Wachstum

Nachdem wir die Merkmale der einzelnen Stadtteile festgestellt haben, erübrigt es noch, einiges über deren Entstehung zu bemerken.

Die Reihenfolge, in der wir die Stadtteile behandelt haben, ist im wesentlichen die, in der sie zeitlich entstanden sind. Den ältesten Teil der Stadt bildet die alte Fischeransiedelung oder, wo diese nicht vorhanden, die deutsche Kolonisationsgründung, die je später entstanden desto regelmäßiger ist. Machte sich eine weitere Vergrößerung der Stadt nötig, so geschah die Besiedelung etwa vorhandener Inseln (Hamburg und Danzig) oder auch eine zweite und dritte Anlage des ostdeutschen Normalplanes. Damit hatte die Stadt im allgemeinen die Gestalt der jetzigen inneren Stadt erreicht; die nächstältesten Stadtteile sind die alten Vorstädte, und an diese schließen sich die modernen Erweiterungen an, unter deren Zeichen das Wachstum der Städte in der Gegenwart steht.


Von dem Wachstum im einzelnen, von dem allmählichen Weitergreifen der Siedelung sich ein klares Bild zu machen, ist, besonders soweit es die ältere Zeit angeht, verhältnismäßig schwierig, aber doch lassen sich für dasselbe bei Vergleichung mit älteren Plänen einige allgemeine Gesetze aufstellen.

Wir haben erwähnt, dass die erste Ansiedelung immer am Rand einer Höhe entstand; die erste Bewegung der Stadt scheint nun ein Fortschreiten nach der Flussniederung bis an den Stromrand gewesen zu sein. Hamburg dehnte sich während der ersten Jahrhunderte seines Bestehens bis an die Elbe aus, dann erst begann sein Wachstum nach Norden und Osten. Lübeck wuchs von dem mittleren höchsten Teil des Werders nach den Niederungen der Trave und Wakenitz zu. Schon Stettins Slawensiedlung stieg vom Abhang nach der Oder nieder, und seine Wieken am linken Oderufer werden als die ersten Vorstädte der deutschen Stadt genannt. Ebenso befindet sich die erste Anlage Königsbergs zwischen der Ordensburg und dem Pregel. - Dies Bestreben, dem Wasserverkehr möglichst nahe zu kommen, bedingt natürlich in der Gegenwart erst recht das Wachstum unserer Seestädte. Den allgemeinen Ausdruck dafür finden wir in der oben festgestellten größten Längsausdehnung der Siedelung in der Richtung der Wasserkante, einzelne besonders deutliche Beispiele in dem Herumwachsen Kiels um die Förde und der immer dichter werdenden Kette industrieller Vororte Stettins am linken Oderufer. (Vgl. Fig. 5.)

Das Wachstum an den dem Strom nicht zugewandten Seiten geschieht einem fast in allen Städten der Welt sich wiederfindenden Gesetze gemäß strahlenförmig am Rande der wichtigsten Verkehrsstraßen. Erst nachdem diese mit einer ziemlich langen Zeile von Häusern besetzt sind, beginnt sich der Winkel zwischen ihnen auszufüllen, immer aber sind sie der geschlossenen Stadtmasse um einige hundert Meter in der Bebauung voraus.

Für unsere Städte ist dies Gesetz vielfach besonders zwingend. Als Handelsstädte hatten sie vor allem dafür Sorge zu tragen, dass sie durch gute Straßen mit ihrer Umgebung verbunden waren; da sie aber immer wenigstens auf einigen Seiten von sumpfigem Terrain umgeben sind, mussten dieselben oftmals auf künstlichen Dämmen angelegt werden. Von diesen Straßen nimmt nun der Vorstadtbau aus mehreren Gründen seinen Ausgang. Einmal geschah die Bebauung niedrigen, weichen Landes am besten im Anschluss an den festen Damm. Sodann lockten jene Straßen an sich wegen des auf ihnen herrschenden regen Verkehrs zur Bebauung mit Herbergen, Warenhäusern und schließlich auch Wohnungen. Endlich lässt ein dritter Umstand diese Chausseen auch in der Gegenwart, in der ihre Bedeutung als Handelsstraßen geringer geworden ist, einen starken Einfluss auf das Wachstum der Städte ausüben. In unserer Zeit der schnellen Verkehrsmittel werden sie bald von Straßenbahnen durchzogen, die von der Stadt nach Orten ihrer nächsten Umgebung führen. Dadurch ist vielen Einwohnern, die in der inneren Stadt beschäftigt sind, Gelegenheit geboten, außerhalb derselben billiger und gesünder zu wohnen. Da aber für sie schnelle und bequeme Verbindung mit der Stadt Hauptbedingung bleibt, so werden die Wohnungen direkt an der Straße am meisten gesucht sein, Grund genug, um die Bebauung an deren Rändern erst möglichst weit zu führen, ehe man nach den Seiten abweicht. Das Resultat dieser Umstände sehen wir in den oben besprochenen strahlenförmigen Gebilden der Stadtumrisse.

Im einzelnen werden wenige Belege für das Gesagte genügen. Der Anbau der Bremer Vorstädte begann an den alten Land- und Handelsstraßen, und zwar am dichtesten am Stephani-, Ostertor- und Buntentorsteinweg. Auf dem dazwischen liegenden Areal befanden sich noch lange Bauernhöfe, Kohlhökereien, Bleichen, Gärten, Lusthäuser, Vergnügungslokale*). Die von Hamburg aus im Anfang des 19. Jahrhunderts nach allen Richtungen erfolgte Anlage von Kunststraßen wirkte auf den Anbau von Vorstädten außerordentlich fördernd ein**). Lübeck hat drei natürliche Zugänge: im Norden, Süden und Westen, wo kleine diluviale Erhebungen bis dicht an die die Stadt umgebenden Gewässer heranziehen. Seit alters münden an diesen drei Stellen Landstraßen, und an diese hat sich die Entwicklung der drei Lübecker Vorstädte, St. Gertrud, St. Jürgen und St. Lorenz angeschlossen***). (Vgl. Fig. 4.)

*) Buchenau, Bremen, S. 91.
**) Vgl. Hamburg und seine Bauten, S. 42 u. Hamburg, Histor. topogr. u. baugesch. Mitteil., herausgegeben vom Architektenverein zu Hamburg, S. 42.
***) Vgl. Die Freie und Hansestadt Lübeck, S. 22.


Was die Entstehung der oben besprochenen deutschen Gründungsanlage anbetrifft, so wird dieselbe in der Regel von zwei Mittelpunkten, vom Markte und von der Kirche, oft auch von einem dritten, der landesherrlichen Burg aus begonnen haben. Diese Gebäude entsprechen den Hauptinteressen der damaligen Bewohnerschaft, dem Verkehr, der Kirche und der Sicherung in Kriegsgefahr. Da ja aber die ganze Anlage vorher genau festgelegt und eine willkürliche Abweichung von dem Plane durch die Behörden verhindert wurde, und da außerdem eine solche Ansiedelung meist sehr schnell in die Höhe wuchs, so hat sie einen außerordentlich gleichmäßigen Charakter, der meist keine Unterschiede in Bezug auf früher oder später erkennen lässt. Nur ein Beispiel können wir für unsere Vermutung anführen; dieses aber zeichnet sich dafür durch ausgesprochenste Deutlichkeit aus. Es ist uns gegeben in Lübeck, bei dessen Gründung, wie wir wissen, der Normalplan in freierer Weise angewandt wurde. (Vgl. Fig. 11.) Vom Lübecker Markt ziehen sich die Breite- und Königsstraße nach Norden; sie verbreitern sich mit ihrer Entfernung vom Markte immer mehr; daraus ergibt sich, dass die dem Markte zunächst liegenden Straßenteile zuerst entstanden sind; denn erst später sah man den Nutzen breiter Straßen ein. Plötzlich aber verengern sich beide Straßen wieder ganz bedeutend, nämlich an der Stelle, wo sie auf die von der Burg her gewachsenen Teile stoßen. Auch die vom Scheitel des Werders nach der Trave und Wakenitz hinabziehenden Straßen nehmen nach unten immer mehr an Breite zu, zum Zeichen, dass sie von der Höhe nach der Niederung zu wuchsen. Der südliche, den Dom umgebende Stadtteil aber ist der hohen Abgaben wegen, die die Kirche von ihren Umsassen forderte, am spätesten entstanden und zeigt deshalb durchweg breitere Straßen*). Eine deutlichere Schrift kann sich der Geograph kaum wünschen. Ein solches Wachstum vom Markte aus nimmt Armstedt auch für die Gründungsstadtteile Königsbergs an**). In Danzig lassen die südliche Vorstadt und der nördliche Teil der Altstadt durch längere und breitere Straßenzüge erkennen, dass sie, obgleich nach demselben Prinzip (eben nach jenem Normalplan), so doch später als die Rechte Stadt entstanden sind. (Vgl, Fig. 14.)

*) Vgl. Dr. W. Brehmer, Beiträge zu einer Baugeschichte Lübecks; 1. Gründung und Ausbau der Stadt. Zeitschr. des Vereins für Lüb. Gesch. u. Altert., Bd. V S. 130.
**) Armstedt, Königsberg, S. 27.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die wichtigsten deutschen Seehandelsstädte