Zweite Fortsetzung

Aber außer der staatsrechtlich-politischen Seite muss auch zum Schlüsse das rein kulturelle, literarisch-ethnographische und philologische Moment des vorliegenden Themas in aller Kürze behandelt werden. Dies natürlich gleichfalls in einer objektiven Weise . . . Zunächst die Benennung, die Terminologie . . .

Der griechische mittelalterliche Terminus , im Lateinischen „Ruthenus“, überging in das Russische nicht, wenngleich das mittelalterliche griechische, dem slawischen „s“, beziehungsweise „sz“ entsprochen hatte. Das den „Ruthenus“ im Russischen ersetzende Substantivum singulare „Rus-in“, d. h. ein Russe, wurde von den russischen Chronisten auf diese Weise gebildet, dass sie der Wurzel „rus“ die den Singularis andeutende Endsilbe „in“ angehängt haben. Ebenso wie im Alt- und Neurussischen ein Bulgare „bulgar-in“, ein Serbe „serb-in“, ein Israelite „israeltjan-in“ geheißen haben und bis jetzt heißen, ebenso wurde ein Russe in geschichtlicher Periode nur „rus-in“ benannt. Dagegen wurde die Nation als „Rus“, das Gebiet dieser Nation gewöhnlich „Rossija“ genannt.*) In der adjektivischen Form hieß es „rus-skij“ (russisch) und nie anders. Dies ist wieder ganz regelrecht, weil die Gattungsadjektiva auf diese Weise gebildet worden waren, dass zur Wurzel „rus“ die adjektivische Endung „skij“ hinzukommen musste. (Demnach auch pol-skij [polnisch], serb-skij [serbisch] und nicht serb-inskij, pol-inskij, rusin-skij u. dgl m.) Diese natürliche und auf eine geschichtliche Weise vor sich gegangene Terminologie hat sich bei dem Volke vollkommen eingebürgert. Das Volk, sei es Großrusse, Kleinrusse, Weißrusse, gebraucht für den deutschen Ausdruck „russisch“, „russischer“ nie ein anderes Wort als nur „rus-skij“. Auch der Bauer in Galizien, der Bukowina und in Ungarn spricht nie anders als „po-russki“ (d.i. wörtlich deutsch: „russisch“); ein Weib oder ein Kind nennt sich nie anders, als nur „rus-ska“ (d. i. wörtlich deutsch: „russische“) So ist es in Moskau, Minsk, Weißrussland (wo übrigens auch ein Separatismus zu blühen anfängt), so ist es in Lemberg! Nie und nimmer wird ein Politiker oder Philologe von einem Bauer zur Antwort bekommen: „Er (der Bauer) spreche ukrainisch (po ukrainski), kleinrussisch (po malorusski) oder weißrussisch (po bjelorusski).“ Gleichfalls ist nicht gebräuchlich im Russischen der Terminus „ruthenisch“, auch nicht im Kleinrussischen. Ebenso wie im Lateinischen das Wort „Teuto“ ein richtiger Ausdruck für „Deutscher“ ist, ebenso ist im Lateinischen „ruthenus“ nicht unrichtig für den Ausdruck „Russe“. Im Deutschen will jedoch kein Deutscher „Teutone“, folglich sollte auch, kein Russe, gleichviel ob Groß-, Weiß- oder Kleinrusse, „Ruthene“ heißen.


*) Die älteren geschichtlichen Ausdrücke: „Rusci, Ruszi, Ruzzi, Ruscia, Ruszia, Ruzzia“ kommen in vielen Schriften und Dokumenten zum Vorschein. Die polnischen Könige schrieben: „Dux Lithvaniae et Russiae (Kleinrusslands) . . . Ruszia hungarica“ . . . Auch Herberstein sagt unter anderem: „Russi nomen aeeeperunt certe populi omnes, qui lingua slavonica utuntur, fidem Christi graecorum more sequuntur gentiliter Russi, latine Rutheni appelati“.

Nicht anders verhält es sich mit der Literatur und Wissenschaft. Wie im Deutschen die ersten Fundamente für die großartige deutsche Literatur auf dem niederdeutschen Boden und in niederdeutschem Idiom (Reinecke de Vos, Sachsenspiegel) aufgebaut sind, so dürfte man sagen, dass die heute ebenfalls großartige russische Literatur ihre erste Grundlage und ihre erste Nahrung auf dem klein russischen Boden gefunden hat. Die bedeutendsten literarischen Denkmäler und Werke des Mittelalters sind ja von dem heutigen sogenannten Kleinrussland, von Kiew, Ostrog, Lemberg, ausgegangen. Ja, wenn man die Bildung der heutigen literarischen russischen Sprache nicht mit den Augen eines Politikers, sondern objektiv und wissenschaftlich verfolgt, so wird man staunen müssen, wie die Kleinrussen trotz ihrer politischen Abhängigkeit und Verfolgungen unter einer Fremdherrschaft sich so große Verdienste um die Einheit und Schönheit der heutigen literarischen russischen Sprache haben erwerben können ! . . . Das erste gedruckte Buch von Fedorow erschien im Jahre 1573 in Lemberg und die erste slawisch-russische Grammatik von M. Smotricky auch um dieselbe Zeit in Galizien. Sie bildet ein Handbuch in Russland bis an den Lomonossow. Die bedeutenden Männer des Zeitalters Peter des Großen, welche mit ihm das heutige Russland kulturell groß gemacht haben, sind zum großen Teile Kleinrussen gewesen. Die berühmtesten wären: Slavineckij, Polocky, Jaworskij, Prokopowicz. Die Gründung der Akademien in Petersburg und Moskau, die Anfange der russischen Dramaturgie, Pädagogik und des Volksunterrichtes und überhaupt eines jeden Wissenszweiges, dies alles war vornehmlich ein Verdienst der Kiewer oder der galizischen Gelehrten . . . Dank diesen Kleinrussen und einer Reihe anderer Schriftsteller hatte der Begründer der literarischen russischen Sprache, der berühmte Lomonossow, leichte Aufgabe. Er hat die heutige russische Sprache aufgebaut auf dem Material, welches die genannten kleinrussischen Schriftsteller ihm in ihren Werken als Erbschaft hinterlassen haben.

Nicht minder reichlich ist auch die Teilnahme der Kleinrussen an der neuen und neuesten russischen Literatur. Bogdanowicz, Neledinskij, Nachimow, Gnjedicz, Chmielnickij, Milonow, Raicz, die Brüder Tumanowski, Podolinskij, Klusznikow, Grebjonka, Szczerbina, Kowalewskij, Nikitenko, Grigorowiez, Krestowskij, G. Daniiewskij, Gogol (der Meister und Begründer des russischen Romans), Korolenko, Potapenko, Dantschenko, Sergejenko u. a. Dies sind nur die namhafteren Dichter und Belletristen . . . Dazu kommen noch viele gelehrte Männer der Wissenschaft, von denen ich nur einige wenige hervorhebe: Kalajdowicz, Maksimowicz, Sreznjewskij, Tereszczenko, Bodjanskij (aus Ungarn), Kostomarow, Nikitenko. N. Daniiewskij, Kulisz, Czuzbinsky, Holubinskij, Ewarnickij, Antonowicz, Kojalowicz, Ptaszyckij, Gorodeckij, Petrow, Maliszewskij, Daszkiewicz, Golowackij (aus Galizien), Veiielin (aus Ungarn), Budilowicz, Florinski, Zyteckij, Potebnja, Sobolewskij, Timanowskij, Nowickij, Jurkiewicz, Michniewiez u. a. m. Ja, das interessanteste ist, dass die bedeutendsten klein russischen Dichter und Schriftsteller, welche nach Ansicht ihrer Epigonen die Begründer des heutigen literarischen, russischen Separatismus gewesen seien, russisch geschrieben und die russische Sprache trotz ihrer sogenannten „ukrainophilen“ — also antirussischen — Richtung ebenso wie die Großrussen liebten . . . Der ukrainische Dichter Schewtschenko, dessen Bildung übrigens, wie bekannt, keine tiefgehende war, schrieb unter anderem einige Erzählungen und sein wunderschönes Gedicht „Trizna“ in russischer Sprache. Auch die beiden anderen Koryphäen der ukrainophilen Richtung. P. Kulisz und Nicolai Kostomarow, welche seinerzeit von einer slawischen föderalistischen Staatseinrichtung schwärmten (Verein des hl. Cyrill und Method), schrieben ihre wissenschaftlichen Werke ausschließlich in der russischen Sprache. Ja ein Ukrainophile neuesten Datums, Mordowcew, schrieb seine Romane nur in russischer Sprache und in der kleinrussischen nur einige Broschüren politischen Inhaltes . . . Angesichts dieser Tatsachen lässt sich die echte russische Kultur und Literatur von der klein-, beziehungsweise weißrussischen nicht scheiden, nicht trennen. *) Die Grenze zu finden, in welchem Verhältnisse sich an der russischen Literatur die Großrussen einerseits und andere Russen anderseits beteiligten, fiele schwer, sehr schwer. Eine Teilung dieser gemeinsamen Kulturarbeit vorzunehmen, wäre eine Torheit, ein Barbarismus. Dies und nichts Anderes hat die gelehrten Slawisten bewogen, die diesbezüglichen literarischen Bestrebungen — insofern solche Bestrebungen nicht zu lokalen Zwecken und für lokale Verhältnisse dienen, sondern direkt darüber hinausgehen — neue Kultur zu schaffen, als ein unnütz Ding, direkt als „vana ira“ zu bezeichnen. Abgesehen von einigen Gelehrten minderer Gattung hat der berühmte russische Gelehrte A. Pypill und unser berühmter Wiener Slawist, k. k. Hofrat Jagic, in dieser Materie ihr maßgebendes Urteil vom wissenschaftlichen Standpunkte schon längst gefällt.

*) Weißrussen gibt es in Russland über 7 Millionen.

Nach Pypin und Jagic (andere Gelehrte werde ich hier nicht anführen) ist die kleinrussische Sprache nur eine Mundart der russischen Sprache, welche durch ihre innere Einheit und Verwandtschaft dem Großrussischen naher steht als die niederdeutsche Mundart dem Hochdeutschen! Und wenn die Dinge sich so verhalten, dann bleibt nichts übrig, als dem Ganzen einen freien oder, besser gesagt, einen rein kulturellen Lauf zu geben. Das kleinrussische Idiom als Mittel zum Zwecke der Aufklärung der ungebildeten Massen in Galizien und der Bukowina soll und kann nicht so ohne weiteres ausgemerzt werden. Wie der berühmte Volksschriftsteller Iwan Naumowicz tatsächlich zuerst durch seine in der galizisch-russischen Mundart geschriebenen und höchst populär verfassten Erzählungen die galizisch-russischen Bauern aus dem hundertjährigen Schlafe geweckt und die ersten Grundlagen zur weiteren Volksaufklärung gegeben hat, so werden dessen Epigonen seine Arbeit weiter fortsetzen müssen. Dies muss so lange in Galizien geschehen, so lange man dort in den Lehranstalten keine literarische russische Sprache lehrt. Deshalb ist das Bestreben der besonneneren Russophilen, vorläufig wenigstens auf den Universitäten in Galizien und der Bukowina — nach dem Vorbilde Deutschlands — die Katheder der russischen Sprache und Literatur zu erlangen, ganz begreiflich und gerechtfertigt, zumal in neuester Zeit das Bestreben vorhanden ist, dass unser Staat im Wettbewerb auf dem russischen Markte einen der ersten Plätze einnehme. Anderseits müssten die russischen Separatisten, die sogenannten „Ukrainophilen“ (also Antirussen), die Idee, den südrussischen Dialekt uns nach Galizien künstlich einzuschmuggeln und aufzuzwängen, fahren lassen. Diese Idee führt nur zum Barbarismus, zu einem Babylonturm. Ist dem Kleinrussen die literarische russische Sprache infolge hundertjähriger klerikal feudaler polnischer Herrschaft entfremdet worden, so ist auch in dem Maße die südrussische Mundart dem Galizianer, insbesondere in den Gebirgsgegenden und noch mehr einem Bukowiner oder ungarischen Kleinrussen ebenso fremd und nicht verständlich. Angesichts dessen wird sich nicht nur der gebildete Mann, sondern auch ein intelligenterer Bauer dem Versuch, Galizien zu „ukrainisieren“, mit allen Kräften widersetzen. Möge in der „ukrainophilen“ Idee noch so viel kleinrussische geschichtlich-nationale Romantik stecken, möge diese Idee noch so viele freiheitliche, politische und soziale Tendenzen in sich bergen: einen neuen, sei es auch republikanischen Staat — etwa nach dem geschichtlichen Vorbilde Mazeppas — werden wir den Ukrainophilen nicht aufbauen helfen, sei es auch ohne Hilfe Preußens . . . Um so weniger werden wir Russophilen unsere Hand dazu geben, die russische Kultur zu spalten, d. i. anders ausgedrückt, die schöne russische Literatur, Kunst und Malerei einer national entarteten Chimäre, einem direkten Niedergang und Verderben hinzuopfern. Unser Bestreben, das Bestreben der Russophilen, ist, nicht zu wühlen, Unheil und Unfrieden zu stiften oder gar Kulturarbeiten zu zerstören, sondern unser Ziel und unsere Aufgabe in Österreich wäre, Kulturpioniere zu werden zwischen den Westslawen und dem Russentum, Pioniere des von den West- und Südslawen größtenteils bewohnten und in der Zukunft auf den Handelsverkehr mit Russland angewiesenen österreichischen Staates zu werden. Diese kulturpolitische Arbeit „Panrussismus“ (die erschossenen slowakischen Opfer von Csernova nannte die chauvinistische magyarische Presse „Panslawisten“) zu nennen, hieße nicht nur eine höchst illoyale, sondern direkt eine kurzsichtige Politik betreiben. Solche Politiker mit ähnlichen Schlagwörtern imponieren mir heutzutage bei der Demokratisierung und „Loyalisierung“ der heutigen Weltpolitik gar nicht. Ihnen kann ich übrigens aufrichtig den Rat geben, sich den Weg zu betrachten, den die deutsche Kulturarbeit und Kulturmacht zurückgelegt hat. Nicht die 6 oder 18 Mundarten haben ja Deutschland kulturell gehoben, die Welt mit der deutschen idealen Kultur beglückt, sondern die Einheit der Schriftsprache! Und doch hat Luther eine Sprache zur Schriftsprache erhoben, die vom Volke nicht gesprochen und nur in den Hofkanzleien gebraucht wurde, nämlich das hochdeutsche Idiom. Und dessentwegen kämpfte Luther nicht nur mit den Feinden, sondern mit eigenen Landsleuten, mit den Deutschen, und zwar mit Hartnäckigkeit, Festigkeit und seltenem Mute. Luther war ja in der Rolle des Kämpfers ein ganzer Mann! Als solcher könnte er sicher den Russen — seien es auch Klein- oder Weißrussen — in dieser Beziehung ein schönes Beispiel abgeben. Hat er ja zu seinen Feinden gesagt: „Nehmen sie uns (den Deutschen) Leib, Gut, Kind und Weib — die Seele kann man uns nicht rauben!“ Ich glaube, dass man auch die Seele des russischen Volkes nicht so leicht wird vernichten können. Die Kultur, sei es die slawische oder irgendeine andere, gehört nicht dem Individuum, auch nicht ausschließlich dem Volke als solchem, sondern der ganzen gesitteten Menschheit. Und noch Eines: Wer die Kultur aufhalten will, der bleibt am Kampfplatz liegen... Dies mögen unsere Feinde bedenken!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die russische und ukrainische Idee in Österreich