Erste Fortsetzung

Diese neue Strömung ist nach Galizien zur rechten Zeit gekommen. Die russophile Richtung war bis jetzt in Österreich unter der kleinrussischen Intelligenz maß- und tonangebend. Mit Ausnahme des berühmten griechisch-katholischen Paters, späteren russischen Protojerej Ivan Griegorjewicz Naumowicz und einigen wenigen aufgeklärten Köpfen waren die Russophilen in Galizien, Bukowina und Ungarn bis dahin zum großen Teile par excellance „Schwarzgelbe“, in Glaubenssachen fanatisch orthodox, politisch höchst konservativ, streng kaisertreu, mit einem Wort regierungs- und hoffähig . . . Kein Wunder, dass die Russophilen, vulgo Altruthenen — trotzdem sie sich russisch zu schreiben erlaubten — den unverfälschten russischen Ritus in ihren Kirchen bis auf den letzten Buchstaben pflegten, die Matuschka „Rus“ mit einer romantischen Liebe umgaben und das absolute Russland (den Staat) als einen slawischen Koloss mit einer gewissen Bewunderung betrachteten, dass selbe, trotz dieser, damals politisch berüchtigten Eigenschaften zu einer großen Bedeutung und Macht in Galizien und der Bukowina herangewachsen waren. Man denunzierte sie bald als Russophile, bald verdächtigte man wieder ihre angeblich bigotte und formale Staatstreue u. dgl. m. Trotzdem aber haben die Russophilen in Wien den Sieg davongetragen. Daheim in Galizien aber fürchtete und hasste man die Russophilen! . . . Man nannte sie dort nie anders als „Schwarzgelbe“, „swjento-jurce“, oder ganz einfach „rutenci“ — im verächtlichen Sinne. Alle Institute, die reichsten, eine der bestsituierten Banken, alle Würden in der Hierarchie, ja — dank dem Demokraten Naumowicz, die intelligenteren Volksmassen — alles das war damals in den Händen der Russophilen . . . Das war ein bisschen gefährlich! Das könnte mit der Zeit leicht eine Änderung und Verschiebung der politischen Verhältnisse in Galizien herbeiführen, ja — und das war das Wichtigste — die großen Politiker, die um ihre Zukunft besorgt waren, von ihrer politischen Höhe wegfegen. Deshalb griffen diese Politiker in ihrer Kurzsichtigkeit oder, wenn man will, in ihrer Weitsichtigkeit nach dem in den früheren Zeiten politisch sehr erfolgreichen Rezept: „Hilf was helfen kann“! . . . Über Anraten des Vizepräsidenten und späteren Statthalters Loebel (Graf Altred Potocki sträubte sich dagegen und gab infolgedessen seine Demission) beschlossen der wenig geistreiche und begabte Minister F. Zemialkowski und der ehrgeizige sogenannte „rote“ Fürst Adam Sapieha die neue antirussische Strömung, nämlich den obgesagten ukrainischen Separatismus unter den Kleinrussen in Österreich für ihre politischen Zwecke auszunützen. Man bestellte darum die Koryphäe der damaligen „Ukrainophilen“ Panko Kulisz, einen Schriftsteller und Gelehrten, aus Südrussland nach Galizien. Man versprach ihm, in Kürze eine Druckerei zu kaufen und sicherte ihm jährlich eine Subvention von 10.000 fl. P. Kulisz sollte aber dafür die separatistischen (antirussischen) oder die sogenannten ukrainophilen Ideen den Russen Galiziens einimpfen — gleichzeitig aber diese Ideen in einer milderen, loyaleren Form als es bis jetzt der Fall war, den Volksmassen darbieten. Er sollte hauptsächlich die ukrainophile Bewegung gegen das Russentum großziehen, sodann aber mit diesem antirussischen „Ruthenentum“ die russophile Bewegung in Galizien und in der Bukowina überhaupt vernichten. Außerdem verpflichtete er sich, diesem nationalen Separatismus eine polenfreundliche und katholische Richtung zu geben. Panko Kulisz kam tatsächlich nach Lemberg und begann in der ihm vorgezeichneten Richtung publizistisch und politisch tätig zu werden. Zu gleicher Zeit (im Jahre 1882) machte man aber einen Vorstoß nach der anderen Seite, man wollte der Russophilen baldigst loswerden. Man wählte diesbezüglich für den ersten Schuss die griechisch-katholische Geistlichkeit, die durchwegs russophil gesinnt war. Infolgedessen trug man sich mit dem Gedanken, vor allem die Geistlichkeit, insbesondere die Klostergeistlichkeit irgendwie bloßzustellen, um sie dann reformieren zu können. Die Gelegenheit fand sich. Bei Zbaraz, in der Gemeinde Hniliczki herrschte Streit um Konkurrenzbeiträge für die dortige Filialkirche. Nach vergeblichen Bemühungen, einen eigenen Geistlichen zu bekommen, riet der Patron von Hniliczki, der rumänische Graf Della-Scala den Bauern, den formalen Übertritt zum orthodoxen Glauben anzumelden. Ein jedenfalls für die galizischen Zustände noch heute gefährliches Experiment. Der Übertritt machte viel Aufsehen. Man warf dem Grafen Alfred Potocki und dem Metropoliten Josef Sembratowicz grobe Fahrlässigkeit vor. Graf Potocki demissionierte, Metropolit Josef Sembratowicz musste abdanken und sich nach Rom in die freiwillige Verbannung begeben (er starb zu Rom im Jahre 1900.) Dagegen wurden sozusagen auf der Stelle Pater Naumowicz, Hofrat Dobrjanskij, seine Tochter Olga Grabar, alle Redakteure russophiler Blätter, fast alle schriftstellerisch und öffentlich tätigen und patriotisch gesinnten Russophilen eingesperrt und gegen sie ein Strafverfahren wegen Hochverrat eingeleitet. Die Jury verneinte einstimmig die Frage auf Hochverrat. Dagegen wurden vier der Angeklagten wegen Störung der öffentlichen Ruhe (§ 65 b St.-G.) bis zu sechs Monaten Kerker bestraft. Trotz dieses Ausganges wurde aber das Ziel erreicht. Vergebens schrieb damals der berühmte Publizist S. Axakoff, dass in dem Strafprozesse „die allrussische Idee gerichtet werde“ . . . Vergebens verwies der bejahrte Erzherzog Albrecht auf den Pflicht- und Diensteifer des mit vielen österreichischen Orden ausgezeichneten Adolf Ritter von Dobrjansky, seines ehemaligen Adlatus bei der k. k. Statthalterei in Budapest. Das alles erwies sich gegenüber den damaligen politischen Strömungen zu schwach, zumal letztere infolge des Berliner Vertrages noch gespannt und getrübt waren. Es war nichts zu machen. Die adeligen Politiker und Rom waren damals in Wien sehr mächtig, die allgemeine Einschüchterung in Galizien zu groß. Es musste jemand büßen, es musste wenigstens infolge angeblicher Kompromittierung der „Hochverräter“ die nationale Sache Schaden leiden. Im Herbst 1882 nahm Rom, nach der Veröffentlichung der apostolischen Konstitution „Singulare Präsidium“, die griechisch-katholischen Klöster mit ihren millionenreichen Stiftungen und Gütern in Galizien in seine eigene Regie. Die schon früher angesagte Reform des griechisch-katholischen Klerus seitens der Jesuiten hat auf diese Art begonnen. Solche Wendung überraschte natürlich auch viele nicht russophilen Kreise in Galizien. Allein letztere waren ebenso wie die russophilen stark terrorisiert. Sie wagten gegen diese Maßregel nicht zu protestieren. Nur P. Kulisz, der Haupturheber, bekam Gewissensbisse und — sozusagen — Judasmut. Auf der Flucht nach Russland begriffen, veröffentlicht er in Wien eine Brandschrift gegen die Jesuitenherrschaft in Galizien, welche Broschüre aber wegen ihrer scharfen Auslassungen gegen die katholische Kirche von der k. k. Wiener Staatsanwaltschaft konfisziert wurde. Aber trotz der Flucht des Panko Kulisz wurde die einmal begonnene national-politische Reform der galizischen Kleinrussen weiter fortgesetzt und im Jahre 1890 proklamierte der bekannte Abgeordnete Romanczuk formell einen nationalpolitischen Ausgleichsvertrag mit den Polen, die sogenannte „Nowaja era“. Dieser weichherzige Politiker gab nämlich im galizischen Landtage im Namen der „Ruthenen“ — und dies nach vorherigen Vereinbarungen mit Kasimir Badeni und Kardinal S. Sembratowicz — folgende politische Enunziation: „1. Wir Ruthenen sind ein selbstständiges Volk mit eigenem nationalen und politischen Charakter und als solches wollen wir unsere Nation in Österreich pflegen und weiterbilden; 2. wir halten treu zu Papst und Katholizismus und an unserem griechisch-katholischen Ritus“ Diese Enunziation war hauptsächlich gegen die russophile Partei gerichtet, zumal die damals neu begründete radikal-ukrainophile Partei und ihre Ideen — hauptsächlich die dem Schewtschenko und Dragomonov, einem russischen, idealistischen, revolutionären und republikanischen Föderalisten entnommenen — beim Volke damals noch kein Gehör fanden. Die Enunziation fand nur unter dem Adel und dem lateinischen Klerus einen Anhang. Bei den Volksmassen und überhaupt bei den demokratischen Elementen fand der seitens des Herrn Romanczuk und Genossen mit der (polnischen) Landesregierung geschlossene Ausgleich keinen Anklang. Dagegen hat dieser Ausgleich unter den politischen Parteien der galizischen Kleinrussen verhängnisvolle Folgen nach sich gezogen. Es entbrannte aufs Neue der Parteikampf, es kam zu einer neuen Demoralisation unter der kleinrussischen Intelligenz. Kardinal S. Sembratowicz (Neffe des verbannten Metropoliten Josef Sembratowicz), der zusammen mit dem Professor Barwinski der wahre und eigentliche Urheber der genannten „Nowaja era“ war, hatte insbesondere die russophile Richtung in Galizien mit den strengsten Mitteln zu vernichten gesucht. Mit seiner Hilfe wurde die alte und in Russland noch gebräuchliche etymologische Schreibart in Galizien beseitigt, einige Buchstaben kassiert und über ein Memorandum des Landesausschusses Lemberg vom Ministerium für Kultus und Unterricht eine neue Schreibart, die sogenannte phonetische, in allen Schulen Galiziens offiziell eingeführt. Seiner Initiative ist die im Jahre 1891 nach Lemberg berufene griechisch-katholische Synode zu verdanken, wo außer vielen Neuerungen im griechisch-katholischen Ritus, überdies der Zölibat für die griechisch-katholische Geistlichkeit in Galizien eingeführt werden sollte. Außer diesen sozusagen negativen Erfolgen hat Kardinal Sembratowicz darüber hinaus nichts Nennenswertes erreicht, vielmehr sein Ansehen eingebüßt. Auf dem Nordbahnhofe in Wien von der akademischen russophilen Jugend mit faulen Eiern beworfen — eine politische und häufige Spezies bei uns — wurde er in der Folge seines politischen Terrorismus wegen sogar vom Klerus nicht mehr geachtet, ja direkt verhöhnt. Er starb an einer schrecklichen Krebskrankheit, verlassen sogar von seinen nächsten Verwandten. Seine Aufgabe setzte der einzige Pionier dieser Richtung, Professor des Pädagogiums und Regierungsrat Alexander Barwinski fort. Der hatte aber gar keinen Anhang beim Volke. Vielmehr blieb er bei den Volksmassen der bestgehasste Mann und wagte es diesmals, trotz seines besten Willens, nicht einmal in den Reichsrat zu kandidieren. Auch seine jetzigen Bestrebungen, eine neue klerikale Partei mit Hilfe der griechisch-katholischen Hierarchen zu gründen, werden keine Früchte tragen. Barwinski ist heute, in Wahrheit gesprochen, ein politisch toter Mann.

So schaut die Skizze der russophilen und ukrainophilen Idee in Galizien vom staatsrechtlichen und politischen Standpunkte aus. Meiner persönlichen und bescheidenen Ansicht nach ist das Saldo dieser beiden Strömungen in allerneuester Zeit eine politische Demoralisation der intelligenteren Reihen der Kleinrussen in Österreich. Ob das Volk ebenso wird demoralisiert werden können, muss jedenfalls bezweifelt werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die russische und ukrainische Idee in Österreich