Geographisch interessante Straßennamen

Straßennamen sind in zwei Fällen geographisch interessant. Einmal, wenn ihre Träger eine bestimmte Lage innerhalb der Stadt aufweisen, die mit topographischen oder sozialen Verhältnissen zusammenhängt, und sodann, wenn sie selbst frühere oder noch vorhandene Merkmale des Stadtbodens, der Stadtgrenzen, der Zusammensetzung und Beschäftigung der Bevölkerung u. s. w. angeben. Aber auch diese geographisch interessanten Namen können hier nicht alle einzeln aufgezählt und erklärt werden, sondern wir werden nur die wichtigsten, nach verschiedenen Klassen geordnet, betrachten. Da die meisten derselben in allen oder wenigstens in der Mehrzahl der hier in Rede stehenden Städte vorkommen, wird es nur ausnahmsweise des Hinweises auf eine bestimmte einzelne Stadt bedürfen.

In den modernen Stadtteilen finden wir den größten Teil der Straßen nach den Namen „berühmter Männer“ benannt, ein Verfahren, das dem Mittelalter vollständig fremd war. Wenn in jener Zeit eine Straße nach einer Person genannt wurde, so galt die Bezeichnung dem Besitze, den der Betreffende an ihr hatte, nicht seinem Ruhme*). Dagegen hat das Mittelalter einige Arten von Straßennamen, die heutzutage nicht mehr oder nur noch selten angewandt werden. Es sind einmal die von gewissen Gewerken und Berufsklassen hergeleiteten Namen und sodann solche, zu denen wichtige Gebäude, topographische Verhältnisse des Geländes, besondere Merkmale der Straße selbst die Veranlassung gaben. Die Namen der ersten Gattung können heute nicht mehr angewandt werden, weil sie einer Art des Wohnens entsprechen, die jetzt nicht mehr möglich ist. Dagegen lässt sich der geringe Gebrauch derjenigen der zweiten Art nicht so leicht rechtfertigen. Wenn natürlich auch nicht alle die zahlreichen neuentstehenden Straßen einer modernen Großstadt nach den oben bezeichneten Merkmalen benannt werden können, häufiger als dies jetzt geschieht, wäre es vielleicht doch möglich, und für manche Straße ließe sich wohl ein bezeichnenderer Name finden als der einer Persönlichkeit, die vielleicht noch dazu in gar keiner näheren Beziehung zur Stadt steht. Gar nichts kann man sich in der Regel bei Straßenbezeichnungen denken, die nach Vornamen gewählt sind. Im Gegensatz dazu haben die alten, meist durch den täglichen Gebrauch im Volksmunde entstandenen Straßennamen viel Anziehendes und in ihrer Eigenschaft als Urkunden häufig auch einen größeren praktischen Wert.


*) v. Below, Das ältere deutsche Städtewesen und Bürgertum, S. 39.

Den mit Eigennamen gebildeten Straßennamen am meisten verwandt sind diejenigen, die auf bestimmte Stände und Berufsklassen zurückzuführen sind. Wie erwähnt, waren die Uransiedelungen Bremens, Hamburgs, Stettins, Danzigs Fischerdörfer, und auch da, wo die erste Anlage aus strategischen oder kommerziellen Gründen geschah, bildeten doch die Fischer naturgemäß von Anfang an einen wichtigen Bestandteil der Bevölkerung, darum finden wir in unseren Seestädten wenigstens eine von den in der Nähe des Wassers führenden Straßen als Fischerstraße, Fischergang, Fischergrube, Fischertwiete *) nach jener Zunft benannt.

Die Bevölkerung der eigentlichen deutschen Stadt setzte sich hauptsächlich aus drei Elementen zusammen, aus Beamten, Kaufleuten und den für die Bedürfnisse beider nötigen Handwerkern.

Während die Wohnungen der Kaufleute in allen Gegenden der Stadt, größtenteils aber am Markte und in der Nähe des Stromes lagen, siedelten sich die beiden anderen Klassen, einem schon angedeuteten Zuge des mittelalterlichen Geistes entsprechend, gesondert an; ja, die Vertreter der einzelnen Handwerke, die einzelnen Gilden wohnten wieder zusammen in bestimmten Straßen, die dann von ihnen ihren Namen erhielten. Ein solches Zusammenwohnen der Handwerker war natürlich nur bei den damaligen geringen Ausdehnungen der Ansiedelung möglich.

Die Beamten waren entweder Träger der landesherrlichen Gewalt oder Diener der Kirche. Die ersteren wohnten in der Nähe des Schlosses, das meist an der Peripherie der Stadt lag; die von ihnen bewohnte Straße führt heute noch den Namen Junkerstraße (Stettin, Königsberg) oder Ritterstraße, in Bremen finden wir auch eine Oberenstraße. Die Geistlichen siedelten sich in der Umgegend der Gotteshäuser an, daher dort in allen Städten eine Pfaffenstraße oder ein Papengang. Mehr am Rande der alten Stadt liegen die Mönch- und Nonnenstraßen, die ihren Namen erhielten von der häufigen Benützung durch die Bewohner der meist in der Nähe oder außerhalb der Mauer liegenden Klöster. Auch bei den nach Gilden genannten Straßen kann nur insofern von einer bestimmten Lage die Rede sein, als einige von ihnen immer am Rande der alten Stadt zu suchen sind; so gilt dies von den Straßen, die nach der gerade in den deutschen Seestädten stark vertretenen und angesehenen Gilde der Weber, Wollweber, auch Tuchmacher oder Wandbereiter benannt sind, wahrscheinlich, weil ihre Bewohner zum Ausspannen des fertigen Tuches viel Platz brauchten, der sich immer am ehesten noch in der Nähe der Mauer fand. Dort liegen auch die Straßen derjenigen Gewerke, „deren Betrieb das Ohr oder die Nase belästigte“ **), z. B. die Böttcher-, Schmiede-, Gerberstraße und die nach den verschiedenen Zweigen des Fleischerhandwerks benannten Fleischer-, Knochenhauer-, Schlachter- oder Küferstraßen. Gerber- und Fleischerstraßen verbinden aus naheliegenden Gründen nicht selten mit der Randlage die Lage in der Nähe eines fließenden Wassers.

*) Twiete ist ein Weg, der in der Breite zwischen Straße und Gang ungefähr die Mitte hält. F. H. Neddermeyer, Topogr. der Freien und Hansestadt Hamburg, S. 197.
**) Lemcke, Stettiner Straßennamen, S. 6.


Vor der Mauer fast jeder Stadt findet sich eine Reepsläger- oder hochdeutsch Reifschlägerstraße. Die Reifschläger — reeper — verfertigen die großen Schiffstaue und vertreten ein nur in den Seestädten heimisches Gewerbe.

An die Rolle, die niederländische Kolonisten vor Zeiten in den deutschen Seestädten gespielt haben, erinnern uns Namen wie Holländergang, Holländerbrook, Holländer Reihe, auch Gröninger (Hamburg) und Flämische Straße (Kiel), alles Bezeichnungen, die wir immer in der niederen Stadt, gewöhnlich am Stromrand zu suchen haben.

Eine zweite Gruppe von Straßennamen hat ihre Ursache in der Beziehung ihrer Träger zu bestimmten Gebäuden. Die zahlreichen in jeder Stadt wiederkehrenden Straßen, die nach Kirchen, Klöstern, nach dem Schloss oder Rathaus genannt sind, und die hinsichtlich ihrer Lage immer an diese Gebäude gebunden sind, seien hier nur erwähnt. Charakteristisch aber ist die Lage der Mühlenstraße, und zwar finden wir diese wieder am Rand der alten Stadt oder wenigstens auf diesen zulaufend, denn die Mühlen standen entweder als Windmühlen auf den Befestigungsdämmen, wo der Müller den Wind aus erster Hand hatte, oder sie lagen als Wassermühlen da, wo der Mühlbach in die Stadt eintrat*).

*) Deshalb sind auch außerhalb der Stadt gelegene alte Windmühlen oft ein Zeugnis für einen räumlichen Rückgang derselben, so bei dem Städtchen Demmin. Vgl. Stolle, Beschreibung und Geschichte der uralten Stadt Demmin. S. 40.

Wie die Reifschlägerstraße, so ist auch einer der wenigen Namen, die an das Verkehrsleben jener Zeit erinnern, eine Spezialität der deutschen Seestädte. Es ist die Bezeichnung „Lastadie“, die wir als Namen für eine dicht am Strom liegende Straße in Königsberg; und Danzig, für einen ganzen Stadtteil am niedrigen rechten Oderufer in Stettin angewandt finden*). Das Wort bedeutet Laststätte und bezeichnet einen Ort, wo Ballast, das ist schlechte Last geladen oder gelöscht wurde**).

*) Auch die I. Wallstraße Lübecks hieß früher „kleine Lastadie“. Dr. W. Brehmer, Beiträge zu einer Baugesch. Lübecks. Zeitschr. d. Ver. f. Lüb. Gesch. etc. Bd. V S. 228.
***) Die Form Lastadie mit dem Ton auf der letzten Silbe ist falsch. Wahrscheinlich ist sie ein Überbleibsel aus der Franzosenzeit, in der das lateinische lastadia in das französische lastadie umgewandelt wurde, eine Form, die sich erst bei den Gebildeten und allmählich auch bei dem Volke Eingang verschaffte. (Mitteilung des Herrn Oberlehrer Dr. Wehrmann in Stettin.) Vgl. auch Lemcke, Stettiner Strafsennamen, 8.45 und Berghaus, Stettin 1 S. 220.



Am interessantesten sind dem Geographen die Straßennamen, in denen Hinweise auf die Beschaffenheit des Stadtbodens, auf die früheren Grenzen der Stadt oder besondere Merkmale der Straßen selbst gegeben sind. Beginnen wir mit den Namen der letzteren Art. Bezeichnungen wie „breite Straße“, „lange Gasse“, „krummer Weg“, deren Veranlassung meist noch heute deutlich wahrnehmbar ist, und die wir überall, besonders in der deutschen Ansiedelung wiederfinden, erklären sich vollständig von selbst.

Ein fast allen deutschen Städten des Nordens gemeinsamer Straßenname ist die Bezeichnung Faulenstraße (das ist schmutzige Straße) oder Fuhlentwiete; sie erinnert uns an den außerordentlich schlechten Zustand, in dem sich die Wege der mittelalterlichen Städte überhaupt befanden*), und es musste schon hervorragende Unreinlichkeit sein, die einer Straße den obigen, wenig ehrenvollen Namen eintrug.

Dagegen wurden die alten Landstraßen als Kunststraßen verhältnismäßig gut gepflegt und immer bis an das äußerste Ende der Vorstadt gepflastert, weswegen wir immer wenigstens eine, meist aber mehrere derselben als Steinweg oder Steindamm bezeichnet finden**), während die anderen nach den nächsten an ihnen liegenden größeren Ortschaften genannt wurden. Endlich seien hier noch einige interessante einzelne Fälle aufgezählt, in denen Straßen ihre Benennung der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung verdanken. Sackgassen sind in Hamburg und Danzig als „Kehrwieder“ bezeichnet. „Hühnerbeingasse“ heißt in Stettin die früher nach Art eines Vogelbeines zweimal gebrochene***), jetzt gerade gelegte Straße, die vom Fischmarkt nach der Oder führt, „Wegesende“ ist heute noch eine Straße Bremens, die in den ältesten Zeiten aus der Stadt hinausführte, bei Errichtung der ersten Mauer aber verschlossen wurde. „Kneipab“ heißt das außerhalb der Befestigung liegen gebliebene Stück der Langgartenstraße in Danzig, „Brandsende“ die Straße in Hamburg, an welcher der große Brand im Jahre 1842 sein Ende nahm****).

*) Näheres darüber siehe in Lamprecht, Deutsche Geschichte Bd. IV S. 225.
**) Vgl. die drei Steinwege Leipzigs. Die in Rede stehenden Hauptwege hießen innerhalb der Stadt „Gassen“, in den Vorstädten häufig „Steinwege“ außerhalb der Stadt „Straßen“.
***) Plan von Stettin aus dem Jahre 1866 (Verl. von Nagel).
****) Gaedechens, Topographie Hamburgs S. 245.


Die oben besprochenen, für das genetische Verständnis des Stadtbildes so wichtigen Straßen, die an Stelle früherer Befestigungen liegen, würden oftmals in ihrer Beziehung zur Stadtgrenze kaum noch zu erkennen sein, wenn uns nicht ihre Namen dabei zu Hilfe kämen. Diese sind immer zusammengesetzt mit Bezeichnungen wie Wall, Damm. Graben, Schanze, Mauer oder Mühre, Bollwerk, Hagen (Gehege).

Die Lage der norddeutschen Seestädte am Rande zwischen Höhe und Niederung kommt in den Straßennamen dadurch zum Ausdruck, dass vom Abhang der ersteren fast immer eine meist etwas gewundene „Bergstraße“ in die Unterstadt führt. Aus naheliegenden Gründen finden wir in derselben Gegend die Brunnen- oder Borngassen und die Straßen „Bei den Pumpen“. Oft wurden diese Straßen in den nach der Flussaue laufenden Tälern angelegt und hießen dann Gruben, wie die zahlreichen Gruben Lübecks.

Außerordentlich zahlreich sind die Straßennamen, die bekunden, dass ihre Träger — fast ausnahmslos Straßen der alten, inneren Stadtteile — erst lange Zeit nach der Gründung der Stadt entstanden sind, und dass an deren Stelle noch lange Wald, Weide, Gärten oder gar Gewässer sich befanden. An stehende Gewässer erinnern die Teich- und Poolstraßen; an Sümpfe Namen wie Poggenpfuhl, Poggenmühle, Poggenburg, Adebargasse*); an fließende Gewässer die Bezeichnungen Depenau (Hamburg und Lübeck), Kiesau (Lübeck), Mühlbach (Kiel). Dass nicht nur unmittelbar vor der Stadt, sondern auch innerhalb derselben, besonders in solchen Gegenden, die der Überschwemmung ausgesetzt waren, lange Zeit große Wiesenflächen bewahrt blieben, bezeugen die Wiesen- und Weidenstraßen, die Straßen an der Koppel, Große Bleichen u. s. w. Das Andenken an den früher vom Hamburger Berg bis in die jetzige innere Stadt hereinreichenden Wald lebt fort in der Straße, die den Namen Eichholz führt**). Von dem ehemaligen Gartenreichtum der noch nicht übervölkerten Städte reden Namen wie Gartenstraße, Langgarten und Rosengarten; von diesen ist der letztere besonders bemerkenswert. H. Lemcke sagt darüber in dem mehrfach erwähnten Aufsatz über die älteren Stettiner Straßennamen S. 21: „Nicht bloß bei Städten, sondern auch bei Dörfern findet sich häufig in der Nähe eine Gartenanlage oder ein Gehölz, das als Stelldichein verliebter Seelen aufgesucht wurde, auch in der Poesie vielfach besungen ist. Diese Gehölze heißen Rosengärten oder haben einen ähnlichen poetisch anmutenden Namen, wie Rosenthal, Rosenbusch u. a. Oft finden sich die Rosengärten auch innerhalb der Stadt, dann natürlich in der Nähe der Stadtmauer, denn für Gartenanlagen und dergleichen war nur dort Platz“.

*) Pogge = Frosch, Adebar = Storch.
**) In der südwestlichen Ecke der Neustadt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die wichtigsten deutschen Seehandelsstädte