder auch mehrere Grade polarisieren, Durchgangspforten, die nicht nur von einem ästhetischen Gleichmaß wissen, sondern Erkenntnisse offenbaren, die sich ihrerseits rationalisieren lassen?

Wenn wir unvoreingenommen an das Werk herantreten, können wir Manches beobachten, was uns empfehlen muss, eine weitmaschigere Verknüpfung vorauszusetzen und wenigstens einige — einige von den auffallendsten — Zwecken des Politikers von der Wirkung seiner Dichtung zu trennen. Dostojewskis soziales Gewissen hat Wandlungen und Stürme durchgemacht, deren Kurven sich zwar nach einer sinnvollen organischen Absicht entfalten, die jedoch an vielen Stellen den architektonischen Plan, auf dem seine Symbole ruhen, durchkreuzen und verwirren. Von vornherein können wir jedoch konstatieren, dass die Verwirrung nicht von jenem großen Umschwung stammt, der die Peripetie seiner politischen Laufbahn bezeichnet — die Katorga — etwa in dem Sinne, dass wir den Dichter nach seiner Haltung in der ersten Penode erklären, den Propagandisten aus der zweiten. Denn gerade die Gruppierung um diesen kritischen Moment beweist, dass die Beziehung zwischen den beiden Komplexen zwar eine bedingte, aber doch eine in allen Bedingungen gesetzmäßige sein muss. Dostojewski fühlte sich als Träger der Wahrheit, die alle seine Kräfte anspannte und ihn zu seiner Tat befähigte, erst nach den Prüfungen, denen seine Seele und sein Körper in Sibirien unterzogen wurden; erst nach diesem Erlebnis fand er die große Dimension, die er für die Entfaltung seiner Gestaltungskraft brauchte, ebenso wie er erst nach diesem Erlebnis jenen Gedanken nachgeht, die uns zur Präzisierung seiner politischen Haltung dienen. Dieses durchaus einmütige, gleichzeitige Erwachen seiner Fruchtbarkeit und Sicherheit, die beiden Zweigen seiner Tätigkeit zugute kommen sollte, ist uns ein Zeichen, dass auch in ihrer weiteren Entwicklung ein Verhältnis der gesetzmäßigen Wirkung und Gegenwirkung herrschen wird, sogar ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit. Die großen Linien dieser fatalen Ökonomie wiederholen sich immer wieder in dem Sinne, dass sich die Konzeption nur dann einstellt, wenn Dostojewskis Bereitschaften eine bestimmte rationale und praktische Vorarbeit durchgemacht haben.

Dass trotzdem eine Distanz herrschen muss zwischen den Niederschlägen seiner sozialen Leidenschaftlichkeit und ihrer endlichen Symbolisierung, können wir auch aus einer allgemeinen Erwägung entnehmen. Bestünde sie nicht, so müsste die Situation eintreten, dass wir in dem Augenblick, da wir Dostojewskis Weltanschauung in wesentlichen und wichtigen Teilen ablehnen, als falsch, überlebt, unzweckmäßig erkennen, auch seine künstlerischen Leistungen als unzweckmäßig und unecht empfinden müssen. Sonst gerät unsere Gewissenhaftigkeit in eine Zwickmühle, aus der es keine legitime Rettung gibt, wenigstens ohne arge Verluste unserer gesunden Empfindung. Gegen Dostojewski als Dichter müssen wir genau so viel Vorurteile haben, wie gegen den Politiker, wenn uns dieser durch seinen Tonfall oder durch seine Formeln abstößt, wenn wir irgend etwas Grobkörniges und Stumpfes an ihm entdecken, das nicht dem Niveau unserer Instinkte entspricht, und in der Vorgeschichte keinen Punkt angeben können, der den Ballast übernimmt; trotz der Metamorphose zum Kunstwerk müsste sonst der Gefühls- und Ideengehalt derselbe bleiben, dieselben Spitzen bei behalten, die wir als eine gefährliche und unsympathische Aggression empfinden, dieselben Hintergründe und Kavernen, aus denen uns dieselben Miasmen entgegenhauchen. Was hier als Rückschritt und Tod in die Erscheinung tritt, kann dort nicht belebend wirken, was uns hier belästigt, kann uns dort nicht erziehen. Wir können von Dostojewskis Kunst keine Befruchtung für die Zukunft erhoffen, wenn wir seine Gedanken als eine falsche Deutung des historischen Geschehens entlarven. Dass wir alle Veranlassung haben, uns mit Dostojewski über das Thema klar auszusprechen und dass er uns die Aufgabe nicht leicht macht, brauchen wir nicht besonders hervorzuheben. Wir berufen uns auf dieselbe Veranlassung, welche zu wiederholten Malen einige flinke Beine den Sprung vom Leben zum Werk wagen ließ, der früher so schwer schien und zu dem sie sich oft erst den Mut bei dem Geiste holten, den sie bekämpfen wollten; mehr als einmal wurden uns mehr oder minder geschlossene Beweise über die Widersprüche hüben und drüben auf die Tafel gezeichnet und wir wurden aufgefordert, dort zu hassen, wo wir lieben müssen. Man hat uns nicht überzeugt. Dem Ernst der Sache zuliebe, der durch halbe Worte nur geschadet wird, treiben wir die Situation auf die Spitze. Der Politiker hat des Zweideutigen, Verdorbenen, Unreinen und, was das Ärgste ist, des Dilettantischen genug, um uns stutzig zu machen. Aber trotzdem können wir uns mit dem Problem nur abgeben, wenn wir es in dieser einfachsten Form stellen, die zugleich seine schärfste und aufrichtigste ist: wenige von uns dürften, wenn sie das aktuelle Vorurteil ablegen, es nicht als empirische Wahrheit gelten lassen, dass der große Russe zu den Unsterblichen gehört, wie irgendein Künstler, der vor Jahrtausenden schuf und den wir heute noch Heben und morgen nicht weniger lieben werden — und zwar der lebendigsten, gewaltigsten, jugendlichsten einer, von dessen Wirkung das Schicksal unseres ureigensten Kunsterlebens in einem Maße abhängt, wie wir es noch kaum angeben können ; wie würde sich das mit dem Umstand reimen, dass einige wichtige Prinzipien seines politischen Weltbildes ein halbes Jahrhundert, nachdem es in ihm wirksam war, nicht nur rational überwunden, sondern durch den Genius der Weltgeschichte widerlegt, durch den Hammer der Wirklichkeit zerschlagen wurden! Dieses Weltbildes, von dessen Anerkennung wir die Lebensfähigkeit seiner Kunst abhängig machen, weil wir in beiden dieselbe Tragweite, denselben Atemzug verspüren?


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Dostojewski – Zur Kritik der Persönlichkeit