Anhang

Die oben besprochenen modernen Veränderungen im Straßennetz, die zu Gunsten des Verkehrs geschahen, sind in anderen Beziehungen zu bedauern. Der Geograph und der Historiker werden beklagen, dass jene Städte durch die Nivellierung des Bodens, durch die Geradlegung der Straßen und die dadurch veranlasste Niederreißung alter Gebäude viele Merkmale ihrer natürlichen geographischen Verhältnisse und ihrer historischen Vergangenheit, dass sie ein gutes Stück ihrer lokalen und nationalen Sonderheit damit einbüßen. Ebenso ist vom Standpunkt der Ästhetik aus die Erhaltung der alten malerischen Straßen wünschenswert. Darum haben denn auch in der Gegenwart viele Stimmen, besonders aus Architektenkreisen gefordert, dass solche Veränderungen nur dort stattfinden, wo sie der Verkehr wirklich dringend erheischt, und dass sie dann geschehen unter möglichster Schonung des Alten, unter möglichster Anpassung an diejenigen schon vorhandenen Straßen, die ungefähr die gesuchte Richtung haben.

Vor allem aber verlangt man, dass bei der Anlage von neuen Stadtteilen die geographischen und ästhetischen Rücksichten nicht mehr so gänzlich vernachlässigt werden, wie das in den letzten Jahrzehnten häufig geschehen ist. Denn mit jenen oben besprochenen Schachbrett-, Rechteck- und Sternsystemen sind wir wieder bei dem verknöcherten Normalschema des Mittelalters angelangt; nur hat dieses den Vorzug einer reichen Abwechslung durch die in alten Zeiten viel mehr als jetzt verschiedenen Häuserindividuen, einer durch die hohen Giebel sehr bewegten oberen Straßenfront und einer gewissen, durch die wechselnde Breite der Straßen bewirkten Mannigfaltigkeit, während die modernen Stadtteile mit ihren breiten, schnurgerade verlaufenden Straßen, die oft in ihrer ganzen Länge Häuser von vollständig gleichem Habitus tragen, unbedingt langweilig wirken müssen. Darum sind auch die häufigsten und schärfsten Angriffe gegen diese erfolgt: R. Baumeister sagt von ihnen, dass sie bei „gebildeten Menschen für langweilig gelten“, und an anderer Stelle redet er von den „rücksichtslos geraden Fluchten, die Stuttgart und Wiesbaden verunzieren“*). Schärfer drückt sich Henrici aus, der behauptet, dass die modernen Stadtviertel meist „trostlose Einöden seien, die nach der Pomade der Allerweltsherrlichkeit duften“**). Er führt auch Aussprüche Moltkes und des Kulturhistorikers Riehl gegen die geradlinigen Straßen an.


*) R. Baumeister, Moderne Stadterweiterungen. Deutsche Zeit- und Streitfragen. 2. Jahrg., Heft 7.
**) K. Henrici, Von welchem Gedanken sollen wir uns beim Ausbau unserer deutschen Städte leiten lassen? Trier 1894, S. 11.


Zu diesen mehr vom Gefühl geleiteten Angriffen kommen Gründe praktischer Art gegen die mathematische Regelmäßigkeit von Stadtanlagen. So entspricht das Rechtecksystem den Forderungen des Verkehrs nur unvollkommen, denn zwischen zwei Punkten, welche an zwei sich gegenüber liegenden Ecken eines Häuserquadrates liegen, muss stets ein Weg zurückgelegt werden, dessen Länge den beiden Katheten statt der Hypothenuse des rechtwinkeligen Dreiecks gleichkommt. Es giebt nicht einen kürzesten Weg zwischen beiden, sondern nur zwei gleich lange. Auch unnötig breite Straßen, von denen wir oben ein Beispiel aus Stettin anführten, sind aus praktischen Gründen verurteilt worden, weil sie in Großstädten die Bodenpreise erhöhen*) und deshalb entweder nur wenigen Bemittelten zu gute kommen oder zum Bau von Mietskasernen veranlassen. Ja, selbst die sanitäre Wirkung breiter, gerader Straßen ist angezweifelt worden, indem man behauptete, „dass breite Straßen zugig sind, zumal wenn sie auf lange Strecken gerade durchlaufen, und dass sie schon manche Stadt in den Geruch der Ungesundheit gebracht haben“**).

*) Je breiter die Straße, desto größer gewöhnlich auch die erlaubte Bauhöhe der Häuser, desto wertvoller der Baugrund. Vgl. Dr. Abele, Weiträumiger Städtebau und Wohnungsfragen. Stuttgart 1900, S. 40.
**) Götze, Wohnungsfragen und Bebauungsplan. Zwei Abhandlungen im Jahrgang 1894 der „Sozialen Praxis“ S. 50.


Wenn auch diese Angriffe zum Teil etwas übertrieben sein mögen und den Vorteil, den die modernen Stadterweiterungen dadurch bieten, dass sie Luft und Licht in die oft düsteren und engen Städte bringen, zu sehr verkennen, so sind doch andererseits die Vorschläge, die jene Fachleute für die Zukunft machen, entschieden zu billigen. Diese Vorschläge kann man zusammenfassen in die Forderung, den Städten in jedem Falle ihre nationale und lokale Individualität zu wahren. Unsere deutschen Städte sollen stets durch Bauart der Häuser, Führung der Straßen u. s. w. als solche zu erkennen sein, und die natürliche Beschaffenheit ihres Baugrundes soll sich auch nach der Bebauung noch zeigen. Darum soll man einen der Erweiterung entgegenstehenden Hügel nicht abtragen, sondern die Höhenunterschiede wie in alten Städten durch gebogene Straßen überwinden*). Den Hauptverkehrsbahnen soll durch breite, in der entsprechenden Richtung laufende, aber nicht schnurgerade Straßen Rechnung getragen werden. Das Hervortreten von Hauptlinien lässt das beruhigende Gefühl der Sicherheit entstehen, das wir z. B. schon bei der ersten Durchwanderung des jetzigen inneren Bremens und Hamburgs empfinden. Entsprechen diese Hauptstraßen allen Erfordernissen des Verkehrs, so kann dann bei den Nebenstraßen den geographischen Verhältnissen und ästhetischen Bedürfnissen um so mehr Rechnung getragen werden. Gerade lange Straßen müssen in angemessener Entfernung durch monumentale Bauwerke einen Abschluss erhalten, ein Mittel, dem z. B. manche Straßen des alten Danzig eine außerordentlich schöne Wirkung verdanken (vgl. Beilage 3). „Um Bewegung in die Straßenflucht gerader Straßen zu bringen, sollen zwei parallele Baulinien angenommen werden, zwischen welchen den baulustigen Anstößern einzelne Vorbauten gestattet oder durchlaufende Terrassen und Arkaden vorgeschrieben werden“**).

*) Ch. Buls, Ästhetik der Städte. Gießen 1898, S. 11.
**) Baumeister, Moderne Stadterweiterungen S. 9.


Vielfach suchte man in den letzten Jahren die Vorstädte dadurch zu verschönen , dass man die Häuser durchgehends in einem mehr villenartigen oder gar ländlichen Stil erbaute und sie mit Gärten umgab, jedoch wirken beide Mittel bei der meist beibehaltenen regelmäßigen Straßenführung nur halb.

Die im Anhang gegebenen allgemeinen Erörterungen hielten wir für erlaubt und geboten, weil die hier behandelten Städte einesteils jene modernen Erscheinungen aufweisen, denen gegenüber das allgemeine Urteil immer mehr absprechend wird, und andererseits in ihren alten Stadtteilen, und besonders in ihren schönsten Vertretern der alten Zeit, wie Lübeck, Danzig, Rostock, Stralsund, Vorbilder sind für jene Verschönerungsmittel, deren Anwendung bei künftigen Stadterweiterungen mit Recht gefordert wird.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die wichtigsten deutschen Seehandelsstädte