I. Die ukrainische Staatsidee.

Die Frage der Existenzbedingungen eines selbständigen ukrainischen Staates wird weiter hier besprochen werden. Zunächst sei nur folgendes bemerkt: Erstens: Die Großmachtstellung und der imperialistische Drang Russlands wären ohne den Besitz seiner fruchtbaren und reichen Grenzländer (in erster Linie der Ukraine und Polens), auf denen die ganze wirtschaftlich politische Macht des Zarenreiches ruht, ganz undenkbar. Zweitens könnte Russland ohne diese Provinzen nie über eine solche Menge französischen und belgischen Kapitals verfügen, wodurch es allein imstande ist, seine Wehrkraft auf verhältnismäßig hoher Stufe zu halten. Außerdem ist es eine historische Tatsache, dass nur die Einverleibung der Ukraine, womit 1654 der Anfang gemacht wurde, die Vormachtstellung Russlands in der slawischen Welt begründete und die Grundlage für die angeblich panslawistische, in Wirklichkeit aber panmoskowitische Bewegung schuf. Erst am Ende des XVII. Jahrhunderts, als die Ukraine schon in festen Händen des bis zum Schwarzen Meer vorgedrungenen Moskowiterreiches lag, entstand das Märchen von der „historischen Mission“ Russlands, alle slawischen Völker zu befreien. Seitdem wandten sich die Blicke der Balkanslawen auf das Moskowiterreich, das mit seinen großzügigen orientalischen Plänen erst um 1672 vor Europa hintrat. Nach der unglücklichen Schlacht bei Poltawa (1709), als nach fast 50 Jahren ununterbrochener Kämpfe die Widerstandskraft der Ukraine gebrochen war, rückte endlich die Erfüllung der Träume Peters I. in den Bereich der Möglichkeit.

Jetzt, wo die grausame Sprache der Tatsachen das Wahngebilde eines dauernden Friedens mit Russland zerstörte, und man klar erkannte, dass nur durch eine entschiedene Schwächung Russlands das Gleichgewicht Europas wiederhergestellt werden kann, gelangte die ukrainische Frage wieder zu voller Bedeutung.


Es scheint mir geboten, hier in Kürze die Geschichte der ukrainischen Staatsidee darzustellen, um die Frage zu erörtern, ob die Idee des ukrainischen Staates sich verwirklichen lässt.

Die Aufrollung dieser Frage darf einen wahren Realpolitiker nicht abschrecken. In unseren bewegten Zeiten ist der größte Utopist der, welcher in seinen politischen Kombinationen an der Annahme festhält, dass der bestehende Status quo in Europa unveränderlich bleiben müsse.